The Project Gutenberg EBook of Der Courier des Czaar (Michael Strogoff) by Jules Verne This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at http://www.gutenberg.org/license Title: Der Courier des Czaar (Michael Strogoff) Author: Jules Verne Release Date: October 12, 2010 [Ebook #34064] Language: German Character set encoding: US-ASCII ***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER COURIER DES CZAAR (MICHAEL STROGOFF)*** Collection Verne. Band 22. *Der Courier des Czaar.* (Michael Strogoff.) Von *Julius Verne.* _Autorisirte Ausgabe_ Erster Band. *Vierte Auflage.* Wien. Pest. Leipzig. _A. Hartleben's Verlag._ Alle Rechte vorbehalten. K. u. K. Hofbuchdruckerei Carl Fromme in Wien. INHALT. Erster Theil 1. Ein Fest im Neuen Palais 2. Russen und Tartaren 3. Michael Strogoff 4. Von Moskau nach Nishny-Nowgorod 5. Eine Verordnung mit zwei Artikeln 6. Bruder und Schwester 7. Auf der Wolga stromabwaerts 8. Die Kama stromaufwaerts 9. Tag und Nacht im Tarantass 10. Ein Unwetter in den Uralbergen 11. Reisende in Noth 12. Eine Herausforderung 13. Die Pflicht ueber Alles! 14. Mutter und Sohn 15. Der Barabinen-Sumpf 16. Eine letzte Anstrengung 17. Bibelsprueche und Liederverse Zweiter Theil 1. Ein tartarisches Feldlager 2. Alcide Jolivet's Haltung 3. Schlag fuer Schlag 4. Der siegreiche Einzug 5. Nun sieh' Dich um 6. Ein Freund unterwegs 7. Die Ueberschreitung des Jenisei 8. Ein Hase, der ueber den Weg laeuft 9. In der Steppe 10. Baikal und Angara 11. Zwischen zwei Ufern 12. Irkutsk 13. Ein Courier des Czaar 14. Die Nacht vom 5. zum 6. October 15. Schluss [Bemerkungen zur Textgestalt] MICHAEL STROGOFF. Erstes Capitel. Ein Fest im Neuen Palais. "Sire, eine neue Depesche. -- Von woher? -- Aus Tomsk. -- Ueber diese Stadt hinaus ist die Leitung unterbrochen? -- Sie ist seit gestern gestoert. -- General, Sie werden von Stunde zu Stunde ein Telegramm von Tomsk einfordern und mich auf dem Laufenden erhalten. -- Zu Ew. Majestaet Befehl", antwortete der General Kissoff. Diese Worte wurden gegen zwei Uhr Morgens gewechselt, als ein im Neuen Palais abgehaltenes Fest eben in hoechstem Glanze strahlte. Die Capellen der Regimenter von Preobrajensky und von Paulowsky spielten zu dieser Soiree die gewaehltesten Nummern ihres Repertoires, Polkas, Mazurkas, Schottische und Walzer, ununterbrochen auf. Immer neue Paare von Taenzern und Taenzerinnen rauschten durch die praechtigen Salons dieses Palastes, der sich nur wenige Schritte entfernt von dem "alten Hause aus Stein" erhebt, in welch' letzterem sich so viele furchtbare Dramen abgespielt haben und das jetzt nur die fluechtigen Melodien der Quadrillen wiederhallte. Der Oberhofmarschall fand bei Erfuellung seiner delicaten Pflichten sehr beachtenswerthe Unterstuetzung. Die Grossfuersten selbst, deren Adjutanten, die Kammerherren vom Dienst und die Hausofficiere des Palastes unterzogen sich des Arrangements der Taenze. Die von Diamanten strahlenden Grossfuerstinnen und die Hofdamen in gewaehltester Galatoilette gingen den Frauen und Toechtern der hoechsten Militaer- und Civilbeamten mit aufmunterndem Beispiele voran. Als das Signal zur Polonaise ertoente, als die Eingeladenen jedes Ranges herbeieilten zu dieser rhythmischen Promenade, welche bei derartigen Festlichkeiten die volle Bedeutung eines Nationaltanzes erlangt, da bot das Gemisch der langen, spitzenueberwebten Roben und der an Ordensschmuck so reichen Uniformen bei dem Glanze der hundert Kronleuchter, deren Lichtmeer die ungeheuren Spiegel noch zu verdoppeln schienen, dem Auge ein entzueckendes, kaum zu beschreibendes Bild. Dazu lieferte der grosse Salon, das schoenste der Gemaecher im Neuen Palais, fuer diese Versammlung hoher und hoechster Personen und verschwenderisch geschmueckter Frauen einen entsprechend prachtvollen Rahmen. Die reiche Decke mit ihren von der Zeit schon etwas gemilderten Vergoldungen erschien wie besaeet mit blitzenden Sternen. Der Brokat der Gardinen und der in schweren Falten herabfallenden Portieren faerbte sich mit warmen Toenen, welche sich nur an den schaerferen Kanten des kostbaren Stoffs lebhafter heraushoben. Durch die Scheiben der grossen Rundbogenfenster drang das Licht des Innern nur wenig geschwaecht, aehnlich dem Wiederschein einer Feuersbrunst, nach aussen, und stach grell ab von dem naechtlichen Dunkel, das seit wenig Stunden diesen glitzernden Palast umhuellte. Dieser Contrast mochte auch die Aufmerksamkeit zweier Ballgaeste erregen, welche am Tanze keinen Antheil nahmen. In einer der Fensteroeffnungen stehend, konnten sie mehrere jetzt nur undeutlich sichtbare Glockenthuerme wahrnehmen, deren riesige Silhouetten sich am Himmel abzeichneten. Unten bewegten sich schweigend, das Gewehr wagrecht ueber die Schulter gelegt, zahlreiche Wachtposten auf und ab, und auf den Spitzen ihrer Pickelhauben blitzte es dann und wann von dem darauf fallenden Lichte aus dem Palaste. Jene vernahmen wohl auch den Schritt der Patrouillen auf den Steinplatten des Vorplatzes, der gewiss taktgerechter war, als manchmal die Bewegungen der Tanzenden auf dem Parket des Festsaales. Dann und wann hoerte man den Zuruf der Schildwachen von Posten zu Posten und manchmal mischte sich ein hellschmetterndes Trompetensignal harmonisch mit den Accorden des Orchesters. Noch weiter unten erschienen dunkle Massen in den ungeheuren von den Fenstern des Neuen Palais ausgestroemten Lichtkegeln. Das waren Schiffe, die auf dem Strome herabglitten, dessen Wellen, ueberstrahlt von den grellen Lichtbuendeln mehrerer kleiner Leuchtfeuer, den Fuss der Terrassen des Palastes bespuelten. Die Hauptperson des Balles, der Festgeber des heutigen Abends, dem gegenueber General Kissoff jene nur den Souveraenen zukommende Anrede benutzte, erschien einfach in der Uniform eines Officiers der Gardejaeger. Seinerseits lag hierin keine Affectation, sondern die Gewohnheit eines Mannes, der fuer aeusseren Pomp wenig empfindlich ist. Seine Erscheinung contrastirte demnach mit den prachtvollen Costuemen, die sich um ihn draengten, und ebenso zeigte er sich auch gewoehnlich inmitten seiner Escorte von Georgiern, Kosaken und Lesghiern, jener praechtigen Reiterleibwache in den brillanten Uniformen des Kaukasus. Jener hochgewachsene Mann mit freundlichem Gesicht, ruhiger Physiognomie, aber bisweilen sorgenvoller Stirn, ging leutselig von einer Gruppe zur andern, sprach aber wenig und schien selbst weder den heitern Gespraechen der juengern Welt eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, noch den ernsteren Worten seiner hoechsten Staatsbeamten oder der Mitglieder des diplomatischen Corps, welche die Hauptstaaten Europas an seinem Hofe vertraten. Zwei oder drei dieser scharfsichtigen Politiker - geborene Physiognomiker, - glaubten auf dem Antlitz ihres hohen Wirths einige Zeichen von Unruhe bemerkt zu haben, deren Ursache ihnen zwar unerklaerlich blieb, aber ohne dass Einer derselben sich erlaubt haette, eingehender danach zu forschen. Auf jeden Fall lag es, daran war gar nicht zu zweifeln, in der Absicht des Officiers der Gardejaeger, durch seine Geheimnisse die Festesfreude in keiner Weise zu beeintraechtigen, und da er einer der seltenen Fuersten war, dem fast eine ganze Welt, sogar im Gedanken, zu gehorchen sich gewoehnt hatte, so wurden auch die Vergnuegungen des Balles nicht einen Augenblick unterbrochen. Indessen wartete General Kissoff von dem Officier, dem er das Telegramm aus Tomsk ueberreicht hatte, auf die Erlaubniss sich zurueckziehen zu duerfen; aber jener verharrte in Schweigen. Er hatte das Blatt angenommen, durchlesen und mehr und mehr Wolken lagerten sich auf seine Stirn. Unwillkuerlich fasste seine Hand nach dem Degengriff und erhob er diese wieder bis an die Augen, welche er einen Augenblick bedeckte. Es schien, als blende ihn der Schein der tausend Flammen und als suche er etwas Schatten, um besser in sein Inneres blicken zu koennen. "Wir sind also, begann er wieder, nachdem er den General Kissoff in eine Fensternische gefuehrt, seit gestern ohne alle Verbindung mit dem Grossfuersten? -- Ohne Verbindung, Sire, und es steht zu befuerchten, dass die Depeschen bald nicht einmal die Grenze Sibiriens mehr ueberschreiten koennen. -- Aber die Truppen des Amurgebietes, sowie die von Transbaikalien haben die Ordre empfangen, sofort nach Irkutsk aufzubrechen? -- Diesen Befehl enthielt das letzte Telegramm, welches ueber den Baikalsee hinaus zu senden moeglich war. -- Doch mit den Gouvernements Jeniseisk, Omsk, Semipalatinsk und Tobolsk stehen wir seit Beginn des Einfalls stets in directer Communication? -- Gewiss, Sire, dahin gelangen unsere Depeschen und wir sind sicher, dass die Tartaren zur Stunde den Irtysch und Obi noch nicht ueberschritten haben. -- Und von dem Verraether Iwan Ogareff hat man noch keine weitere Kunde? -- Nein, antwortete General Kissoff; der Polizeichef vermag nicht zu sagen, ob jener die Grenze ueberschritten hat oder nicht. -- Sein Signalement werde sofort nach Nishny-Nowgorod, Perm, Jekaterinburg, Kassimow, Tiumen, Ichim, Omsk, Elamsk, Kolywan, Tomsk und ueberhaupt nach allen Stationen gesandt, mit denen wir noch in telegraphischem Verkehr stehen. -- Ew. Majestaet Befehle werden unverzueglich ausgefuehrt werden, erwiderte der General. -- Kein Wort ueber alles Dieses!" Nach einem stummen Zeichen ehrfurchtsvoller Ergebenheit verneigte sich der General, mischte sich erst unbefangen unter die Gaeste, verliess aber bald die Salons, ohne dass sein Verschwinden irgend welches Aufsehen erregte. Der Officier blieb traeumerisch noch kurze Zeit stehen, und als er sich den verschiedenen Gruppen von Diplomaten und Militaers wieder naeherte, hatte sein Gesicht die einen Augenblick verlorene Ruhe vollstaendig wiedergefunden. Die sehr ernste Ursache jener schnell gewechselten Worte war aber keineswegs so unbekannt, als der Gardejaegerofficier und der General Kissoff glauben mochten. Man sprach zwar nicht officiell davon, ja nicht einmal officioes, da die Zungen jetzt noch nicht geloest waren, aber verschiedene hochgestellte Personen hatten doch mehr oder weniger genaue Berichte erhalten ueber die Vorgaenge jenseit der Grenze. Was man nur so vom Hoerensagen wusste, davon unterhielt man sich nicht, nicht einmal die Mitglieder der Diplomatie unter einander; zwei Eingeladene aber, welche weder eine Uniform, noch sonst welche Auszeichnung als berechtigt zu dieser Festlichkeit kennzeichnete, sprachen mit gedaempfter Stimme ueber diese Angelegenheit und schienen sehr genaue Informationen zu besitzen. Auf welchem Wege, durch welches Zwischenmittel wussten aber diese beiden einfachen Sterblichen das, was andere und selbst sehr einflussreiche Personen kaum muthmassten? - Niemand haette das sagen koennen. Waren sie mit einem Vorgefuehl oder mit einer Voraussicht begabt? Besassen sie noch einen sechsten Sinn, der es ihnen ermoeglichte, ueber den begrenzten Horizont hinaus zu blicken, der sonst die Tragweite des Menschenauges abschliesst? Hatten sie eine besonders scharfe Witterung, um die geheimsten Neuigkeiten auszuspueren? Sollte sich ihre Natur bei der tief eingewurzelten Gewohnheit, von und durch die Information zu leben, gaenzlich veraendert haben? Man wurde versucht, das zu glauben. Diese beiden Maenner, der eine Englaender, der andere Franzose, waren lange, hagere Gestalten, - dieser gebraeunt wie die Suedlaender der heissen Provence, - jener roth, wie ein Gentleman aus Lancashire. Der abgemessene, kalte, phlegmatische, mit Bewegungen und Worten haushaelterische Anglo-Normanne schien nur bei der Ausloesung einer Feder zu reden und zu gesticuliren, die von Zeit zu Zeit in ihm wirkte. Der lebhafte, fast ungestueme Gallo-Romane dagegen sprach gleichzeitig mit Lippen, Augen und Haenden, und schien seine Gedanken auf zwanzigerlei Art mitzutheilen, waehrend seinem Partner nur eine zu Gebote stand, welche stereotypisch in seinem Hirn fest sass. Diese physischen Unterschiede haetten des oberflaechlichen Beobachters Urtheil gewiss leicht irre fuehren koennen; der Physiognomiker aber, der diese beiden Persoenlichkeiten aus der Naehe beobachtete, haette den physiologischen Contrast, der sie charakterisirte, gewiss in die Worte zusammen gefasst, dass der Franzose "ganz Auge" und der Englaender "ganz Ohr" sei. In der That hatte sich der Gesichtssinn des Einen durch den Gebrauch ganz ausserordentlich geschaerft. Seine Netzhaut besass dieselbe Augenblicksempfindlichkeit, wie die der geuebten Taschenspieler, welche eine Karte schon beim schnellen Mischen oder an einem so unscheinbaren Zeichen erkennen, dass es jedem Anderen zweifellos entgeht. Dieser Franzose besass also in hoechstem Grade das, was man so bezeichnend "das Gedaechtniss des Auges" nennt. Der Englaender im Gegentheil schien ganz speciell organisirt, nur zu hoeren und in sich aufzunehmen. Traf seinen Gehoerapparat der Ton einer Stimme nur ein einzig Mal, so vergass er diesen niemals mehr und haette diese Stimme nach zehn, nach zwanzig Jahren unter tausend anderen wieder herausgehoert. Seine Ohren besassen zwar sicherlich nicht das Vermoegen, sich so zu bewegen, wie die der Thiere, welche mit sehr entwickelten Ohrmuskeln versehen sind; da die Gelehrten aber ausser Zweifel gesetzt haben, dass die aeusseren Ohren des Menschen nur "nahezu" unbeweglich sind, so waere man anzunehmen berechtigt gewesen, dass die des genannten Englaenders sich mussten strecken, verschieben und winden koennen, um die Schallwellen unter den guenstigsten Verhaeltnissen aufzunehmen, so dass einem Sachverstaendigen ihre Bewegungen wohl nicht entgangen waeren. Es sei gleich hierbei bemerkt, dass diese Vervollkommnung des Gesichts und Gehoers den beiden Maennern bei ihrer Beschaeftigung sehr zu Statten kam, denn der Englaender war ein Correspondent des Daily-Telegraph, der Franzose Correspondent des ... ja, welches oder welcher Journale, das sagte er nicht, und wenn man ihn darum fragte, so antwortete er scherzend, er correspondire mit "seiner Cousine Madelaine". Im Grunde war dieser Franzose trotz seines legeren Auftretens ein sehr scharfer Beobachter, und wenn er so in den Tag hinein plauderte, vielleicht um seine eigentliche Absicht desto mehr zu verdecken, so gab er sich doch niemals eine Bloesse. Gerade seine Redseligkeit diente ihm dazu, zu schweigen, und wahrscheinlich war er eigentlich verschlossener und discreter, als sein College vom Daily-Telegraph. Wenn Beide diesem in der Nacht vom 15. zum 16. Juli im Neuen Palais gegebenen Feste beiwohnten, so geschah das in ihrer Eigenschaft als Journalisten und zwar zur groessten Erbauung ihrer Leserkreise. Es versteht sich ganz von selbst, dass diese beiden Maenner fuer ihre Mission in der Welt wirklich begeistert waren; dass sie es liebten, sich wie Spuerhunde auf die Faehrte der unerwartetsten Neuigkeiten zu stuerzen, dass Nichts sie zurueckschreckte oder abhielt, zu ihrem Ziele zu gelangen, und dass sie das absolut unerregbare, kalte Blut und den wirklichen Muth dieser Helden von der Feder besassen. Wahrhafte Jockeys dieser Steeple-chase, dieser Jagd nach Neuigkeiten, sprangen sie ueber die Hecken, flogen ueber die Fluesse, setzten ueber die Huerden mit dem unvergleichlichen Feuereifer jener Vollblutrenner, die entweder die Ersten am Ziele sein oder sterben wollen. Uebrigens geizten ihre Journale nicht mit dem Gelde, jenem bis jetzt sichersten, schnellsten und vollkommensten Mittel, sich zu informiren. Zu ihrer Ehre sei aber hier eingeflochten, dass weder der Eine noch der Andere je ueber die Mauer des Privatlebens sah oder horchte, und dass sie nur dann in Thaetigkeit traten, wenn politische oder sociale Interessen in's Spiel kamen. Mit einem Worte, sie waren, wie man seit den letzten Jahren zu sagen pflegt, "die grossen politischen und militaerischen Berichterstatter". Indess wird man bei naeherer Betrachtung sehen, dass sie die Thatsachen und ihre Consequenzen meist auf besondere Art und Weise ansahen, da sie eben jeder seine besondere Manier hatten, zu sehen und zu urtheilen. Da sie jedoch stets mit Freimuth handelten und bei jeder Gelegenheit ihr Moeglichstes thaten, so wuerde man Unrecht thun, sie deshalb zu tadeln. Der franzoesische Correspondent hiess Alcide Jolivet. Harry Blount war der Name des englischen Reporters. Sie begegneten sich eben zum ersten Male bei dem Feste im Neuen Palais, ueber welches sie ihren Journalen Bericht erstatten wollten. Die Verschiedenheit ihres Charakters in Verbindung mit einer gewissen Geschaeftsvorsicht, konnte ihnen nur wenig gegenseitige Sympathie einfloessen. Jedoch, sie vermieden sich deshalb nicht, ja, sie suchten sich sogar, um Einer dem Anderen die Neuigkeiten des Tages abzulocken. Sie waren Alles in Allem zwei Nimrods, die auf dem naemlichen Gebiete jagten. Was der Eine fehlte, konnte ja dem Anderen zum Schusse gelegen kommen und ihr Interesse verlangte es, dass sie immer so weit Fuehlung behielten, um einander zu sehen und zu hoeren. An diesem Abend befanden sich Beide auf dem Anstande. Offenbar lag etwas in der Luft. "Und wenn's nur ein Volk Enten waere, sagte sich Alcide Jolivet, einen Flintenschuss wird's doch werth sein!" Die beiden Correspondenten kamen also in ein Gespraech waehrend des Balles, kurze Zeit, nachdem General Kissoff die Salons verlassen hatte, und Beide klopften erst gegenseitig auf den Busch. "Wahrlich, mein Herr, dieses kleine Fest ist reizend! begann Alcide Jolivet, mit der liebenswuerdigsten Miene von der Welt die Unterhaltung mit dieser ausgesprochen franzoesischen Phrase einleitend. -- Ich habe schon telegraphirt: splendid! antwortete frostig Harry Blount mit besonderer Betonung dieses Wortes, welches jeder Buerger des Vereinigten Koenigreichs als Ausdruck seiner Bewunderung zu gebrauchen pflegt. -- Ich jedoch, fuegte Alcide Jolivet hinzu, glaubte meiner Cousine ... -- Ihrer Cousine?... wiederholte Harry Blount erstaunt, indem er seinen Collegen unterbrach. -- Ja wohl, fuhr Alcide Jolivet fort, ich stehe mit meiner Cousine Madelaine in Briefwechsel, sie hat es gern, schnell Alles zu erfahren, meine Cousine!... Ich glaubte ihr also mittheilen zu muessen, dass die Stirn des Souveraens bei diesem Feste doch von einigen Woelkchen beschattet gewesen sei. -- Mir dagegen schien sie strahlend frei, antwortete Harry Blount, der wahrscheinlich seine Ansicht ueber diesen Gegenstand zu verbergen suchte. -- Und in Folge dessen haben Sie sie auch in den Spalten des Daily-Telegraph 'strahlen' lassen? -- Gewiss. -- Erinnern Sie sich, Herr Blount, sprach Alcide Jolivet weiter, was im Jahre 1812 in Zakret vorgekommen ist? -- So genau, als ob ich dabei gewesen waere, erwiderte der englische Reporter. -- Nun, sagte Alcide Jolivet, so ist Ihnen bekannt, dass man bei einem dem Kaiser Alexander zu Ehren gegebenen Feste diesem die Nachricht brachte, dass Napoleon mit der franzoesischen Vorhut soeben den Niemen ueberschritten habe. Der Kaiser verliess jedoch das Fest nicht, trotz der Wichtigkeit dieser Nachricht, die ihm seine Herrschaft kosten konnte, und bekaempfte aeusserlich jede Unruhe ... -- So wenig wie unser Wirth eine solche zeigte, als ihm General Kissoff die Meldung machte, dass die telegraphischen Verbindungen zwischen der Grenze und dem Gouvernement von Irkutsk unterbrochen seien. -- Ah, Sie kennen diese Einzelheiten? -- Ich kenne sie. -- Ich muss wohl davon unterrichtet sein, da mein letztes Telegramm bis Udinsk gelangt ist, bemerkte Alcide Jolivet mit einer gewissen Genugthuung. -- Und die meinigen nur bis Krasnojarsk, erwiderte Harry Blount etwas unwirsch. -- So wissen Sie auch, dass schon Befehle an die Truppen von Nicolajewsk abgegangen sind? -- Ja wohl, mein Herr, gleichzeitig als man den Kosaken des Gouvernements Tobolsk telegraphisch die Ordre zugehen liess, sich zu sammeln. -- Sehr richtig, Herr Blount, auch diese Massnahmen sind mir vollkommen bekannt, und glauben Sie, meine liebenswuerdige Cousine wird schon morgen Einiges davon zu erzaehlen wissen. -- Ganz so wie die Leser des Daily-Telegraph davon unterrichtet sein werden, Herr Jolivet. -- Das kommt davon, wenn man Alles sieht, was ringsum vorgeht ... -- Und wenn man Alles hoert, was gesprochen wird! -- Da wird's einen interessanten Feldzug zu verfolgen geben. -- Dem ich mich anschliesse, Herr Jolivet. -- O, dann kann sich's treffen, dass wir uns auf einem minder sicheren Terrain, als das Parket dieses Saales, wieder begegnen. -- Wohl einem minder sicheren, aber auch ... -- Einem weniger glatten!" antwortete Alcide Jolivet, der seinen Collegen in den Armen auffing, als dieser eben beim Rueckwaertsgehen fast umgefallen waere. Spaeter trennten sich die beiden Collegen, ganz zufrieden zu wissen, dass Keiner dem Andern um eine Nasenlaenge voraus war. Jetzt sprangen die Thueren der anstossenden Saele auf. Dort zeigten sich verschiedene grosse und praechtig servirte Tafeln, schwer beladen mit kostbarem Porzellan und goldenen Gefaessen. Auf der mittelsten, fuer die Prinzen, Prinzessinnen und die Mitglieder des diplomatischen Corps reservirten Tafel glaenzte ein Tafelaufsatz von unschaetzbarem Werthe aus Londoner Werkstaetten und rund um dieses Meisterwerk der Juwelierarbeit spiegelten sich unter dem Glanze der Lustres die unzaehligen Stuecken des herrlichsten Geschirrs, das jemals die Manufacturen von Sevres verlassen hatte. Die Gaeste des Neuen Palais begaben sich nach den Speisesaelen. In diesem Augenblicke naeherte sich der General Kissoff, der inzwischen zurueckgekehrt war, rasch dem Officier der Gardejaeger. "Nun, wie steht's? fragte dieser lebhaft. -- Die Telegramme gehen nicht ueber Tomsk hinaus, Sire. -- Sofort einen Courier!" Der Officier verliess den grossen Saal und zog sich in ein daneben liegendes grosses Gemach zurueck. Es war das ein mit Eichenmoebeln sehr einfach ausgestattetes Arbeitscabinet an einer Ecke des Neuen Palais. Einige Bilder, darunter einzelne Oelgemaelde von Horace Vernet, hingen an den Waenden. Der Officier riss schnell ein Fenster auf, als habe es seinen Lungen an Sauerstoff gemangelt, und sog auf einem maechtigen Balcon die laue Luft der schoenen Julinacht ein. Vor seinen Augen breitete sich, in sanftes Mondlicht gebadet, eine Art Festungswerk aus, in welchem sich zwischen zwei Kathedralen drei Palaeste und ein Arsenal erhoben. Rings um dasselbe die bestimmt unterschiedenen Staedte: Kitai-Gorod, Boloi-Gorod und Zemlianoi-Gorod, das ungeheure europaeische, tartarische und chinesische Quartier, ueberragt von Thuermen und Minarets, von den Kuppeln der dreihundert Kirchen mit ihren gruenen Daechern und dem silbernen Kreuz darauf. Ein kleiner Fluss mit vielgewundenem Laufe glaenzte manchmal in den Strahlen des Mondes. Das Ensemble bildete eine wunderbare, verschieden gefaerbte Mosaik, welche ein zehn Stunden langer Rahmen umschloss. Dieser Fluss war die Moskowa; diese Stadt war Moskau, jenes Festungswerk war der Kreml und jener Officier der Gardejaeger, der mit gekreuzten Armen und traeumerischer Stirn nur halb den Laermen des Festes hoerte, der sich aus dem Neuen Palais ueber die alte Stadt der Moskowiter verbreitete - das war der Czaar. Zweites Capitel. Russen und Tartaren. Wenn der Czaar so unerwartet und gerade in dem Augenblicke, als das Fest, welches er den Spitzen der Civil- und Militaerbehoerden gab, in schoenstem Glanze strahlte, die Salons des Neuen Palais verliess, so kam das daher, dass sich jenseit des Ural sehr wichtige Ereignisse vorbereiteten. Es war gar nicht zu bezweifeln: eine furchtbare Invasion drohte die sibirischen Provinzen der russischen Autonomie zu entziehen. Das asiatische Russland oder Sibirien bedeckt eine Oberflaeche von 560,000 Quadratmeilen (franzoesische Lieues) und zaehlt etwa zwei Millionen Einwohner. Es erstreckt sich von dem Gebirgszuge des Ural, der es von dem europaeischen Russland trennt, bis nach dem Gestade des Pacifischen Oceans. Nach Sueden zu schliesst es Turkestan und das Chinesische Reich mit einer, haeufig unbestimmten Grenze ab, im Norden der arktische Ocean von dem Karameere bis zur Behringsstrasse. Es wird in Gouvernements oder Provinzen getheilt, naemlich die von Tobolsk, Jeniseisk, Irkutsk, Omsk und Jakutsk; ferner umfasst es zwei Districte, die von Ochotsk und von Kamschatka, und besitzt endlich zwei Laender, welche jetzt dem moskowitischen Scepter unterthan sind, das Land der Kirghisen und das Land der Tschuktschen. Diese ungeheure Strecke von Steppen, in der Laengenausdehnung ueber 110 Graden von Westen nach Osten umfassend, bildet den Deportationsort fuer Verbrecher, das Exil fuer diejenigen, welche ein Ukas mit Verbannung belegte. Zwei Generalgouverneure vertreten die Oberherrschaft des Czaaren in diesem weiten Reiche. Der Eine residirt in Irkutsk, der Hauptstadt des westlichen Sibiriens. Der Tchuma, ein Nebenfluss des Jenisei, trennt die beiden Haelften des Territoriums. Noch furcht keine Eisenbahn diese unendlichen Ebenen, unter denen einige ausnehmend fruchtbar sind; kein Schienenweg entlastet die reichen Mienen, welche bei ihrer Ausdehnung ueber grosse Strecken den Boden Sibiriens unter der Erde kostbarer erscheinen lassen, als auf der Oberflaeche. Im Sommer reist man daselbst im Tarantass; im Winter im Schlitten. Eine einzige Verbindung, aber eine elektrische, verknuepft die beiden Grenzen im Westen und im Osten Sibiriens durch einen Draht, der nicht weniger als 8000 Werst (gleich 8536 Kilom.) lang ist. Nach Ueberschreitung des Ural passirt er Jekaterinburg, Kassimow, Tiumen, Ichim, Omsk, Elamsk, Kolyvan, Tomsk, Krasnojarsk, Nishny-Udinsk, Irkutsk, Verkne-Nertschinsk, Strelink, Albazine, Blagoweshensk, Radde, Orlomskaya, Alexandrowskoe, Nicolajewsk, und kostet jedes bis an das aeusserste Ende zu befoerdernde Wort 6 Rubel 19 Kopeken (= fast genau 20 Mark oder 10 Gulden oestr.). Von Irkutsk aus verlaeuft eine Zweigleitung nach Kjachta an der mongolischen Grenze, von wo aus die Depeschen, das Wort fuer 30 Kopeken (= 96,7 Pf. oder 48,3 Kreuzer), in weiteren vierzehn Tagen bis Peking befoerdert werden. Jene Drahtleitung war zuerst zwischen Jekaterinburg und Nicolajewsk, nachher vor Tomsk und einige Stunden spaeter zwischen Tomsk und Kolyvan durchschnitten worden. Eben deshalb hatte der Czaar, nach der zweiten Mittheilung, welche General Kissoff ihm machte, nur geantwortet: "Sofort einen Courier!" Seit kurzer Zeit nun stand der Czaar bewegungslos am Fenster seines Cabinets, als die Huissiers wiederum dessen Thueren oeffneten. Der erste Chef der Polizei erschien auf der Schwelle. "Tritt ein, sagte der Czaar kurz, und theile mir Alles mit, was Du ueber Iwan Ogareff weisst. -- Es ist das ein sehr gefaehrlicher Mann, Sire, erwiderte der hohe Polizeibeamte. -- Er hatte den Rang eines Obersten? -- Ja, Sire. -- Und war ein intelligenter Officier? -- Gewiss, sehr intelligent, aber unmoeglich zu zuegeln und von sinnlosem Ehrgeiz, der vor nichts zurueckschreckte. Er verwickelte sich sehr bald in verschiedene Intriguen und wurde damals von Sr. kaiserlichen Hoheit dem Grossfuersten erst degradirt und spaeter nach Sibirien verwiesen. -- Wann ungefaehr? -- Vor etwa zwei Jahren. Nach sechsmonatlicher Verbannung durch Ew. Majestaet Gnade erloest, kehrte er nach Russland zurueck. -- Und seit dieser Zeit wandte er sich nicht wieder nach Sibirien? -- Doch, Sire, aber diesmal kehrte er freiwillig dahin zurueck", antwortete der Chef der Polizei. Dann fuegte er mit etwas zurueckgehaltener Stimme hinzu: "Es gab eine Zeit, Sire, da man nicht zurueckkehrte, wenn man nach Sibirien ging! -- Mag sein, so lange ich lebe, soll aber Sibirien ein Land sein, aus dem man auch wiederkehrt!" Der Czaar hatte wohl ein Recht, auf diese Worte einen besonderen Ausdruck zu legen, denn wiederholt hatte er durch seine Milde bewiesen, dass die russische Justiz auch zu verzeihen vermoege. Der Polizeichef erwiderte nichts, aber offenbar war er kein Freund von halben Massregeln. Seiner Ansicht nach durfte Keiner, der den Ural unter Bedeckung von Gensdarmen ueberschritten hatte, jemals daran denken, es noch einmal zu thun. Anders war es aber jetzt unter der neuen Regierung, und der Chef der Polizei bedauerte das aufrichtig. Wie! Es sollte keine andere Verbannung auf Lebenszeit mehr geben, als fuer Verbrechen gegen das gemeine Recht? Politische Straeflinge kehrten von Tobolsk, von Jakutsk, von Irkutsk in das Vaterland zurueck? Wahrlich, der Polizeichef, gewoehnt an die autokratischen Ukase, welche jede Amnestie ausschlossen, konnte sich mit dieser Art und Weise zu regieren niemals aussoehnen. Doch er schwieg und wartete es ab, dass der Czaar ihn weiter fragen werde. Das liess nicht lange auf sich warten. "Ist Iwan Ogareff, begann der Czaar, nach dieser Reise nach den sibirischen Provinzen, einer Reise uebrigens, deren eigentlicher Zweck wohl unerkannt blieb, nicht auch ein zweites Mal nach Russland gekommen? -- Gewiss, Sire. -- Und seit dieser Rueckkehr hat die Polizei seine Spur verloren? -- O nein, denn ein Verbannter wird von dem Tage seiner Begnadigung an erst gefaehrlich!" Ueber die Stirn des Czaaren flog eine leichte Wolke. Vielleicht fuerchtete der Polizeichef etwas zu weit gegangen zu sein, obwohl das Festhalten seiner Ideen gewiss nicht groesser und staerker war, als seine unbegrenzte Ergebenheit gegen seinen Herrn. Der Czaar aber, der solche indirecte Vorwuerfe bezueglich seiner innern Politik unbeachtet liess, fuhr einfach in seiner Fragestellung fort: "Und wo befand sich Iwan Ogareff zuletzt? -- Im Gouvernement von Perm. -- In welcher Stadt? -- In Perm selbst. -- Was that er daselbst? -- Er schien unbeschaeftigt und erregte durch seine Lebensweise keinerlei Verdacht. -- Er stand nicht unter polizeilicher Aufsicht? -- Nein, Sire. -- Zu welcher Zeit hat er Perm verlassen? -- Etwa im Maerz. -- Und wandte sich wohin? -- Das ist mir unbekannt. -- Seit dieser Zeit weiss man auch nicht, was aus ihm geworden ist? -- Niemand weiss es. -- Recht schoen, aber ich, ich weiss es! antwortete der Czaar. Geheime Nachrichten, welche die Bureaux der Polizei nicht passirten, sind an mich gelangt und in Beruecksichtigung der Thatsachen, welche sich jetzt jenseit der Grenze vollziehen, habe ich allen Grund, an die Richtigkeit derselben zu glauben! -- Wollen Sie damit sagen, Sire, rief der Polizeichef, dass Iwan Ogareff bei der Tartaren-Invasion die Hand im Spiele habe? -- Ja, General, und ich will Dir auch sagen, was Du noch nicht weisst. Iwan Ogareff ueberschritt, nachdem er das Gouvernement Perm verlassen, den Ural. Er begab sich nach Sibirien, in die Steppen der Kirghisen, und hat dort nicht ohne Erfolg die Nomadenvoelker aufzuwiegeln gesucht. Darauf hat er sich weiter nach Sueden, bis nach dem unabhaengigen Turkestan begeben. Dort fand er in den Khanaten von Bukhara, Khokhand und Kunduz Haeuptlinge, welche bereit waren, ihre Tartarenhorden in die sibirischen Provinzen zu werfen und einen allgemeinen Aufstand gegen die russische Herrschaft in Asien hervorzurufen. Die ganze Bewegung ist sehr geheim geschuert worden, sie bricht aber jetzt wie ein Donnerschlag aus und schon sind alle Wege und Communicationsmittel zwischen dem oestlichen und dem westlichen Sibirien abgeschnitten! Dazu trachtet Iwan Ogareff, von Rache getrieben, meinem Bruder nach dem Leben!" Als er so sprach, war der Czaar erregter geworden und ging mit raschen Schritten auf und nieder. Der erste Chef der Polizei erwiderte kein Wort, aber er sagte sich, dass Iwan Ogareff's Plaene zur Zeit, als die Selbstherrscher aller Reussen niemals einen Exilirten begnadigten, nicht haetten zur Reife gedeihen koennen. Still vergingen einige Augenblicke, dann naeherte er sich dem Czaaren, der sich in einen Fauteuil geworfen hatte. "Ew. Majestaet, sagte er, haben unzweifelhaft Befehl gegeben, dass dieser Einfall so schnell als moeglich zurueckgewiesen wird? -- Ja, antwortete der Czaar. Das letzte Telegramm, das Nishny-Udinsk hat erreichen koennen, hat auch die Truppen der Gouvernements Jeniseisk, Irkutsk und Jakutsk, sowie diejenigen der Amurprovinzen und des Baikalsees in Bewegung setzen muessen. Gleichzeitig ziehen die Regimenter von Perm und Nishny-Nowgorod in Eilmaerschen nach der Grenze am Ural; leider brauchen sie aber mehrere Wochen, bevor ein Zusammentreffen mit den Tartarenhorden moeglich ist! -- Und Ew. Majestaet Bruder, Se. kaiserl. Hoheit der Grossfuerst, der in diesem Augenblicke allein im Gouvernement Irkutsk weilt, steht mit Moskau in keiner directen Verbindung mehr? -- Nein. -- Er muss aus den letzten Depeschen aber die Massregeln Ew. Majestaet erfahren haben und auch wissen, welche Hilfe er aus den Irkutsk zunaechst gelegenen Gouvernements zu erwarten hat? -- Das ist ihm bekannt, erwiderte der Czaar, er weiss aber nicht, dass Iwan Ogareff sich unter falschem Namen bei ihm zu dienen anbieten wird. Gelang es ihm dann, sein Vertrauen zu gewinnen, so wird er, wenn die Tartaren Irkutsk angreifen, die Stadt ausliefern, nebst meinem Bruder, dessen Leben unmittelbar bedroht ist. Das sind die Nachrichten, welche ich erhielt, die aber der Grossfuerst nicht kennt und folglich sofort erfahren muss! -- Nun wohl, Sire, ein tuechtiger, muthiger Courier ... -- Den erwarte ich. -- Und beeilen muss er sich, fuegte der Chef der Polizei hinzu, denn Sie gestatten mir auszusprechen, Sire, dass dieses ganze Sibirien zur Rebellion sehr geneigt ist! -- Glaubst Du, General, dass die Straeflinge mit den Feinden gemeinschaftliche Sache machen koennten? rief der Czaar, der bei dieser Andeutung des Polizeichefs ganz ausser sich gerieth. -- Verzeihung, Majestaet!... entgegnete stammelnd der Chef des Polizeiwesens, denn wirklich war das der Gedanke gewesen, der in seinem unruhigen und misstrauischen Kopfe aufgestiegen war. -- Ich traue den Verbannten mehr Vaterlandsliebe zu! erwiderte der Czaar. -- In Sibirien befinden sich auch andere Straeflinge, als die politischen Verbannten, antwortete der Polizeichef. -- Die Verbrecher! O, General, die ueberlasse ich Dir! Das ist der Auswurf des menschlichen Geschlechts; diese haben ueberhaupt kein Vaterland. Die Erhebung, oder vielmehr der Einfall, ist aber nicht gegen den Kaiser gerichtet, sondern gegen Russland, gegen die Heimat, welche die Verbannten doch noch einmal wieder zu sehen hoffen, und die sie wieder sehen werden!... Nein, nein, nie wird ein Russe sich auch nur eine Stunde lang mit einem Tartaren verbinden, um die moskowitische Macht zu untergraben und zu schwaechen!" Der Czaar war berechtigt, an den Patriotismus Derjenigen zu glauben, die seine Politik zeitweilig verbannt hatte. Jene Milde, der Grundzug seiner Justiz, wenn er dieselbe selbst handhabte, die weitgehenden Erleichterungen bei Ausfuehrung der frueher so schrecklichen Ukase garantirten ihm, dass er sich hierin nicht taeusche. Aber auch ohne diese maechtige Beihilfe zu einem Erfolge der Tartaren-Invasion gestaltete sich die Sachlage ueberaus ernst, denn es stand mindestens zu befuerchten, dass sich ein grosser Theil der Kirghisenbevoelkerung den Angreifern anschliessen werde. Die Kirghisen zerfallen in drei Horden, die Grosse, die Kleine und die Mittlere, und zaehlen etwa 40,000 "Zelte", d. h. gegen 2,000,000 Seelen. Von diesen verschiedenen Tribus sind die Einen ganz unabhaengig, Andere erkennen entweder die russische Oberhoheit an, oder die der Khanate von Khiwa, Khokhand oder Bukhara, d. h. der maechtigsten Haeuptlinge von Turkestan. Die Mittlere Horde, die rechte, ist uebrigens auch die bedeutendste und ihre Lager bedecken den ganzen Raum zwischen den Wasserlaeufen des Sara-Su, des Irtysch, des obern Thim und dem Hadisang- und Aksakalsee. Die Grosse Horde, welche die oestlich von der Mittleren gelegenen Gegenden bewohnt, dehnt sich bis zu den Gouvernements Omsk und Tobolsk aus. Empoerten sich diese Kirghisenvoelker, so ueberschwemmten sie das asiatische Russland und rissen Sibirien oestlich vom Jenisei los. Zwar sind diese Kirghisen nur Neulinge in der Kriegskunst und weit mehr naechtliche Raeuber oder gewohnt, die Karawanen zu ueberfallen, als regulaere Soldaten. Levchine sagte von ihnen: "Eine geschlossene Front oder ein Quarre tuechtiger Infanterie widersteht einer zehnfach groesseren Anzahl Kirghisen und eine einzige Kanone richtet sie in Massen zu Grunde." Das mag wohl wahr sein, aber erst ist es doch noethig, dass ein Quarre Infanterie in dem empoerten Lande bei der Hand sei und dass die Feuerschluende die Artillerieparks der russischen Provinzen verlassen, welche immerhin zwei- bis dreitausend Werst entfernt sind. Ausser auf der directen Strasse von Jekaterinburg nach Irkutsk sind aber die haeufig sumpfigen Steppen nur schwierig passirbar und mehrere Wochen mussten unzweifelhaft vergehen, bevor die russischen Truppen in die Lage kamen, die Tartarenhorden zu Paaren zu treiben. Omsk, das Centrum der Militaerorganisation von Westsibirien, ist dazu bestimmt, die Kirghisenbevoelkerung in Respect zu erhalten. Dort verlaufen die Grenzen, welche die halbunterjochten Nomaden wiederholt verletzt haben, und im Kriegsministerium nahm man nicht ohne Ursache an, dass Omsk schon sehr bedroht sei. Die Linie der Militaercolonien, d. h. der Kosakenposten, welche von Omsk bis Semipalatinsk vertheilt sind, war gewiss an verschiedenen Punkten durchbrochen, und es stand zu befuerchten, dass die "Grosssultane", welche die Kirghisendistricte regieren, entweder freiwillig oder gezwungen die Herrschaft der Tartaren, Muselmaenner so wie sie selbst, anerkannten und dabei der durch ihre Botmaessigkeit schon genaehrte Hass sich durch den Antagonismus der muselmaennischen und griechischen Religion verstaerkte. Schon seit langer Zeit suchten thatsaechlich die Tartaren von Turkestan, und vor Allen die aus den Khanaten von Bukhara, Khiwa und Khokhand, durch Gewalt ebenso, wie durch Ueberredung, die Kirghisenhorden dem moskowitischen Scepter zu entreissen. Ueber diese Tartaren nur einige Worte. Speciell gehoeren die Tartaren zu zwei verschiedenen Racen, der kaukasischen und der mongolischen Menschenrace. Die kaukasische Race, diejenige, von der A. von Remusat sagt, "dass sie in Europa als der Typus der Schoenheit unserer Menschenklassen angesehen wird, weil alle Voelker dieses Erdtheiles von ihr abstammen", umfasst unter demselben Namen die Tuerken und die Eingeborenen persischer Abkunft. Die rein mongolische Race finden wir bei den Mongolen, den Mandschus und den Thibetanern. Die Tartaren, welche damals das russische Reich bedrohten, gehoerten zur kaukasischen Race und waren vorzueglich in Turkestan zu Hause. Dieses weite Gebiet wird in verschiedene Staaten getheilt, welche von Khans, daher auch der Name Khanat, regiert werden. Die wichtigsten Khanate sind die von Bukhara, Khokhand, Kunduz u. s. w. Das Khanat von Bukhara war jener Zeit das einflussreichste und maechtigste. Schon mehrmals hatte Russland Krieg gefuehrt mit seinen Haeuptlingen, welche aus persoenlichem Interesse und um sie unter ihr Joch zu beugen, die Unabhaengigkeit der Kirghisen gegen die moskowitische Herrschaft vertheidigten. Der dermalige Haeuptling, Feofar-Khan, folgte ganz den Fussstapfen seiner Vorgaenger. Dieses Khanat von Bukhara erstreckt sich von Sueden nach Norden vom 37. bis zum 41. Breitengrade, von Osten nach Westen vom 61. bis 66. Laengengrade, d. h. ueber eine Flaeche von gegen 10,000 Quadratmeilen. Die Bevoelkerung des Staates schaetzt man auf 2,500,000 Einwohner mit einer Armee von 60,000 Mann Fussvolk, welches in Kriegszeiten auf das Dreifache verstaerkt wird, und etwa 30,000 Reitern. Es ist ein reiches Land mit grossen Schaetzen aus dem Thier-, Pflanzen- und Mineralreiche, und noch durch den Hinzutritt der Territorien von Balkh, Aukoi und Meimaneh nicht unwesentlich vergroessert. Es besitzt neunzehn bemerkenswerthe Staedte. Bukhara, umschlossen von einer acht englischen Meilen langen und von Thuermen flankirten Mauer, eine beruehmte Stadt, deren schon die Ovicenna's und andere Gelehrte des 10. Jahrhunderts erwaehnen, wird als Mittelpunkt muselmaennischer Wissenschaft betrachtet und zu den Hauptplaetzen Centralasiens gerechnet; Samarkand, mit dem Grabe Tamerlan's und jenem beruehmten Palaste mit dem blauen Stein darin, auf welchen sich jeder Khan bei Antritt seiner Regierung setzen muss, wird von einer ungemein starken Citadelle vertheidigt; Karschi mit seiner dreifachen Mauer und gelegen in einer Oase mit sumpfiger, von Schildkroeten und Eidechsen wimmelnden Umgebung, erscheint fast uneinnehmbar; Tscharoschui wird von einer Volksmenge von fast 20,000 Seelen vertheidigt; endlich Katta-Kurgan, Nurata, Djizah, Paikande, Karakul, Khuzar und andere, - sie alle bilden einen Kranz von schwer zu baendigenden Staedten. Dieses durch seine Berge geschuetzte und durch seine Steppen isolirte Khanat von Bukhara ist demnach ein in Wahrheit zu fuerchtender Staat, und Russland muss ihm stets nicht unbetraechtliche Streitkraefte entgegenwerfen. Damals beherrschte nun der ehrgeizige und wilde Feofar diesen Winkel der Tartarei. Gestuetzt auf die andern Khans, - vorzueglich die von Khokhand und von Kunduz, zwei grausame und beutegierige Kriegsmaenner, welche stets bereit waren, sich zu betheiligen, wo es ihr Interesse galt, - und unter Mitwirkung der Haeuptlinge, welche alle die Horden in Centralasien befehligten, stellte er sich an die Spitze dieser Invasion, deren eigentliche Seele Iwan Ogareff war. Dieser Verraether hatte, getrieben durch einen sinnlosen Ehrgeiz und gestachelt von wildem Hasse, die Bewegung so geleitet, dass man zuerst die grosse sibirische Strasse in seine Gewalt bekam. In Wahrheit ein Tollhaeusler, glaubte er die russische Macht brechen zu koennen, und auf seine Anordnung ueberschritt der Emir, es ist das der Titel, den sich die Khans von Bukhara ausnehmend beilegen, die russische Grenze. Er fiel in das Gouvernement Semipalatinsk ein, woselbst die zu schwachen Kosakenposten sich vor seiner Uebermacht hatten zurueckziehen muessen. Sogar ueber den Balkhachsee drang er vor und riss die Kirghisenbevoelkerung mit sich fort. Raubend, sengend und brennend waelzte sich der Schwarm von Stadt zu Stadt. Wer sich unterwarf, ward eingereiht in's Heer, wer Widerstand leistete, umgebracht. So drang er vor, gefolgt von den unausbleiblichen Anhaengseln eines orientalischen Souveraens, seiner aus den Frauen und Sklaven bestehenden Hausdienerschaft, - immer mit der gedankenlosen Tollkuehnheit eines modernen Gengis-Khan. Wo stand er in diesem Augenblicke? Bis wohin waren seine Schaaren zu der Stunde vorgedrungen, als die Nachricht von dem Einfall nach Moskau gelangte? Bis zu welchem Punkte in Sibirien hatten die russischen Truppen zurueckweichen muessen? - Niemand vermochte das zu sagen. Die Verbindungen waren gestoert. Hatten den Draht zwischen Kolyvan und Tomsk aber nur einige Reiter aus der Vorhut der Tartarenarmee zerschnitten oder ueberzog schon der Emir selbst die Provinzen von Jeniseisk? Stand das ganze suedliche Westsibirien in Flammen? Reichte die Empoerung schon bis nach den Gebieten im Osten? - Keiner wusste es. Der einzige Kundschafter, der weder die Kaelte noch die Hitze fuerchtet, weder die Rauhigkeit des Winters, noch die verdorrende Gluth des Sommers, und der dahin fliegt mit der rasenden Schnelligkeit des Blitzes, der elektrische Funke, konnte nicht mehr durch die Steppen laufen, war ausser Stande, den Grossfuersten zu benachrichtigen von der Gefahr, die ihm in Irkutsk durch den Verrath Iwan Ogareff's bedrohte. Nur ein Courier konnte den unterbrochenen Strom einigermassen ersetzen. Dieser Mann bedurfte einer gewissen Zeit, um die 5200 Werst (= 5523 Kilom.) von Moskau bis Irkutsk zurueckzulegen. Er musste, um die Haufen der Rebellen und der Feinde zu durchbrechen, einen so zu sagen uebermenschlichen Muth und eben solche Klugheit entwickeln. Doch, mit Kopf und Herz kommt man ja weit! "Werde ich diesen Kopf und dieses Herz finden?" fragte sich der Czaar. Drittes Capitel. Michael Strogoff. Bald oeffnete sich die Thuer des kaiserlichen Cabinets und der Huissier meldete den General Kissoff. "Nun, der verlangte Courier? fragte rasch der Czaar. -- Ist schon da, Sire, antwortete der General. -- Du hast einen geeigneten Mann gefunden? -- Ich wage, mich Ew. Majestaet dafuer zu verbuergen. -- Stand er in Palastdiensten? -- Ja, Sire. -- Du kennst ihn? -- Persoenlich; und mehrmals hat er schon schwierige Missionen zur Zufriedenheit ausgefuehrt. -- Im Auslande? -- Gerade in Sibirien. -- Woher ist er? -- Aus Omsk, also selbst ein Sibirier. -- Er besitzt kaltes Blut, Intelligenz und Muth? -- Gewiss, Sire, er besitzt alle Eigenschaften, auch da zu reussiren, wo Andere vielleicht scheitern koennten. -- Wie alt? -- Dreissig Jahre. -- Es ist ein gesunder, kraeftiger Mann? -- Sire, er vermag Frost, Hunger, Durst und Anstrengung bis zum Aeussersten zu ertragen. -- Er hat einen Koerper von Stahl? -- Ohne Zweifel, Sire. -- Und ein Herz?... -- Ein Herz von Gold. -- Sein Name? -- Michael Strogoff. -- Er ist bereit abzureisen? -- Im Saale der Garden erwartet er Ew. Majestaet Befehle. -- Er soll hierher kommen", sagte der Czaar. Einige Augenblicke spaeter trat Michael Strogoff in das Cabinet des Kaisers ein. Michael Strogoff war hochgewachsen, kraeftig, hatte breite Schultern und eine volle Brust. Sein maechtiger Kopf zeigte die besten Merkmale kaukasischer Race. Seine wohlgebildeten Gliedmassen erschienen wie eben so viel mechanische Hebel zur sicheren Ausfuehrung kraeftiger Bewegungen. Der aeusserlich ansprechende Mann mit gewinnendem Auftreten schien nicht leicht wider Willen aus seiner Stellung gebracht werden zu koennen, denn wenn er seine Fuesse auf den Boden gesetzt hatte, schienen sie schon mehr darin zu wurzeln. Auf seinem nicht eben kleinen Kopf mit breiter Stirn kraeuselte sich ueppiges Haar, das in Locken herabfiel, wenn er es mit der moskowitischen Muetze bedeckte. Veraenderte sich sein gewoehnlich etwas blasses Gesicht, so geschah das nur, wenn ihm das Herz schneller schlug, unter dem Einflusse einer beschleunigten Blutcirculation, welche jenes lebhafter faerbte. Seine tiefblauen Augen mit geradem, offenem und sicherem Blicke glaenzten unter dem vollen Bogen der durch ihre Muskeln etwas zusammengezogenen Augenbrauen und verriethen seinen Muth, "jenen Muth ohne Zorn, den die Helden besitzen", wie die Physiologen sagen. Seine nicht zu kleine Nase beherrschte einen symmetrischen Mund mit ein wenig hervorspringenden Lippen, jenem Zeichen eines edelmuethigen und guten Charakters. Michael Strogoff besass das Temperament des entschiedenen Mannes, der seinen Entschluss schnell zu fassen gewoehnt ist, der nicht in der Ungewissheit die Naegel zernagt, sich nicht im Zweifel hinter den Ohren kraut und nicht unentschlossen mit den Fuessen stampft. Karg in Bewegungen und Worten, stand er vor seinem Vorgesetzten still wie ein Soldat; wenn er jedoch ging, so zeigte seine Haltung eine grosse Leichtigkeit, eine auffallende Sicherheit der Bewegungen - ein Zeichen des Selbstvertrauens und der Lebhaftigkeit seines Geistes. Er gehoerte zu den Leuten, die immer etwas vorzuhaben scheinen und die Ausfuehrung nicht zu verzoegern pflegen. Michael Strogoff trug eine elegante Uniform, aehnlich jener des Officiercorps der berittenen Feldjaeger, Stiefeln, Sporen, anliegende Beinkleider und einen pelzverbraemten Dolman mit gelben Schnueren auf braunem Grunde. Auf seiner breiten Brust glaenzten ein Kreuz und verschiedene Medaillen. Michael Strogoff gehoerte zu der Specialabtheilung der Couriere des Czaaren und stand bei dieser Elitetruppe in Officiersrang. Ganz zweifellos erkannte man an seinem Gange, seiner Physiognomie, seiner ganzen Person, und leicht genug erkannte es auch der Czaar, dass dieser Mann gewoehnt war, einem erhaltenen Befehl unbedingt nachzukommen. Er besass also eine der in Russland schaetzenswerthesten Eigenschaften, eine Eigenschaft, welche, nach Aussage des beruehmten Schriftstellers Turgenjew, im Moskowitenreiche die Staffel nach den hoechsten Ehrenstellen bildet. Gewiss, wenn Einer diese Reise von Moskau nach Irkutsk gluecklich vollenden, in jenem empoerten Gebiete alle Hindernisse besiegen, alle Gefahren ueberwinden konnte, so war es Michael Strogoff. Ein fuer das Gelingen jenes Vorhabens sehr guenstiger Umstand war es, dass Michael Strogoff das zu durchziehende Land vollkommen kannte und die verschiedenen Sprachen desselben verstand; nicht weil er jenes schon bereist hatte, sondern weil er, wie erwaehnt, von Geburt selbst Sibirier war. Sein Vater, der vor zehn Jahren verstorbene Peter Strogoff, bewohnte die in dem gleichnamigen Gouvernement gelegene Stadt Omsk, woselbst seine Mutter, Marfa Strogoff, noch jetzt lebte. Dort, in jenen wilden Steppen der Provinzen Omsk und Tobolsk, war es, wo der furchtbare sibirische Jaeger seinen Sohn Michael "verstaehlt" hatte, wie der landlaeufige Ausdruck hiess. Sommer und Winter, im gluehenden Sonnenbrande, wie in der grimmigsten Kaelte, streifte er ueber die endlosen Ebenen, durch die Laerchen- und Weidengebuesche, durch die duestern Kiefernwaelder, legte seine Fallen aus, verfolgte das kleinere Wild mit dem Gewehre, das grosse mit dem Spiesse und dem Waidmesser. Unter grossem Wilde verstand man hierbei aber den sibirischen Baeren, eine furchtbare und sehr wilde Art, welche an Groesse ihren Verwandten in den Polargegenden vollstaendig gleichkommt. Peter Strogoff hatte mehr als neununddreissig Baeren erlegt, das will sagen, dass auch schon der vierzigste unter seiner Hand gefallen war, - und man weiss ja, wenn den Jagdgeschichten aus Russland einigermassen zu trauen ist, wie viele Jaeger bis zum neununddreissigsten Baeren gluecklich davon kamen und beim vierzigsten unterliegen mussten! Peter Strogoff hatte diese Unglueckszahl also ueberschritten, ohne auch nur eine Schramme davon zu tragen. Von da ab unterliess es der damals elfjaehrige Michael Strogoff niemals, seinen Vater bei den Jagdausfluegen zu begleiten, wobei er die "Ragatina" trug, d. h. eine Art Gabelspiess, um seinem Vater, der meist nichts als ein Messer bei sich fuehrte, im Nothfall zu Hilfe zu kommen. Mit dem vierzehnten Jahre hatte Michael Strogoff seinen ersten Baeren erlegt, und zwar ganz allein, was nicht so gar viel heissen will; nachdem er diesen aber abgezogen, hatte er auch das Fell des riesigen Thieres bis nach dem mehrere Werst entfernten vaeterlichen Hause geschleppt, - was bei dem Kinde eine ungewoehnliche Kraft voraussetzen liess. Diese Lebensweise bekam ihm gut, und als er das Mannesalter erreichte, vermochte er Alles zu ertragen, Frost und Hitze, Hunger und Durst, Muehsal und Plage. Er war mit einem Wort, so wie die Jakuten des unwirthbaren Nordens, ein ganzer Mann von Eisen. Er hielt leicht vierundzwanzig Stunden aus, ohne etwas zu essen, zehn Naechte, ohne zu schlafen, und begnuegte sich mit einem Lager in der freien Steppe, wo tausend Andere sich zum Tode erkaeltet haetten. Begabt mit unendlich feinen Sinnen, durch die weisse Ebene gefuehrt von einem reinen Delawareninstinct, wenn auch der Nebel den ganzen Horizont verhuellte, und das selbst in hoehern Breiten, wo die Polarnacht schon mehrere Tage anhaelt, fand er doch immer seinen richtigen Weg, wo Andere nicht mehr gewusst haetten, wohin sie den Fuss setzen sollten. Alle Geheimnisse seines Vaters waren auch ihm bekannt. Er wusste sich nach kaum bemerkenswerthen Anzeichen zu richten, nach der Lage der Eisnadeln, der Stellung der duennsten Baumzweige, nach schwachen Geruechen, welche von ausserhalb der Grenze des Horizontes herkamen, nach der Spur der Blaetter im Walde, nach den schwaechsten Geraeuschen in der Luft oder nach entfernten Detonationen, wie nach dem Zuge der Voegel in der dunstigen Atmosphaere, - nach tausend Einzelheiten, welche fuer den Kenner eben so viel Wahrzeichen sind. Dabei hatte er, der von dem Schneetreiben abgehaertet war, wie der Stahl in den Wassern von Damascus, wirklich eine Gesundheit von Eisen, und doch, wie der General Kissoff ganz richtig gesagt hatte, dabei ein Herz von Gold. Eine einzige Leidenschaft besass Michael Strogoff, die Liebe zu seiner alten Mutter Marfa, welche nicht zu bewegen gewesen war, das alte Haus der Strogoff's in Omsk, an der Grenze von Irtysch, zu verlassen, in dem sie so lange Zeit mit dem alten Jaeger vereint gelebt hatte. Als der Sohn sie verliess, geschah es, um seinem Triebe nach einem groesseren Wirkungskreise zu genuegen; aber er versprach ihr dabei, stets zeitweilig zu ihr zurueckzukehren, sobald die Umstaende es erlaubten - ein Versprechen, das mit religioeser Strenge eingehalten wurde. Es war beschlossen worden, dass Michael Strogoff mit seinem zwanzigsten Jahre in den persoenlichen Dienst des Kaisers von Russland eintreten sollte, und zwar in das Corps der Couriere des Czaaren. Der kuehne, intelligente, eifrige und sich wacker auffuehrende junge Sibirier fand die erste Gelegenheit, sich auszuzeichnen, bei einer Sendung nach dem Kaukasus, mitten durch das von einigen unruhigen Nachfolgern Schamyl's aufgewuehlte Land; spaeter bei einer wichtigen Mission, welche ihn bis Petropolawsk in Kamtschatka, nach den aeussersten Grenzen des asiatischen Russland, fuehrte. Waehrend dieser so weiten Reisen legte er wiederholte Proben seiner ausgezeichneten Eigenschaften, seiner Kaltbluetigkeit, Klugheit und seines Muthes ab, welche ihm die Anerkennung und das Wohlwollen seiner Vorgesetzten erwarben und seine Carriere beschleunigten. Den ihm nach so muehseligen Expeditionen mit Recht zukommenden Urlaub versaeumte er nie seiner alten Mutter zu widmen - und wenn er auch Tausende von Wersten entfernt war von ihr, und der Winter alle Wege fast ungangbar machte. Jetzt hatte Michael Strogoff, der im Sueden des Reichs vielfach beschaeftigt wurde, die alte Marfa zum ersten Male seit drei Jahren, fuer ihn drei Jahrhunderte - nicht gesehen! In wenig Tagen sollte er seinen reglementsmaessigen Urlaub antreten und hatte auch schon alle Vorbereitungen zur Reise nach Omsk getroffen, als die uns schon bekannten Ereignisse eintraten. Michael Strogoff wurde vor den Czaaren gefuehrt, in vollstaendiger Unkenntniss dessen, was derselbe von ihm verlangen wuerde. Einige Augenblicke betrachtete ihn der Czaar, ohne ein Wort zu reden, mit durchdringendem Blicke, waehrend Michael Strogoff unbeweglich stehen blieb. Dann wendete sich der Czaar, offenbar befriedigt von dieser Vorpruefung, nach seinem Schreibtische, machte dem Chef der Polizei ein Zeichen, sich dahin zu setzen, und dictirte ihm mit leiser Stimme einen Brief von wenig Zeilen. Nach Vollendung des Schreibens durchlas es der Kaiser noch einmal mit groesster Aufmerksamkeit und unterzeichnete es, nachdem er seinem Namen noch die Worte: "_Byt po semu_", welche "So geschehe es" bedeuten und eine gewoehnliche Bestaetigungsformel der russischen Kaiser ausmachen, vorgesetzt hatte. Der Brief ward dann in ein Couvert gesteckt und mit einem Siegel mit dem kaiserlichen Wappen verschlossen. Der Czaar erhob das Schriftstueck und winkte Michael Strogoff, sich zu naehern. Dieser that dann einige Schritte vorwaerts und blieb wieder unbeweglich vor seinem Kaiser stehen. Noch einmal sah der Czaar ihn durchdringend, Auge in Auge, in's Gesicht. Dann begann er: "Dein Name? -- Michael Strogoff, Sire. -- Deine Stellung? -- Kapitaen bei den Courieren des Czaaren. -- Du kennst Sibirien? -- Ich stamme daher. -- Du bist geboren? -- In Omsk. -- Hast Du Verwandte in Omsk? -- Meine alte Mutter." Der Czaar unterbrach einen Augenblick die Reihe seiner Anfragen. Dann fuhr er fort, indem er dem Courier den Brief zeigte, den er in der Hand hielt: "Hier ist ein Brief, den ich Dich, Michael Strogoff, beauftrage, dem Grossfuersten eigenhaendig, keinem, keinem Anderen! - zu ueberliefern. -- Ich werde ihn besorgen, Sire. -- Der Grossfuerst befindet sich in Irkutsk. -- Ich werde nach Irkutsk gehen. -- Es handelt sich hier aber darum, ein von Rebellen unsicher gemachtes, von den Tartaren ueberfallenes Land zu durchreisen, in welchem jene Meuterer ein Interesse haben koennten, diesen Brief aufzufangen. -- Ich werde hindurch kommen. -- Und wirst Dich vor Allem vor einem Verraether, Iwan Ogareff, zu hueten haben, dem Du auf dem Wege vielleicht begegnen koenntest. -- Ich werde ihm auszuweichen wissen. -- Kommst Du ueber Omsk? -- Mein Weg fuehrt mich dahin. -- Wenn Du Deine Mutter sehen wolltest, wuerdest Du Gefahr laufen, erkannt zu werden. Du darfst Deine Mutter nicht besuchen!" Michael Strogoff zoegerte einen Augenblick mit seiner Antwort. "Ich werde sie nicht sehen, sagte er. -- Schwoere mir, dass nichts Dich vermoegen wird, Dir zu entlocken, wer Du bist und wohin Du gehst. -- Ich schwoere es. -- Michael Strogoff, fuhr der Czaar fort, indem er dem jungen Courier das Schreiben einhaendigte, so nimm diesen Brief, von dem das Heil Sibiriens und vielleicht das Leben meines Bruders, des Grossfuersten, abhaengt. -- Dieser Brief wird in die Hand Sr. Hoheit des Grossfuersten gelangen. -- Du wirst also auf jeden Fall durchzudringen suchen? -- Ich dringe hindurch ueberall, bis man mich toedtet. -- Ich bedarf aber Deines Lebens. -- Ich werde auch lebend durch Sibirien kommen", antwortete Michael Strogoff. Der Czaar schien mit der einfachen und ruhigen Sicherheit der Antworten Michael Strogoff's wohl zufrieden. "So geh' also, Michael Strogoff, sagte er, geh' mit Gott fuer Russland, fuer meinen Bruder und fuer mich!" Michael Strogoff gruesste militaerisch, verliess sofort das Cabinet des Kaisers und wenige Minuten spaeter das Neue Palais. "Ich glaube, Du hast eine glueckliche Hand gehabt, General, sagte der Czaar. -- Ich glaube es, Sire, antwortete General Kissoff, und Ew. Majestaet koennen versichert sein, dass Michael Strogoff alles thun wird, was ein Mann zu leisten vermag. -- In der That, das schien ein ganzer Mann zu sein!" bemerkte der Czaar. Viertes Capitel. Von Moskau nach Nishny-Nowgorod. Die Entfernung, welche Michael Strogoff von Moskau nach Irkutsk zurueckzulegen hatte, betrug 5200 Werst (= 5523 Kilom.). Als noch kein Telegraphendraht den Zwischenraum zwischen den Bergen des Ural und der Ostkueste Sibiriens ueberspannte, wurde der Depeschendienst durch Couriere versehen, deren schnellster mindestens achtzehn Tage bedurfte, um sich von Moskau nach Irkutsk zu begeben. Das war aber nur eine Ausnahme und dauerte die Reise durch das asiatische Russland gewoehnlich vier bis fuenf Wochen, obwohl alle Befoerderungsmittel den Abgesandten des Czaaren zur Verfuegung gestellt wurden. Als ein Mann, der weder Frost noch Schnee fuerchtete, haette es Michael Strogoff vorgezogen, waehrend der rauhen Winterszeit zu reisen, welche es erlaubt, die ganze Strecke zu Schlitten zurueckzulegen. Dann sind alle Schwierigkeiten, mit denen man sonst des Fortkommens wegen zu kaempfen hat, bei der Nivellirung der endlosen Steppen durch den Schnee, merklich vermindert. Kein Wasserlauf tritt hindernd in den Weg. Ueberall die glatte Eisflaeche, auf welcher der Schlitten leicht und schnell dahin gleitet. Zwar sind zu dieser Zeit gelegentlich wohl verschiedene Naturerscheinungen zu fuerchten, wie andauernde, dicke Nebel, sehr strenge Kaelte, lange andauerndes, furchtbares Schneetreiben, dessen Wirbel manchmal ganze Karawanen verwehen und begraben. Es kommt wohl auch vor, dass von Hunger gequaelte Woelfe die Ebenen zu Tausenden bedecken. Doch immer waere es noch besser gewesen, sich diesen Gefahren auszusetzen, denn bei solch' hartem Winter mussten die tartarischen Eindringlinge sich vorzugsweise in den Staedten aufhalten, ihre Marodeure haetten die Steppen nicht unsicher gemacht, jede Truppenbewegung waere unausfuehrbar gewesen und Michael Strogoff leichter hindurch gekommen. Indess er konnte weder Zeit noch Stunde selbst waehlen. Wie auch die Umstaende lagen, er musste sie hinnehmen und abreisen. Derart war also die Lage, welche Michael Strogoff klar ueberschaute, und er richtete sich darauf ein, sich mit ihr abzufinden. Dazu kamen ihm nicht die gewoehnlichen Verhaeltnisse eines Couriers des Czaaren zu Statten. Im Gegentheil durfte Niemand waehrend seiner Fahrt diese Eigenschaft vermuthen. In einem von Feinden ueberschwemmten Lande wimmelt es auch von Spionen. Ward er erkannt, so war auch seine Mission compromittirt. Auch als General Kissoff ihm eine bedeutende Summe einhaendigte, welche zur Reise hinreichen und dieselbe nach Moeglichkeit erleichtern musste, gab er ihm keinerlei schriftliche Ordre mit der Bezeichnung: "Specialdienst des Kaisers", das Sesam, dessen Kraefte nie versagen. Er begnuegte sich, ihm nur einen "Podaroshna" auszustellen. Dieser Podaroshna lautete auf den Namen eines Kaufmanns, Nicolaus Korpanoff, wohnhaft in Irkutsk. Er berechtigte denselben, sich gegebenen Falles von einer oder mehreren Personen begleiten zu lassen, und daneben enthielt er die ausdrueckliche Bemerkung, dass er selbst dann giltig sei, wenn das Gouvernement von Moskau auch jedem Anderen den Austritt aus Russland verbieten sollte. Der Podaroshna war nichts Anderes, als ein Erlaubnissschein, Postpferde zu requiriren; Michael Strogoff aber sollte davon nur Gebrauch machen in dem Falle, wenn dieser Schein keinen Verdacht bezueglich seiner Eigenschaft hervorrufen konnte, d. h. so lange er sich auf europaeischem Boden befand. Hieraus folgte, dass er in Sibirien, wenn er die aufstaendischen Provinzen durchreiste, sich nicht als Gebieter den Postrelais gegenueber benehmen, noch sich vor Anderen Pferde verschaffen, noch endlich Transportmittel fuer seine eigene Person requiriren konnte. Michael Strogoff durfte das nicht vergessen; er war nicht mehr ein Courier, sondern ein einfacher Kaufmann, Nicolaus Korpanoff, der sich von Moskau nach Irkutsk begab, und als solcher allen Zufaelligkeiten einer gewoehnlichen Reise unterworfen. Unbemerkt hindurch zu kommen - ob mehr oder weniger schnell, - aber jedenfalls hindurch zu kommen, darin lag seine Aufgabe. Vor dreissig Jahren bestand die Escorte eines Reisenden von Stand aus nicht weniger als zweihundert berittenen Kosaken, zweihundert Mann Fussvolk, fuenfundzwanzig Baskiren zu Pferde, dreihundert Kameelen, vierhundert Pferden, fuenfundzwanzig Wagen, zwei tragbaren Booten und zwei Stueck Kanonen. Das war das noethige Material bei einer Reise durch Sibirien. Michael Strogoff freilich sollte weder Reiter, noch Fusssoldaten oder Saumthiere haben. Er reiste zu Wagen, zu Pferde, wenn das moeglich war; zu Fuss, wenn es nicht anders anging. Die ersten 1400 Werst (= 1493 Kilom.), die Strecke zwischen Moskau und der Grenze Russlands, konnten keine besonderen Schwierigkeiten bieten. Eisenbahnen, Postwagen, Pferde zum Wechseln an verschiedenen Stationen, Dampfschiffe - standen hier Jedermann zur Verfuegung und waren folglich auch dem Courier des Czaaren zur Hand. Am Morgen des 16. Juli begab sich Michael Strogoff ohne jede Uniform, aber mit einem Reisesack, den er auf dem Ruecken trug, bekleidet mit einem gewoehnlichen russischen Anzug, einem an der Taille geschlossenen Oberrock, dem herkoemmlichen Mujik (Guertel), weiten Beinkleidern und an den Knoecheln anschliessenden Stiefeln, nach dem Bahnhofe, um den naechsten Zug zu benutzen. Er fuehrte, wenigstens dem Anscheine nach, keine Waffen bei sich, unter dem Guertel aber stak ein Revolver und in seiner Tasche einer jener langen Dolche, welche das Mittel zwischen dem Messer und dem Yatagan bilden und mit dem ein sibirischer Jaeger einen Baeren sauber auszuweiden im Stande ist, ohne dessen kostbares Fell zu beschaedigen. Auf dem Bahnhofe in Moskau war ein ansehnliches Menschengedraenge. Die Perrons der russischen Eisenbahnen bilden haeufig gewissermassen Versammlungsoerter ebensowohl fuer Diejenigen, welche abreisen, als fuer Solche, welche der Abfahrt nur zusehen. Dort ist fast eine kleine Boerse fuer Neuigkeiten. Der Zug, den Michael Strogoff benutzte, sollte ihn nach Nishny-Nowgorod fuehren. Dort war jener Zeit das Ende des Schienenweges, der Moskau mit St. Petersburg verbindet und bis zur Grenze Russlands fortgefuehrt werden soll. Die Strecke bis dahin mass etwa 400 Werst (= 426 Kilom.), welche der Zug in ungefaehr zehn Stunden zuruecklegen musste. In Nishny-Nowgorod angelangt, wollte Michael Strogoff je nach den Umstaenden entweder zu Lande weiter reisen oder die Wolgadampfboote benutzen, um die Berge des Ural so schnell als moeglich zu erreichen. Michael Strogoff machte es sich in seiner Ecke so bequem, wie ein braver Buerger, den seine Geschaefte nicht uebermaessig beunruhigen und der sich die Zeit durch Schlafen zu vertreiben sucht. Da er in dem Coupe aber nicht allein war, schlief er auch nur mit einem Auge, hoerte aber dabei mit beiden Ohren. Der Aufstand der Kirghisenhorden und der Einfall der Tartaren machte doch schon einigermassen von sich reden. Die Leute, mit denen der Zufall ihn zusammenwuerfelte, plauderten ebenfalls davon, doch immer noch mit einer gewissen Zurueckhaltung. Diese Reisenden waren ebenso, wie die meisten Insassen des Zuges, Kaufleute, die sich zur grossen Messe nach Nishny-Nowgorod begaben, eine erklaerlicher Weise sehr gemischte Gesellschaft, welche aus Juden, Tuerken, Kosaken, Russen, Georgiern, Kalmuecken und Anderen bestand, die sich indessen Alle der Nationalsprache bedienten. Man besprach das Fuer und Wider der ernsthaften Ereignisse, welche sich eben jenseit des Ural abspielten; auch schienen diese Kaufleute zu fuerchten, dass die russische Regierung sich veranlasst sehen koennte, einige beschraenkende Massregeln, mindestens in den Nachbarprovinzen der asiatischen Grenze, zu ergreifen, - Massregeln, unter denen der Handel ohne Zweifel leiden musste. Diese unverbesserlichen Egoisten betrachteten den Krieg, d. h. die Unterdrueckung der Rebellion und die Abwehr jenes Einfalls, nur von dem einen Standpunkte ihrer bedrohten Interessen. Die Anwesenheit eines einfachen Soldaten in Uniform - man weiss ja, wie gross der Einfluss der Uniform gerade in Russland ist, - haette gewiss hingereicht, die Zungen dieser Handelsleute zu zuegeln. In dem von Michael Strogoff benutzten Coupe liess nichts die Gegenwart einer Militaerperson vermuthen, und der Courier des Czaaren, der sein Incognito bewahren musste, huetete sich wohl, seinen wahren Charakter zu verrathen. Er horchte gespannt. "Man spricht von einer Preissteigerung des Karawanenthees, sagte ein Perser, den man an seiner mit Astrachan besetzten Muetze und dem abgetragenen braunen und weitfaltigen Rocke erkannte. -- O, der Thee hat auch keine Baisse zu fuerchten, erwiderte ein alter Jude mit verschmitzten Zuegen. Was davon in Nishny-Nowgorod am Markte ist, wird nach Westen hin willigen Absatz finden; leider steht es mit den Teppichen aus Bukhara aber anders. -- Wie? Sie erwarten eine Sendung aus Bukhara? fragte ihn der Perser. -- Das zwar nicht, wohl aber aus Samarkand, und Waarensendungen von dorther sind eher noch mehr gefaehrdet. Verlassen Sie sich einmal auf Zufuhren aus einem Lande, das durch die Khans von Khiva bis zur chinesischen Grenze in helle Empoerung gebracht ist. -- Gut! meinte der Perser, wenn die Teppiche nicht ankommen, so ist das von den Verraethern noch weniger zu erwarten, denke ich. -- Und der Profit? heiliger Gott Israels, rief der Jude, rechnen Sie den fuer nichts? -- Sie haben Recht, mischte sich ein anderer Reisender in das Gespraech, asiatische Artikel werden am Platze empfindlich fehlen; die Teppiche aus Samarkand ebenso, wie die Wollenwaaren, die Seifen, Oele und die Shawls aus dem Morgenlande. -- Ei, nehmen Sie sich in Acht, Vaeterchen, antwortete ein russischer Reisender mit spoettelnder Miene, Sie werden sich furchtbare Fettflecke in ihre Shawls bringen, wenn Sie sie mit den Seifen und Oelen zusammenpacken! -- Das kommt Ihnen wohl sehr komisch vor! versetzte etwas spitzig der Kaufmann, der solche Scherze nicht besonders liebte. -- Nun, und wenn man sich die Haare ausraufen und Asche auf's Haupt streuen wollte, fuhr jener Reisende fort, wuerde das den Lauf der Dinge aendern? Nein! Um keinen Deut mehr als den Transport der Messgueter. -- Man erkennt es, dass Sie kein Kaufmann sind, bemerkte der kleine Jude. -- Meiner Treu, nein, wuerdiger Nachkomme Abraham's! Ich verkaufe weder Hopfen noch Theer, Honig oder Wachs, weder Hanfsamen noch Poekelfleisch, Caviar, Holz, Wolle, Baender, nicht Hanf oder Leinen, keine Maroquins oder Pelzwaaren!... -- Aber kaufen Sie vielleicht davon? fragte der Perser, den Redestrom des Reisenden unterbrechend. -- So wenig als moeglich und nur fuer meinen Privatbedarf, antwortete jener mit den Augen zwinkernd. -- Das ist ein Spassvogel, raunte der Jude dem Perser zu. -- Oder ein Spion! erwiderte dieser mit gedaempfter Stimme. Hueten wir uns und sprechen nicht mehr als noethig. Die Polizei ist bei jetzigen Zeiten nicht sehr zart, und man weiss nie, mit wem man zusammen sitzt." In einer andern Ecke der Wagenabtheilung sprach man etwas weniger ueber Handelsgeschaefte, aber etwas mehr von dem Einfalle der Tartaren und dessen moeglichen Folgen. "Man wird in Sibirien die Pferde requiriren, aeusserte sich ein Reisender, und die Communicationen zwischen den verschiedenen Provinzen Centralasiens werden sehr erschwert sein! -- Bestaetigt es sich, fragte sein Nachbar, dass die Kirghisen der Mittleren Horde mit den Tartaren gemeinschaftliche Sache gemacht haben? -- Man sagt es, antwortete der Reisende halblaut, wer kann sich aber in diesem Lande ruehmen, etwas Bestimmtes zu wissen! -- Ich hoerte schon von Truppenzusammenziehungen an der Grenze sprechen. Die Donischen Kosaken sollen bereits laengs der Wolga versammelt sein und man will sie den aufruehrerischen Kirghisen entgegen werfen. -- Wenn die Kirghisen dem Ufer des Irtysch gefolgt sind, wird auch die Strasse nach Irkutsk unsicher sein, bemerkte der Nachbar. Uebrigens wollte ich gestern ein Telegramm nach Krasnojarsk senden, das hat aber nicht bis dahin gelangen koennen. Es steht zu befuerchten, dass die Tartarenhaufen binnen Kurzem das ganze oestliche Sibirien isolirt haben werden! -- In Summa, Vaeterchen, sprach sich der erste Frager aus, diese Handelsleute da haben alle Ursache, wegen ihrer Geschaeftsabwickelung besorgt zu sein. Nach Requisition der Pferde werden die Schiffe an die Reihe kommen, dann die Wagen und ueberhaupt alle Transportmittel, bis es endlich nicht mehr erlaubt sein wird, im ganzen Reiche einen Fuss zu bewegen. -- Ich fuerchte sehr, in Nishny-Nowgorod werde die Messe nicht so brillant enden, wie sie begonnen hat, antwortete der Zweite kopfschuettelnd. Aber die Sicherheit und Integritaet des russischen Gebietes geht ueber Alles! Geschaefte sind eben doch nur Geschaefte!" Wenn in diesem Coupe der Gegenstand der Unterhaltung nicht sehr wechselte, so war das auch nicht mehr der Fall in den anderen Wagen des Zuges; ein strenger Beobachter wuerde aber in allen Reden der Reisenden unschwer eine ungemeine Zurueckhaltung entdeckt haben. Wagten diese sich einmal auf das Gebiet der Thatsachen, so gingen sie niemals so weit, weder die Absichten der moskowitischen Regierung vorauszusehen, noch deren Massnahmen zu kritisiren. Dieselbe Beobachtung machte auch ein Reisender in einem der vorderen Wagen des Zuges. Dieser - offenbar ein Auslaender, - hatte seine Augen ueberall und warf zwanzigerlei Fragen auf, welche nur ausweichende Beantwortung fanden. Fortwaehrend betrachtete er dabei auch durch das Wagenfenster, dessen Scheibe er stets zum grossen Unbehagen seiner Reisegefaehrten niedergelassen hielt, die Gegend bis zum fernen Horizont. Er erkundigte sich nach den Namen der unbedeutendsten Ortschaften, ihrer Lage, ihren Handelsbeziehungen und Gewerbsverhaeltnissen, nach den Einwohnerzahlen, der mittleren Sterblichkeit beider Geschlechter u. s. w., und Alles, was er erfahren konnte, schrieb er in ein mit Bemerkungen ueberladenes Notizbuch. Unsere Leser erkannten in ihm wohl schon den Correspondenten Alcide Jolivet, der so viele Fragen in der Hoffnung stellte, unter den Antworten doch dann und wann etwas Interessantes "fuer seine Cousine" zu erhaschen. Natuerlich sah man ihn deshalb fuer einen Spion an und sprach vor ihm keine Sylbe bezueglich der Tagesereignisse. Als er sich ueberzeugt, dass er ueber den Tartareneinfall hier nichts zu erfahren vermoege, schrieb er in das Notizbuch: "Die Reisenden absolut discret. Schiessen ueber Politik nur sehr schwer los." Waehrend aber Alcide Jolivet seine Reiseeindruecke mit peinlicher Gewissenhaftigkeit schriftlich fixirte, lag sein College, der in demselben Zuge sass und in derselben Absicht reiste, in einem andern Coupe ganz der naemlichen Beschaeftigung ob. Beide waren sich am Morgen im Bahnhofe zu Moskau nicht begegnet, und Keiner wusste von des Andern Aufbruche nach dem voraussichtlichen Kriegsschauplatze, um den Ereignissen naeher zu stehen. Dabei hatte nur der allzeit schweigsame Harry Blount bei seinen Reisegefaehrten nicht denselben Verdacht erweckt, wie Alcide Jolivet. Ihn hatte man nicht fuer einen Spion gehalten, und seine Nachbarn plauderten vor ihm ohne jede Zurueckhaltung, wobei sie sich sogar weiter gehen liessen, als man es von ihrer anerzogenen Zaghaftigkeit erwartet haette. Der Correspondent des Daily-Telegraph konnte also beobachten, wie sehr die Ereignisse des Tages alle nach Nishny-Nowgorod ziehenden Kaufleute beruehrten und wie stark der Handel mit Central-Asien dadurch bedroht sei. Er zoegerte also nicht, seinem Notizbuch die ganz gerechtfertigte Bemerkung einzuverleiben: "Die Reisenden sehr beunruhigt. Der Krieg steht in Aussicht und man behandelt dieses Thema mit einer Freimuethigkeit, welche zwischen Weichsel und Wolga erstaunlich zu nennen ist." Die Leser des Daily-Telegraph mussten demnach ebenso gut unterrichtet werden, wie "die Cousine" Alcide Jolivet's. Weiter, da Harry Blount an der linken Seite des Zuges sass, hatte er nur den einen Theil der hier ziemlich huegeligen Landschaft ueberblicken koennen, ohne dass er es der Muehe werth erachtete, sein Auge einmal nach der rechten Seite, welche vollkommen eben war, zu wenden, und somit fuegte er seiner Notiz kurz und buendig hinzu: "Zwischen Moskau und Wladimir Bergland." Inzwischen lag es auf der Hand, dass die russische Regierung angesichts der ernsten Verwickelungen selbst im Innern des Reiches einige strenge Massregeln nehmen werde. Die Empoerung griff zwar noch nicht ueber die Grenze Sibiriens hinueber, doch in den dem Lande der Kirghisen so nahe liegenden Wolgaprovinzen durfte man sich leicht eines uebeln Einflusses jener Ereignisse versehen. Noch hatte die Polizei Iwan Ogareff's Spuren nicht wieder zu finden vermocht. Ob dieser Verraether, der die Fremden aufhetzte, um seine persoenliche Rache zu befriedigen, sich wieder mit Feofar-Khan verbunden habe, oder im Gouvernement Nishny-Nowgorod heimlich die Empoerung schuere, wo sich zu dieser Jahreszeit eine aus so bunten Elementen zusammen gewuerfelte Bevoelkerung tummelte, - kein Mensch wusste es. Hatte er vielleicht unter diesen bei der Messe so zahlreich vertretenen Persern, Armeniern und Kalmuecken Vertraute, welche die Bewegung im Innern des Reiches in Fluss bringen sollten? Alle diese Hypothesen waren, vorzueglich in einem Lande wie das Reich des Herrschers aller Reussen, nicht zurueck zu weisen. In der That kann dieses ungeheure Laendergebiet von zwoelf Millionen Quadratkilometern die Homogenitaet der westlichen Staaten Europas ueberhaupt nicht besitzen. Zwischen den verschiedenen Voelkerschaften desselben herrschen mehr tiefere Unterschiede, als oberflaechliche Nuancen. In Europa, Asien und Amerika (unsere Erzaehlung spielt in der Zeit, da das russische Amerika noch nicht an die Vereinigten Staaten abgetreten war) erstreckt sich sein Gebiet vom 35. Grade oestl. Laenge (von Ferro) bis zum 110. Grade westlicher Laenge und vom 38. bis zum 81. Grade noerdl. Breite. Es zaehlt nicht weniger als siebenzig Millionen Einwohner, welche dreissig verschiedene Sprachen sprechen. Die herrschende Race ist zwar die der Slaven, aber ausser den eigentlichen Russen zaehlen zu dieser auch die Polen, Litthauer und die Kurlaender. Rechne man zu diesen noch die Finnen, Esthen, Lappen, die Tscheremissen, Tschuwaken, Permiaken, die Deutschen, die Griechen, Tartaren, die kaukasischen Staemme, die Mongolenhorden, Kalmuecken, Samojeden, Kamtschadalen und Aleuten, so sieht man leicht ein, wie schwierig es sein muss, die Einheit eines so ungeheuren Reiches aufrecht zu erhalten, und dass diese dereinst nur von der Zeit und der Weisheit der Regierung wirklich geschaffen werden kann. Wie dem auch sei, jedenfalls hatte Iwan Ogareff sich bisher allen Nachforschungen zu entziehen gewusst. Auf jeder Station aber, wo der Zug anhielt, erschienen Inspectoren, welche die Reisenden musterten und Alle scharf in's Auge fassten, denn sie hatten auf Befehl des Grossmeisters der Polizei nach Iwan Ogareff zu fahnden. Die Regierung glaubte zu wissen, dass dieser Verraether das europaeische Russland noch nicht habe verlassen koennen. Erschien ein Reisender verdaechtig, so musste er sich im Polizeibureau ausweisen, waehrend der Zug weiter sauste, ohne sich um solche unfreiwillige Nachzuegler zu bekuemmern. Es ist voellig nutzlos, mit der russischen Polizei bei ihrer bekannten Ruecksichtslosigkeit verhandeln zu wollen. Ihre Beamten stehen in militaerischem Range und handeln als Soldaten. Hierin liegt das Mittel, womit ein Souveraen sich unbedingten Gehorsam erzwingt, der das Recht hat, an die Spitze seiner Ukase zu setzen: "Wir, von Gottes Gnaden Kaiser und Selbstherrscher aller Reussen, von Moskau, Kiew, Wladimir und Nowgorod, Czaar von Kasan, Astrachan, Polen, Sibirien und des Taurischen Chersones, Fuerst von Skof, Grossherzog von Smolensk, Litthauen, Wolhinien, Podolien und Finnland, Herzog von Esthland, Liefland, Kurland und Samland, von Bialystock, Karelien, Jugrien, Perm, Viatka, Bulgarien und von anderen Laendern, Herrscher und Grossfuerst der Territorien von Nishny-Nowgorod, Tschernikow, Riatsan, Polotzk, Restow, Jeroslaw, Bielozersk, Udorien, Obdorien, Kondinien, Witepsk und Mtislaw, Machthaber ueber die hyperboraeischen Lande, Herr der Lande von Iberien, der Kartalinie, Gruzinien, Kabardinien, Armenien, Erbherr und Souveraen der Tscherkessenfuersten der Berge und der Ebenen, Erbe von Norwegen, Schleswig-Holstein, Stormarn, Dithmarschen und Oldenburg." In der That ein maechtiger Herrscher, dessen Wappen, ein zweikoepfiger Adler mit Scepter und Erdkugel in den Klauen, umgeben ist von den Wappenschildern von Nowgorod, Wladimir, Kiew, Kasan, Astrachan und Sibirien, und umrahmt von dem grossen Bande des St. Andreasordens, ueber dem eine Kaiserkrone schwebt! - Michael Strogoff entging auf Grund seiner Papiere allen polizeilichen Scheerereien. Auf der Station Wladimir verweilte der Zug einige Minuten, die dem Reporter des Daily-Telegraph hinreichend erschienen, eine umfassende Skizze dieser alten Hauptstadt Russlands zu entwerfen. Im Bahnhofe zu Wladimir kamen neue Passagiere. Unter Anderen erschien auch ein junges Maedchen an der Thuer von Michael Strogoff's Coupe. Vor dem Couriere des Czaaren war noch ein Platz leer. Das junge Maedchen nahm diesen ein, nachdem sie eine bescheidene, rothlederne Reisetasche, scheinbar ihr ganzes Gepaeck, neben sich gestellt hatte. Dann setzte sie sich mit niedergeschlagenen Augen und ohne ihren zufaelligen Reisegefaehrten auch nur einmal angesehen zu haben, fuer eine mehrstuendige Fahrt zurecht. Michael Strogoff konnte sich nicht enthalten, seine neue Nachbarin theilnehmend zu betrachten. Da sie einen Ruecksitz einnahm, bot er ihr seinen Platz an, wenn sie diesen vorzoege, aber sie lehnte das mit einer leichten Verbeugung dankend ab. Das junge Maedchen mochte sechzehn bis siebenzehn Jahre zaehlen. Ihr wirklich huebscher Kopf verrieth den rein slavischen Typus, - einen etwas strengen Typus, nach welchem sie einst mehr schoen als huebsch werden musste, wenn einige Jahre die Zuege ihres Gesichtes weiter befestigt haben wuerden. Aus einer Art Fanchon quoll ihr eine Fuelle goldblonden Haares. Ihre braunen Augen erstrahlten von einem ungemein sanften Blicke. Die gerade Nase verband mit beweglichen Fluegeln ihre etwas schmalen und blassen Wangen. Ihr sehr fein geschnittener Mund schien seit laengerer Zeit alles Laecheln verlernt zu haben. Die junge Reisende war, so weit man das vor dem faltigen Pelze, den sie trug, erkennen konnte, gross und schlank. Obwohl sie noch im vollen Sinne des Wortes als "ein sehr junges, unschuldiges Kind" erschien, so war doch ihre Stirn gut entwickelt und die bestimmte Form der unteren Partien des Gesichtes liess auf eine ungewoehnliche Energie schliessen, - Einzelheiten, welche Michael Strogoff nicht entgingen. Offenbar hatte das junge Maedchen frueher schon manches gelitten und auch die Zukunft schien ihr nicht in rosigem Lichte zu winken; aber ebenso sicher hatte sie gegen die Widerwaertigkeiten des Lebens sowohl anzukaempfen gewusst, als sie die Entschlossenheit besass, es auch in Zukunft zu thun. Ihre Willenskraft schien ebenso lebhaft als ausdauernd zu sein, ihre Ruhe unerschuetterlich, vielleicht selbst unter Umstaenden, welche einen Mann in Verlegenheit gebracht haetten. Diesen Eindruck erweckte das junge Maedchen auf den ersten Blick. Michael Strogoff, selbst ein energischer Charakter, musste sich von einer solchen Erscheinung getroffen fuehlen und beobachtete, bei aller Vorsicht, sie dadurch nicht zu belaestigen, seine Nachbarin doch mit einer gewissen Aufmerksamkeit. Die Kleidung der jungen Reisenden zeichnete sich durch die groesste Einfachheit und Sauberkeit aus. Von reichem Herkommen konnte sie offenbar nicht sein; aber man haette vergeblich nach einer Spur von Nachlaessigkeit an ihr gesucht. Ihr ganzes Gepaeck barg jene rothe Tasche, die sie aus Mangel an Platz auf den Knieen hielt. Sie trug einen langen, aermellosen Pelz von dunkelbrauner Farbe, der sich mit einem blauen Saume anmuthig um ihren Hals schloss. Unter demselben bedeckte eine ebenfalls dunkelfarbige Tunica das bis zum Fussgelenk reichende Kleid, dessen unterer Saum wiederum mit wenig auffaelliger Stickerei geziert war. Lederne Halbstiefel mit starken Sohlen, so als waeren sie fuer eine lange Reise bestimmt, schuetzten die kleinen Fuesschen. Michael Strogoff glaubte an manchen Details dieses Costuems die Tracht der Lieflaenderinnen zu erkennen und setzte also voraus, dass seine Nachbarin in den baltischen Provinzen zu Hause sei. Doch wohin ging dieses Kind, allein, in diesem Alter ohne Unterstuetzung des Vaters oder der Mutter, ohne den Schutz eines Bruders? Kam sie wirklich schon nach Zuruecklegung einer laengeren Reise aus den westlichen Provinzen des Reiches? Begab sie sich nur nach Nishny-Nowgorod oder lag ihr Ziel noch ueber den oestlichen Grenzen? Erwartete sie ein Anverwandter, ein Freund bei Ankunft des Zuges? War es nicht vielmehr wahrscheinlich, dass sie sich nach Verlassen des Waggons in der Stadt ebenso vereinsamt befinden werde, wie in diesem Coupe, wo sich, ihrer Ansicht nach, keine Seele um sie kuemmerte? Das Auftreten, welches man sich in der Vereinsamung anzugewoehnen pflegt, zeigte sich zu deutlich in dem Wesen der jungen Reisenden. Die Art und Weise, wie sie in das Coupe einstieg und sich fuer die Fahrt einrichtete, das Vermeiden jeder Belaestigung Anderer, welches an eine gewisse Schuechternheit grenzte, Alles zeigte ihre Gewohnheit, allein zu sein und nur auf sich selbst zu rechnen. Michael Strogoff beobachtete sie mit zurueckhaltendem Interesse und suchte nicht einmal ein Gespraech anzuknuepfen, wiewohl die Fahrt bis Nishny-Nowgorod noch mehrere Stunden dauerte. Nur einmal, als der Nachbar des jungen Maedchens, - jener Kaufmann, welcher so unvorsichtig Oele und Shawls durch einander warf, - im Einschlafen seine Nachbarin mit dem grossen, auf den Schultern hin und her taumelnden Kopfe zu belaestigen drohte, weckte er diesen etwas barsch auf und gab ihm zu verstehen, dass er gerade sitzen und sich etwas ruecksichtsvoller betragen solle. Der Kaufmann, von etwas grobem Schrot und Korn, knurrte einige Worte "von Leuten, die sich in Sachen mischen, welche ihnen nichts angehen"; Michael Strogoff warf ihm aber einen so viel versprechenden Blick zu, dass der Schlaftrunkene sich nach der andern Seite neigte und die junge Reisende von seiner unliebsamen Nachbarschaft befreite. Diese richtete das Auge einen Moment auf den jungen Mann mit einem Blicke, der ihm einen stummen, bescheidenen Dank ausdrueckte. Es sollte aber noch ein Umstand eintreten, der Michael Strogoff den Charakter des jungen Maedchens noch klarer erkennen liess. Etwa zwoelf Werst vor Nishny-Nowgorod erhielt der Zug bei einer sehr kurzen Curve des Geleises einen sehr heftigen Stoss. Dann lief er noch eine Minute neben der Boeschung eines Dammes hin. Ein tuechtiges Schuetteln der Passagiere, Geschrei, Verwirrung, allgemeine Unordnung in den Waggons bezeichneten die ersten Folgen des Unfalls. Man konnte wohl noch ein schweres Unglueck befuerchten. Noch bevor der Zug zum Stehen kam, sprangen schon die Waggonthueren auf, die entsetzten Reisenden suchten ihr Heil in der Flucht und stuerzten aus den Coupes. Michael Strogoff dachte zunaechst an seine Nachbarin; doch waehrend die uebrigen Insassen sich schreiend und stossend hinaus draengten, hielt das junge Maedchen, deren Gesicht kaum etwas blaesser geworden war, ruhig auf ihrem Platze aus. Sie wartete. Michael Strogoff ebenfalls. Sie hatte gar keinen Versuch gemacht, den Waggon zu verlassen. Kein Laut kam ueber ihre Lippen. Beide blieben ganz ruhig. "Eine energische Natur!" dachte Michael Strogoff. Inzwischen war jede Gefahr vorueber. Ein Radreifensprung am Gepaeckwagen hatte erst den Stoss und dann das Anhalten des Zuges veranlasst, doch haette nicht viel gefehlt, dass er in Folge einer Entgleisung von dem hohen Damme in die Tiefe gestuerzt waere. Es entstand eine Stunde Aufenthalt. Endlich, nach Freilegung der Fahrbahn, setzte der Train seinen Weg fort und gelangte um halb neun Uhr Abends nach Nishny-Nowgorod. Bevor Jemand die Waggons verlassen durfte, erschienen wieder die unvermeidlichen Polizisten und inquirirten die Reisenden. Michael Strogoff wies seinen auf den Namen Nicolaus Korpanoff lautenden Podaroshna vor, der ihn genuegend legitimirte. Auch die andern Insassen des Coupes, welche alle nur nach Nishny-Nowgorod gingen, schienen zu ihrem Gluecke unverdaechtig. Das junge Maedchen fuer ihre Person brachte keinen eigentlichen Reisepass hervor, der ja im Innern Russlands jetzt nicht mehr verlangt wird, sondern einen Schein mit besonderem Siegel, welcher ganz specieller Art zu sein schien. Der Beamte las ihn aufmerksam durch. Dann sagte er nach sorgfaeltiger Musterung Derjenigen, deren Signalement der Schein enthielt: "Du bist aus Riga? -- Ja, erwiderte das junge Maedchen. -- Und willst nach Irkutsk? -- Ja. -- Auf welchem Wege? -- Auf der Strasse ueber Perm. -- Gut, antwortete der Inspector. Vergiss in Nishny-Nowgorod nicht, Deinen Schein durch das Polizei-Amt visiren zu lassen." Das junge Maedchen verneigte sich bejahend. Als er diese Fragen und Antworten hoerte, empfand Michael Strogoff gleichzeitig eine gewisse Bewunderung und ein ehrliches Mitleid. Wie! Dieses Kind war auf der Reise nach dem entlegenen Sibirien, und noch dazu jetzt, wo zu den gewoehnlichen Unzutraeglichkeiten noch alle Gefahren eines von Feinden ueberschwemmten, aufruehrerischen Landes hinzutraten! Wie wuerde sie ankommen? - was aus ihr werden?... Nach Schluss der Inspection wurden die Waggonthueren geoeffnet, doch bevor Michael Strogoff auch nur eine Bewegung gegen sie machen konnte, war die junge Lieflaenderin bereits ausgestiegen und unter der Menge, welche die Perrons bedeckte, verschwunden. Fuenftes Capitel. Eine Verordnung mit zwei Artikeln. Nishny-Nowgorod, Unter-Nowgorod, am Zusammenflusse der Wolga und Oka, ist die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements. Hier musste Michael Strogoff den Schienenweg verlassen, der jener Zeit ueber die Stadt noch nicht hinausreichte. Je weiter er vorwaerts kam, desto langsamer und gleichzeitig desto unsicherer wurden die Communicationsmittel. Nishny-Nowgorod, das gewoehnlich nur 30-35,000 Einwohner zaehlt, beherbergte jetzt ueber 300,000 Seelen, d. h. die Kopfzahl hatte sich verzehnfacht. Dieser Zuwachs ruehrte von der weltberuehmten Messe her, welche in seinen Mauern, eigentlich nur drei Wochen lang, abgehalten wurde. Frueher erfreute sich die Stadt Makariew dieses Zusammenflusses so vieler Fremden, seit dem Jahre 1817 aber ward die grosse Messe hierher verlegt. Die sonst ziemlich duestere, einsame Stadt war jetzt der Schauplatz der lebhaftesten Bewegung. Zehn verschiedene Racen europaeischer und asiatischer Kaufleute fraternisirten hier, so lange gegenseitige Handelsgeschaefte im Spiel waren. Trotz der vorgeschrittenen Stunde, zu welcher Michael Strogoff den Bahnhof verliess, regte sich doch in den beiden durch das Bett der Wolga getrennten Stadttheilen Nishny-Nowgorods noch ein ungeheures Leben. Von jenen Theilen ist die obere, auf einem abschuessigen Felsen erbaute Stadt von einer jener Festungsanlagen vertheidigt, die man in Russland ganz allgemein "Kreml" zu nennen pflegt. Waere Michael Strogoff genoethigt gewesen, sich in Nishny-Nowgorod laengere Zeit aufzuhalten, so haette er wohl Muehe haben sollen, ein Hotel oder doch eine halbwegs passende Herberge zu finden, - Alles war ueberfuellt. Da er indess auch nicht unmittelbar weiter reisen, sondern nur den naechstabgehenden Wolgadampfer benutzen konnte, so musste er sich doch wohl oder uebel wenigstens ein Nachtlager suchen. Vorher trieb es ihn indess, sich ueber die Abfahrtszeit des Dampfbootes zu unterrichten; deshalb begab er sich sofort nach den Bureaux der Gesellschaft, deren Schiffe den Dienst zwischen Nishny-Nowgorod und Perm versehen. Dort erfuhr er zu seinem grossen Missvergnuegen, dass der "Kaukasus" - so hiess das reisefertige Schiff - erst zu Mittag am naechsten Tage abgehen werde. Siebenzehn Stunden Aufenthalt! Das war unangenehm fuer einen Mann, der es eilig hatte, und doch musste er sich darein finden. Er that es auch ruhig, da er nicht unnoethig zu aussergewoehnlichen Mitteln greifen wollte. Uebrigens haette ihn unter den gegebenen Umstaenden auch kein Teleg oder Tarantass, keine Berline oder Postchaise und kein Reitpferd schneller nach Perm oder Kasan befoerdert. Immer blieb es das Beste, die Abfahrt des Steamers zu erwarten - jenes Befoerderungsmittels, das ihn schneller als jedes andere vorwaerts schaffen und die hier verlorene Zeit reichlich wieder einbringen musste. Michael Strogoff schlenderte also durch die Stadt und suchte dabei ohne Uebereilung ein Unterkommen, in dem er die Nacht zubringen koennte. Der letztere Zweck lag ihm zwar gar nicht sonderlich am Herzen, und ohne das Gefuehl des Hungers, das sich ihm etwas aufdringlich fuehlbar machte, haette er die Strassen Nishny-Nowgorods wohl auch die ganze Nacht ueber durchirrt. Es geluestete ihn also weit mehr nach einem tuechtigen Abendimbiss, als nach einem Bette. Beides fand er noch unter dem Schilde der "Stadt Konstantinopel". Hier konnte ihm der Wirth noch ein mittelmaessiges Zimmerchen ablassen, das zwar nur ein duerftiges Mobiliar enthielt, dem aber der gebraeuchliche Wandschmuck, ein Bild der Jungfrau Maria und mehrere Heiligenbilder in Goldrahmen, nicht abging. Entenbraten mit einer Farce von saeuerlichem Fleisch und rahmartig dicker Sauce, Gerstenbrod, saure Milch, klarer Zucker mit Zimmet, ein Krug "Kwass", d. i. eine in Russland sehr verbreitete Art Bier, wurde ihm bald aufgetragen, und er brauchte gar nicht so viel, seinen Hunger zu stillen. Jedenfalls ass er sich aber satt, und das auch besser, als sein Tischnachbar, ein orthodoxer "Altglaeubiger" von der Secte der Raskolniks, der bei seinem Geluebde der Enthaltung gewisser Speisen die Kartoffeln von sich wies und sich weislich huetete, seinen Thee zu versuessen. Nach beendigter Mahlzeit nahm Michael Strogoff, statt sich nach seinem Zimmer zu begeben, ganz maschinenmaessig die unterbrochene Promenade durch die Stadt wieder auf. Trotz der noch andauernden langen Daemmerung lichteten sich doch schon die Mengen, die Strassen wurden allmaelig oeder und Jedermann suchte sein Lager. Warum Michael Strogoff sich nicht gemaechlich in's Bett begab, wie man es nach einem auf der Eisenbahn hingebrachten Tage wohl erwarten sollte? Dachte er vielleicht noch an die junge Lieflaenderin, seine Reisegenossin waehrend einiger fluechtiger Stunden? Ja! Da er nichts Besseres zu thun wusste, dachte er wohl an diese. Kam ihm die Befuerchtung an, dass sie in dieser geraeuschvollen Stadt leicht einem Insulte ausgesetzt sein koennte? - Er fuerchtete es, und gewiss mit Recht. Hoffte er etwa, ihr zu begegnen und im Nothfall sich zu ihrem Beschuetzer aufzuwerfen? Nein. Eine Begegnung war nur schwierig zu erwarten. Und was seinen Schutz betraf ... mit welchem Rechte durfte er ihn anbieten? "Allein, sprach er so fuer sich hin, allein inmitten dieser Nomaden! Und doch verschwinden die jetzigen Gefahren noch gegen die, welche die Zukunft birgt. Sibirien! Irkutsk! Das, was ich fuer Russland, fuer den Czaaren wagen will, das unternimmt sie fuer ... Ja, fuer wen? Fuer was ... Sie hat einen Pass zur Ueberschreitung der Grenze! Und das Land ueber derselben ist in Empoerung; Tartarenhorden jagen durch die Steppen!..." Michael Strogoff blieb einen Augenblick, wie ueberlegend, stehen. "Unzweifelhaft, dachte er bei sich, fasste sie den Plan zu dieser Reise vor dem Einfalle. Vielleicht weiss sie nicht einmal, was jetzt vorgeht. Doch nein, die Kaufleute haben ja vor ihr von den Unruhen in Sibirien gesprochen, und sie schien darueber nicht im Mindesten betroffen ... Sie verlangte keine naeheren Erklaerungen ... Aber dann wusste sie davon auch schon vorher ... und trotzdem brach sie auf? Das arme Kind! Der Grund dieser gefahrvollen Reise muss ein sehr zwingender sein! Doch so entschlossen sie auch sein mag - und sie ist es ganz gewiss, - die Kraefte werden ihr unterwegs ausgehen, und sie wird, von etwaigen Gefahren und Hindernissen ganz zu schweigen, die Anstrengungen einer solchen Reise gar nicht zu ertragen im Stande sein!... O, sie wird niemals bis Irkutsk gelangen!" Michael Strogoff ging hierbei immer auf's Gerathewohl weiter. Bei seiner ausreichenden Localkenntniss konnte ihm die Wiederauffindung seiner Herberge ja nicht schwer fallen. Nach einstuendigem Umherwandeln setzte er sich von ungefaehr auf eine Bank an einer Art Holzhuette, die sich inmitten vieler anderer auf einem grossen Platze erhob. Etwa fuenf Minuten mochten verstrichen sein, als sich eine Hand schwer auf seine Schulter legte. "Was treibst Du hier? rief ihn die rauhe Stimme eines hochgewachsenen Mannes an, dessen Annaeherung ihm entgangen war. -- Ich ruhe aus, erwiderte Michael Strogoff. -- Hast wohl die Absicht, die ganze Nacht hier auf der Bank zu bleiben? fragte der Mann. -- Wenn mir das passt, gewiss! versetzte Michael Strogoff in einem etwas bestimmteren Tone, als er seinem Aeussern, d. h. einem einfachen Kaufmanne, entsprach. -- Tritt heran, dass ich Dich erkenne!" Michael Strogoff, der sich noch rechtzeitig erinnerte, dass er auf keinen Fall eine Unklugheit begehen duerfe, wich unwillkuerlich aus. -- "Mich hat Keiner noethig zu erkennen", erwiderte er. Ganz ruhig trat er etwa zehn Schritte von dem Anfragenden zurueck. Bei genauerer Betrachtung ueberzeugte er sich, dass er es mit einer Art Zigeuner zu thun hatte, wie man sie haeufig bei allen Messen und Maerkten trifft, und deren Beruehrung nach keiner Seite hin angenehm ist. Weiter erkannte er auch noch trotz der zunehmenden Dunkelheit einen geraeumigen Wagen, die gewoehnliche Wohnung dieser Zigeuner oder Tsiganen, die sich in Russland ueberall in Massen umhertreiben, wo einige Kopeken zu erhaschen sind. Der Zigeuner war inzwischen einige Schritte vorgetreten und schickte sich eben an, Michael Strogoff weiter auszufragen, als sich die Thuer der Bude oeffnete. Ein Weib, welches kaum zu sehen war, trat rasch heraus und eiferte in einem rohen Dialect, den Michael Strogoff als ein Gemisch von mongolischer und sibirischer Sprache erkannte: "Wieder ein Spion! Lass ihn und komm zum Essen. Die 'Papluka'(1) wartet." Michael Strogoff musste unwillkuerlich lachen, als er diesen Titel hoerte, er, der vielmehr allen Spionen moeglichst auswich. In derselben Sprache, aber mit wesentlich abweichendem Accente, antwortete der Zigeuner einige Worte, etwa des Inhalts: "Du hast recht, Sangarre; uebrigens werden wir morgen weg sein! -- Schon morgen? entgegnete das Weib halblaut und offenbar einigermassen ueberrascht. -- Ja wohl, Sangarre, bedeutete sie der Zigeuner, morgen, unser Vater selbst sendet uns weg ... wohin wir wollen!" Hiernach zogen sich Beide in die Bude zurueck, deren Thuer von Innen sorgfaeltig geschlossen wurde. "Recht nett, sagte sich Michael Strogoff; wenn diese Zigeuner aber hoffen, nicht verstanden zu werden, so rathe ich ihnen, sich in meiner Gegenwart einer andern Sprache zu bedienen." Als geborener Sibirier, der seine ganze fruehe Jugend in der Steppe verlebt hatte, kannte Michael Strogoff, wie erwaehnt, fast alle gebraeuchlichen Mundarten von der Tartarei bis zum Eismeere. Um die zwischen dem Zigeuner und dem Weibe gewechselten Worte selbst bekuemmerte er sich blutwenig. Welches Interesse konnte er daran haben? Bei der schon vorgeschrittenen Nachtstunde gedachte er nun auch nach der Herberge zurueckzukehren, um sich einige Ruhe zu goennen. Er folgte auf seinem Rueckwege dem Laufe der Wolga, deren Wasser unter der dunklen Masse unzaehliger Fahrzeuge fast verschwand. An der Richtung des Flusses erkannte er genauer den eben verlassenen Ort. Diese Haufen von Fuhrwerken und Buden standen auf eben dem geraeumigen Platze, auf dem alljaehrlich die grosse Messe von Nishny-Nowgorod abgehalten wurde - ein Erklaerungsgrund fuer die Anwesenheit einer ganzen Menge von Gauklern und Zigeunern, welche der Wind von allen Ecken der Welt her hier zusammengeweht hatte. Eine Stunde spaeter ruhte Michael Strogoff in etwas unruhigem Schlummer auf einem jener russischen Betten, welche dem Auslaender so hart vorkommen, und erwachte am andern Morgen, am 17. Juli, bei hellem Tage. Noch hatte er fuenf Stunden in Nishny-Nowgorod auszuhalten, die ihm ein Jahrhundert duenkten. Womit konnte er diesen Vormittag anders hinbringen, als mit einer Wanderung durch die Strassen wie am Tage vorher? Hatte er sein Fruehstueck verzehrt, seinen Reisesack geschnallt, den Podaroshna von der Polizei visirt erhalten, so konnte er sofort abreisen. Er war aber nicht der Mann dazu, bei Sonnenschein sich im Bette zu waelzen; deshalb stand er auf, kleidete sich an, verbarg den Brief mit dem kaiserlichen Siegel sorgsam tief in der inneren Tasche seines Ueberkleides, um welches er den Guertel schnallte. Dann schloss er seinen Reisesack und warf ihn ueber den Ruecken. Da er nicht noch einmal nach "Stadt Konstantinopel" zurueckkehren wollte und an dem Ufer der Wolga zu fruehstuecken gedachte, um nahe dem Dampfschifflandungsplatze zu sein, bezahlte er seine Rechnung und verliess das Gasthaus. Aus uebergrosser Sorge begab sich Michael Strogoff nochmals nach den Bureaux der Steamer und versicherte sich, dass der "Kaukasus" zur angegebenen Stunde abfahren werde. Da stieg ihm zum ersten Male der Gedanke auf, dass die junge Lieflaenderin, da sie ja ebenfalls ueber Perm reisen musste, sich hoechst wahrscheinlich auch auf dem "Kaukasus" einschiffen wuerde, in welchem Fall Michael Strogoff sicher mit ihr zusammentreffen musste. Die obere Stadt mit ihrem Kreml von zwei Werst Umfang, der dem in Moskau uebrigens sehr aehnlich ist, erschien damals merkwuerdig veroedet. Selbst der Gouverneur hatte seinen Sitz daselbst nicht mehr. So todt aber die obere Stadt war, so belebt war dafuer die untere. Michael Strogoff gelangte, nach Ueberschreitung einer von Kosakenpiquets bewachten Schiffbruecke ueber die Wolga, nach dem naemlichen Platze, wo er am Abend vorher den kleinen Auftritt neben der Zigeunerbude erlebt hatte. Die Messe von Nishny-Nowgorod, mit der sich nicht einmal die Leipziger Messe vergleichen kann, wird ein wenig ausserhalb der Stadt abgehalten. Auf weiter Ebene jenseits der Wolga erhebt sich der provisorische Palast des Generalgouverneurs, in welchem derselbe auf hohen Befehl waehrend der ganzen Dauer der Messe seinen Sitz hat, jener Messe, welche Dank den Elementen, die auf ihr vertreten sind, eine unaufhoerliche Bewachung erfordert. Diese Ebene war jetzt bedeckt mit symmetrisch vertheilten Holzbauten und langen, breiten Gaengen dazwischen, auf denen die Menschenmenge bequem auf- und abfluthen konnte. Eine gewisse Anzahl Buden der verschiedensten Groesse und Form bildete allemal ein besonderes Quartier fuer je einen bestimmten Handelszweig. Da gab es Quartiere fuer den Handel mit Eisenwaaren, Quartiere fuer die Rauchwaaren, fuer Wolle, Holzwaaren, Gewebe, getrocknete Fische u. s. w. Manche dieser Bauwerke zeigten sich auch aus dem sonderbarsten Materiale errichtet, so die einen aus kleinen Theekistchen in Form von Ziegelsteinen, andere aus bruchsteinartig angeordnetem Salzfleische; - es galt das als Musterkarte fuer die Waaren, welche die Inhaber der Messmagazine ihrer Kundschaft anboten. Eine etwas sonderbare, fast amerikanische Reclame! Der Menschenzudrang in diesen Budenreihen, ueber denen die frueh um vier Uhr aufgegangene Sonne schon hoch am Himmel stand, war ein ungeheurer. Russen, Sibirier, Deutsche, Kosaken, Turkomanen, Perser, Georgier, Griechen, Ottomanen, Hindus, Chinesen, eine unentwirrbare Mischung von Europaeern und Asiaten, - Alles plauderte, eroerterte, stritt und feilschte daselbst. Traeger, Pferde, Kameele, Esel, Boote und Fuhrwerke, was nur je zum Waarentransport dienen konnte, war auf und an diesem Messplatze angehaeuft. Pelzwerke, Edelsteine, Seidenstoffe, indische Kaschemirs, tuerkische Teppiche, kaukasische Waffen, Gewebe aus Ispahan, Ruestungen aus Tiflis, Karawanenthee, europaeische Bronzen, Schweizer Uhren, Sammet und Seide aus Lyon, englische Baumwollwaaren, Sattler- und Wagenbauerarbeiten, Fruechte, Gemuese, Mineralien vom Ural, Malachite, Lasursteine, Parfums, Arzneipflanzen, Holz, Pech, Tauwerk, Horn, Kuerbisse, Wassermelonen u. s. w., alle Erzeugnisse Indiens, Chinas, Persiens, die vom Kaspischen und die vom Schwarzen Meer, aus Amerika und Europa, waren auf diesem einen Punkte der Erde zusammengehaeuft. Das Leben und Treiben, das Toben und Schreien hier spottet jeder Beschreibung, denn die Eingeborenen der niederen Klassen sind von Natur sehr zum Laermen geneigt, und die Fremden glaubten ihnen in dieser Hinsicht nichts nachgeben zu duerfen. Da waren Kaufleute aus Innerasien, die ein ganzes Jahr daran gesetzt hatten, ihre Waaren ueber die endlosen Ebenen zu bringen und welche vor Verlauf eines weiteren Jahres ihre Laeden und Comptoirs gar nicht wieder sehen konnten. Ja die Bedeutung dieser Messe in Nishny-Nowgorod ist so gross, dass der Werth der Handelstransactionen daselbst sich auf mindestens hundert Millionen Rubel (= 314 Mill. Mark, also 157 Mill. Gulden) beziffert. Auf den Plaetzen zwischen den Quartieren dieser improvisirten Stadt tummelten sich eine ganze Menge wandernder Kuenstler. Seiltaenzer und Akrobaten betaeubten mit dem Spektakel ihrer Orchester und dem Ausrufen ihrer Vorstellungen; Zigeuner aus den Gebirgen, welche den gedankenlosen Muessiggaengern aus dem stets wechselnden Publicum wahrsagten, oder ihre ergreifendsten Weisen sangen und ihre originellsten Taenze producirten; Schauspieler von auswaertigen Gesellschaften, welche die Dramen Shakespeare's auffuehrten, aber zugestutzt nach dem Geschmacke der Menge, die in hellen Haufen herzustroemte. In den langen Zwischengaengen trieben sich Baerenfuehrer mit ihren vierbeinigen Kuenstlern ganz sorglos umher, und aus den Menagerien toenten die Schreie der Bestien, wenn sie die scharfe Geissel oder das rothgluehende Eisen des Thierbaendigers in Wuth brachte; endlich in der Mitte des grossen Centralplatzes, umrahmt von einem vierfachen Kreise enthusiastischer Kunstliebhaber, ein Chor "Seeleute der Wolga", die auf dem Boden sassen, wie auf dem Verdeck ihrer Barken, und unter dem Taktstocke eines Orchesterdirigenten, eines wirklichen Untersteuermanns dieses imaginaeren Schiffes, gleichzeitig Ruderbewegungen nachahmten. Da, welch' eigenthuemliche und reizende Sitte! Ueber den Koepfen dieses Menschenknaeuels flogen ganze Wolken von Voegeln aus den Kaefigen, in denen man sie zu Markte gebracht hatte, davon. Nach einem in Nishny-Nowgorod sehr beliebten Gebrauche oeffneten die Kerkermeister der Voegel gegen einige von gutmuethigen Seelen gespendete Kopeken ihren befiederten Gefangenen die Pforten und diese flatterten zu Hunderten mit freudigem Gezwitscher hinaus. Das etwa war das Bild dieses Platzes; so blieb es auch waehrend der sechs Wochen, so lange die beruehmte Messe zu Nishny-Nowgorod gewoehnlich dauert. Nach dieser geraeuschvollen Periode erstirbt der ungeheure Laerm wie durch einen Zauber; die obere Stadt gewinnt ihren officiellen Charakter wieder, die untere versinkt zu ihrer gewoehnlichen Eintoenigkeit, und von all' diesem ungeheuren Zusammenfluss von Kaufleuten, welcher aus aller Herren Laendern in Europa und Asien quillt, bleibt kein einziger Verkaeufer zurueck, der irgend etwas ausboete, noch auch nur ein einziger Einkaeufer, der irgend etwas zu erhandeln suchte. Es verdient wohl bemerkt zu werden, dass England und Frankreich bei der dermaligen Nishny-Nowgoroder Messe durch zwei hervorragende Mustererzeugnisse der modernen Civilisation vertreten waren, - durch die Herren Harry Blount und Alcide Jolivet. Die beiden Correspondenten hatten sich naemlich zunaechst hier eingefunden, um zum Besten ihrer Leserkreise Eindruecke zu sammeln, und nutzten auch die wenigen freien Stunden nach besten Kraeften aus, denn sie wollten ebenfalls mit dem Dampfer "Kaukasus" weiter reisen. Sie begegneten sich gerade auf dem Messplatze, ohne sonderlich darueber zu erstaunen, denn der naemliche Instinct musste sie ja auf ein und dieselbe Spur leiten. Diesmal wechselten sie aber keine Silbe mit einander, sondern beschraenkten sich auf eine gegenseitige, etwas kuehle Begruessung. Alcide Jolivet, ein Optimist von Haus aus, glaubte zu finden, dass hier Alles nach Wunsch und Ordnung gehe, und da der Zufall ihm ein gutes Unterkommen und schmackhafte Tafel bescheert hatte, bereicherte er sein Notizbuch um einige fuer die Stadt Nishny-Nowgorod sehr empfehlende Anmerkungen. Harry Blount dagegen, der erst lange Zeit nach einem Abendbrode umhergetrollt war, hatte endlich gar unter freiem Himmel uebernachten muessen. Er sah demnach Alles von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus und ueberlegte sich schon einen geharnischten Artikel ueber die Stadt, in der die Hoteliers die Reisenden von der Thuer wiesen, welche doch bereit waren, sich "moralisch und physisch misshandeln zu lassen." Michael Strogoff schien, als er so die eine Hand in der Tasche und mit der andern eine lange Pfeife mit Vogelkirschbaumrohr hielt, der gleichgiltigste und am mindesten ungeduldige von Allen. Indess haette es ein feinerer Beobachter an dem leichten Runzeln seiner Brauen wohl erkannt, dass er an seinem Zaume nagte. Schon seit etwa zwei Stunden ging er zwecklos durch die Strassen der Stadt, um immer wieder nach dem Messplatze zurueckzukehren. Als er sich da so durch die Menge wand, bemerkte er an allen Kaufleuten aus den benachbarten asiatischen Laendern eine offenkundige Unruhe. Die Geschaefte lahmten sichtlich. Zwar setzten die verschiedenen Taschenspieler, Seiltaenzer und Equilibristen ihr Geschrei keineswegs aus; das begreift sich wohl, da sie ja mit keinem Risico bei irgend einer Speculation betheiligt waren; die Haendler aber zauderten, sich mit den Kaufleuten aus Central-Asien einzulassen, deren Heimat durch den Tartarenangriff bedroht erschien. Hier noch ein anderes Symptom, welches nicht mindere Beachtung verdiente. In Russland erblickt man den Soldaten ueberall. Die Mitglieder des Heeres mischen sich mit Vorliebe unter die Menge, und vor Allem finden die Polizeibeamten gerade zur Zeit der Messe zu Nishny-Nowgorod eine allzeit bereite Hilfe an den zahlreichen Kosaken, welche mit der Lanze auf der Schulter fuer Aufrechterhaltung der Ordnung unter dieser Masse von 300,000 Fremdlingen sorgen. Heute fehlte es auf dem Messplatze sichtlich an Soldaten, an Kosaken wie an anderen. Ohne Zweifel blieben sie im Hinblick auf ein ploetzliches Ausruecken in ihren Kasernen consignirt. Wenn aber keine Soldaten zu sehen waren, so lag das doch anders bezueglich der Officiere. Schon seit dem Tage vorher flogen die Feldjaeger und Adjutanten aus dem Palaste des Gouverneurs nach allen Richtungen der Windrose. Ueberall verrieth sich eine ungewoehnliche Bewegung, welche man sich allein durch den Ernst der Ereignisse erklaeren konnte. Die Stafetten jagten einander auf den Strassen der Provinz, sowohl in der Richtung von Wladimir, als nach dem Ural zu. Zwischen Moskau und St. Petersburg wechselten die Telegramme unaufhoerlich. Die Lage Nishny-Nowgorods, unfern der sibirischen Grenze, erheischte offenbar durchgreifende Vorsichtsmassregeln. Man durfte nicht vergessen, dass die Stadt im 14. Jahrhundert zweimal von den Vorfahren jener Tartaren eingenommen worden war, welche Feofar-Khan's Ehrgeiz jetzt durch die Kirghisensteppen jagte. Eine andere hohe Person, den Polizeipraefecten, drueckte die Last der Geschaefte nicht weniger, als den Generalgouverneur. Seine Beamten und er selbst, denen es oblag, Ordnung zu erhalten, Beschwerden entgegen zu nehmen, die Ausfuehrung aller Reglements zu ueberwachen, kamen nicht dazu, die Haende in den Schooss zu legen. Die Tag und Nacht geoeffneten Raeume des Polizeiamtes waren unaufhoerlich belagert, ebenso von Einwohnern der Stadt, wie von Fremden aus Europa und Asien. Michael Strogoff befand sich gerade auf dem grossen Mittelplatze, als sich das Geruecht verbreitete, der Polizeipraefect sei soeben durch Estafette zum Generalgouverneur berufen worden. Eine wichtige, von Moskau eingegangene Depesche solle die Veranlassung hierzu sein. Der Chef der Polizei begab sich also nach dem Palaste des Generalgouverneurs, und bald circulirte auch die Neuigkeit, wie in Folge einer allgemeinen Ahnung, dass eine eingreifende, ganz unerwartete und aussergewoehnliche Massnahme in Aussicht stehe. Michael Strogoff lauschte auf das Geruecht, um im Nothfall davon Nutzen zu ziehen. "Man will die Messe schliessen! rief der Eine. -- Das Regiment Nishny-Nowgorod hat den Befehl zum Ausruecken erhalten! meinte ein Anderer. -- Man sagt, die Tartaren bedrohen schon Tomsk! -- Da kommt der Polizeipraefect!" scholl es von allen Seiten. Ein wuestes Geschrei hatte sich ploetzlich erhoben, legte sich dann allmaelig und machte einer lautlosen Stille Platz. Jeder fuehlte, dass jetzt eine wichtige Mittheilung seitens des Generalgouvernements erfolgen werde. Der Chef der Polizei hatte eben, gefolgt von einem Tross Beamter, den Palast des Regierungsstellvertreters verlassen. Eine Abtheilung Kosaken begleitete ihn und brach ihm durch ruecksichtslos ausgetheilte und geduldig hingenommene Rippenstoesse Bahn durch die Menge. Der Polizeipraefect gelangte so nach der Mitte des centralen Platzes, wo Jedermann sehen konnte, dass er ein Papier in der Hand hielt. Dort angekommen, verlas er mit lauter Stimme: _Verordnung des Gouverneurs von Nishny-Nowgorod._ "1) Kein russischer Unterthan darf, es sei aus welchem Grunde es wolle, das Land verlassen. "2) Alle Fremden asiatischer Herkunft haben binnen vierundzwanzig Stunden das Land zu verlassen." Sechstes Capitel. Bruder und Schwester. In viele Privatinteressen mochten diese Verordnungen sehr unangenehm eingreifen; die Umstaende rechtfertigten sie gewiss vollkommen. "Kein russischer Unterthan darf das Land verlassen" - wenn sich Iwan Ogareff jetzt noch hier aufhielt, musste er verhindert oder es ihm mindestens ungemein erschwert werden, sich Feofar-Khan wieder anzuschliessen, womit Letzterem der beachtenswertheste Unterbefehlshaber entzogen wurde. "Alle Fremden asiatischer Herkunft haben binnen vierundzwanzig Stunden das Land zu verlassen"; damit schaffte man sich gruendlich alle jenen Haendler aus Innerasien vom Halse, alle Zigeuner und anderes Gesindel, welches mit den Tartaren und Mongolen mehr oder weniger verwandt ist und das die Messe hier zusammengehaeuft hatte. So viele Koepfe, so viele Spione; ohne Zweifel erschien ihre Vertreibung bei der jetzigen Sachlage dringend angezeigt. Man begreift aber leicht den Eindruck dieser beiden Donnerschlaege, welche auf die Stadt Nishny-Nowgorod niederfielen, die von denselben offenbar empfindlicher als jede andere getroffen wurde. Einheimische, deren Geschaeftsangelegenheiten sie vielleicht ueber die sibirische Grenze gerufen haetten, konnten das Land also nicht verlassen, mindestens fuer den Augenblick nicht. An dem Tenor des ersten Artikels der Verordnung war nichts zu deuteln. Er gestattete keine Ausnahme. Jedes Privatinteresse musste dem oeffentlichen Wohle weichen. Auch der zweite Artikel der Verordnung liess keinen Zweifel uebrig. Er bezog sich nur auf diejenigen Fremden, welche asiatischen Ursprungs waren; diese hatten auch nichts anderes zu thun, als sofort ihre Waaren zu packen und des Wegs zu ziehen, auf dem sie gekommen. Fuer die Seiltaenzer und derlei Volk, welche mehr als tausend Werst bis zur Grenze zurueckzulegen hatten, erschien der Befehl als ein wahres Unglueck. Zwar erhob sich zuerst gegen diese unerhoerten Massregeln ein Murmeln der Entruestung, die Kosaken und Polizisten wussten dasselbe aber bald zum Schweigen zu bringen. Fast augenblicklich begann nun, was man etwa die Abruestung dieses ungeheuren Lagers nennen koennte. Die vor und ueber den Buden ausgespannten Planen falteten sich zusammen; die fremden Theater gingen in Stuecke; Taenze und Gesaenge hoerten auf; die Ausrufer verstummten; die Feuer verloschen; die Seile der Equilibristen glitten herab; die abgetriebenen alten Pferde der wandelnden Wohnungen kamen aus den Staellen wieder an die Deichseln. Beamte und Soldaten mit der Knute oder einem Stocke in der Hand trieben die Saeumigen an und zoegerten sogar nicht, die Zelte gleich selbst abzureissen, wenn sich auch die halbzerlumpten Insassen noch darin befanden. Offenbar musste unter dem Einflusse dieser Massregeln der Messplatz von Nishny-Nowgorod bald vollstaendig geraeumt sein, und dem geraeuschvollen Leben das Schweigen der Wueste folgen. Und - um es noch einmal zu wiederholen, denn darin lag eine weitere Erschwerung bei dieser Verordnung - allen jenen Nomaden, welche der Ausweisungsbefehl direct anging, waren selbst die Steppen Sibiriens verboten, und diese mussten sich nach dem Sueden des Kaspischen Meeres, nach Persien, der Tuerkei oder nach Turkestan wenden. Die Posten des Ural und der Berge, welche gewissermassen eine Verlaengerung dieses Flusses laengs der russischen Grenze darstellten, haetten ihnen den Uebertritt verwehrt. Sie hatten also eine Strecke von tausend Werst zu durchziehen, bevor sie den Fuss auf freien Boden setzen konnten. Eben als der Polizeipraefect jene Verordnung verlesen hatte, wurde Michael Strogoff durch eine Erinnerung, welche sich seiner bemaechtigte, sonderbar erregt. "Ein ungewoehnlicher Zufall! dachte er. Welche Uebereinstimmung zwischen dieser Verordnung bezueglich der Vertreibung der Fremden von asiatischer Herkunft und den in vergangener Nacht von den beiden Tsiganen gewechselten Worten! 'Der Vater selbst ist es, der uns wegschickt ... wohin wir wollen', hatte der Alte gesagt. Aber 'der Vater', das ist der Kaiser! Man bezeichnet ihn bei diesem Volke niemals anders. Wie konnten diese Leute die gegen sie ergriffenen Massregeln voraussehen, so als haetten sie dieselben gekannt, und wohin wollten sie nun ziehen? Das scheinen mir verdaechtige Leute, denen gegenueber die Verordnung des Generalgouverneurs weit mehr nuetzlich als schaedlich sein wird." Diese ganz zeitgemaesse Reflexion wurde aber in Michael Strogoff's Geist durch eine andere Gedankenreihe, welche sich ploetzlich ihm aufdraengte, bald unterbrochen. Er vergass die Tsiganen, ihre verdaechtigen Aeusserungen, die sonderbare Uebereinstimmung mit dem Inhalte der Verordnung ... dafuer trat das Bild und das Schicksal der jungen Lieflaenderin lebhaft vor sein Auge. "Das arme Kind! rief er ganz wider Willen, nun wird sie die Grenze nicht ueberschreiten koennen!" In der That, das junge Maedchen aus Riga war ja Lieflaenderin, also Russin und durfte demnach das russische Gebiet nicht verlassen. Ihr vor diesen neuesten Massregeln ausgestellter Schein konnte jetzt unmoeglich noch Giltigkeit haben. Alle Wege nach Sibirien wurden ihr nun unerbittlich verschlossen, und welche Ursache sie auch haben mochte, sich nach Irkutsk zu begeben, jetzt musste es ihr unmoeglich werden, dasselbe zu erreichen. Dieser Gedankengang beschaeftigte Michael Strogoff nicht wenig. Er sagte sich zuerst so ganz oben hin, dass er, ohne bezueglich der wichtigen ihm anvertrauten Mission etwas zu verletzen, vielleicht im Stande sein koennte, dem guten Kinde einigermassen behilflich zu sein, und er freute sich fast ueber diese Idee. Bekannt mit den Gefahren, denen er persoenlich entgegen ging, konnte er, der energische und kraftvolle Mann, gar nicht verkennen, dass dieselben in einem Lande, dessen Wege und Stege er zwar aus dem Grunde kannte, fuer jenes junge Maedchen doch ungleich furchtbarer werden mussten. Da er sich nach Irkutsk begab, hatte er ja denselben Weg vor sich, wie Jene; auch sie wuerde durch die Horden der Feinde zu dringen suchen muessen, wie er es selbst versuchen wollte. Wenn ihr, wie hoechst wahrscheinlich, nur die fuer eine Reise unter gewoehnlichen Umstaenden berechneten Hilfsmittel zu Gebote standen, wie sollte sie damit unter Verhaeltnissen auskommen, welche eine solche Reise nicht nur weit gefaehrlicher, sondern auch weit kostspieliger machten? "Nun gut, schloss er seine Selbstbetrachtung, da sie den Weg nach Perm einschlaegt, ist es ja fast unmoeglich, dass ich ihr nicht begegnen sollte. Dann werde ich ueber sie wachen koennen, ohne dass sie es weiss, und da sie es nicht minder eilig als ich zu haben scheint, nach Irkutsk zu gelangen, wird sie mir keine Ursache zur Verzoegerung werden." Doch ein Gedanke erzeugt ja immer einen andern. Michael Strogoff hatte bis jetzt nichts anderes im Sinne gehabt, als ein gutes Werk zu thun, einen Liebesdienst zu erweisen. Da kam ihm ploetzlich ein anderer Gedanke, der die ganze Frage in einem wesentlich anderen Lichte erscheinen liess. "Ja, sagte er sich, ich koennte ihrer vielleicht doch noch mehr noethig haben, als sie meiner Hilfe. Ihre Gegenwart kann mir nicht unnuetzlich sein und wird dazu beitragen, jeden Verdacht wegen meiner Person zu zerstreuen. Unter einem Manne, der ganz allein durch die Steppen zieht, koennte man weit eher einen Courier des Czaaren vermuthen. Begleitete mich dagegen jenes junge Maedchen, so muesste ich ja in aller Augen weit mehr als der Kaufmann Nicolaus Korpanoff meines Podaroshna erscheinen. Nun wohl, sie muss mich also begleiten, ich muss sie wiederfinden! Unmoeglich kann sie sich seit gestern Abend einen Wagen verschafft haben, um Nishny-Nowgorod zu verlassen. Ich will sie suchen, und Gott leite meine Schritte!" Michael Strogoff verliess den grossen Platz, wo der durch die Ausfuehrung jener Verordnung erzeugte Tumult eben den hoechsten Grad erreicht hatte. Die Einsprueche der vertriebenen Fremden, das Rufen der Agenten und der Kosaken, welche sich einmengten, mischte sich zu einem unbeschreiblichen Getoese. Hier konnte sich die Gesuchte unmoeglich aufhalten. Es war jetzt neun Uhr Morgens. Der Dampfer sollte erst zu Mittag abgehen. Michael Strogoff konnte also wohl zwei Stunden verwenden, diejenige zu suchen, welche er so dringend als Begleiterin auf seiner Reise wuenschte. Von Neuem ueberschritt er die Wolga und lief durch die Quartiere am anderen Ufer, wo die Menschenmenge minder betraechtlich war. Er durchforschte, man konnte sagen, Strasse fuer Strasse, die obere und die untere Stadt. Er trat in die Kirchen, jener natuerliche Zufluchtsort aller Weinenden und Leidenden. Nirgends traf er auf eine Spur der jungen Lieflaenderin. "Und dennoch, redete er sich ein, kann sie Nishny-Nowgorod nicht verlassen haben. Ich muss weiter suchen!" So irrte Michael Strogoff zwei Stunden lang umher. Er eilte weiter ohne auszuruhen, er empfand keine Ermuedung, er gehorchte einem ihn ganz beherrschenden Gefuehle, das ihm keine Zeit liess, lange nachzudenken. Alles vergeblich! Da fiel ihm ein, dass das junge Maedchen vielleicht noch ohne alle Kenntniss war von der ergangenen Verordnung, - zwar ein unwahrscheinlicher Umstand, denn ein solcher Blitzschlag konnte sich gar nicht entladen, ohne von Allen gehoert zu werden. Da sie ein offenbares Interesse haben musste an Allem, was Sibirien betraf, wie haetten ihr die Massnahmen des Gouverneurs entgehen koennen, Massnahmen, welche ihr so direct angingen? Kannte sie dieselben indessen nicht, so musste sie ja in wenig Stunden nach dem Landungsplatze kommen, wo ein unbarmherziger Beamter schon ihre Weiterreise hindern werde. Unbedingt musste Michael Strogoff sie noch vorher sehen und sprechen, um mit seiner Hilfe diesem Schachzuge zu entgehen. Doch alle Nachforschungen schienen vergeblich, und schon gab er alle Hoffnung auf, sie je wieder zu finden. Die elfte Stunde kam heran. Michael Strogoff dachte daran, - was unter anderen Verhaeltnissen ganz unnoethig gewesen waere, seinen Podaroshna im Bureau der Polizei zu praesentiren. Die Verordnung konnte ihn offenbar nicht treffen, da dieser Fall fuer ihn vorhergesehen war; aber er wollte sich ueberzeugen, dass seinem Austritt aus der Stadt nichts im Wege stehe. Der Courier musste deshalb nach der andern Seite des Flusses zurueckkehren, nach dem Quartiere, in dem sich die Bureaux des Polizeipraefecten zur Zeit befanden. Dort war ein grosser Zusammenfluss von Menschen, denn wenn die Auslaender auch den Befehl erhalten hatten, die Provinzen zu verlassen, so ersparte ihnen das doch keineswegs gewisse Formalitaeten vor der Abreise. Ohne dem haette auch jeder bei dem Tartareneinfalle mehr oder weniger betheiligte Russe unter dem Schutze einer beliebigen Verkleidung das Land verlassen koennen, was die Verordnung ja gerade verhindern wollte. Man wies mit einem Worte die Leute fort, zwang sie aber auf der anderen Seite, sich die Erlaubniss zur Abreise erst zu beschaffen. Der Hof und die Bureaux des Polizeiamtes waren also von Gauklern, Baenkelsaengern, Zigeunern und Tsiganen, ausser diesen aber von Kaufleuten aus Persien, der Tuerkei, Turkestan und China buchstaeblich vollgepfropft. Jeder beeilte sich, da die Transportmittel bei dieser Masse Ausgetriebener bald mangeln mussten, so dass Saeumige leicht in die Lage kommen konnten, die festgesetzte Frist zu ueberschreiten und in Folge dessen sich einer brutalen Intervention der Beamten des Gouverneurs auszusetzen. Michael Strogoff vermochte, Dank seiner kraeftigen Ellenbogen, durch den Hof zu dringen. Aber in die Expeditionen und bis zu den Schaltern der Beamten zu gelangen, das war ein weit schwereres Stueck Arbeit. Indessen ein Wort, das er einem Inspector in's Ohr fluesterte, und einige rechtzeitig in dessen Hand gedrueckte Rubel besassen die Macht, ihm den Durchgang zu erzwingen. Nachdem er den Courier in einen Wartesaal geleitet, meldete ihn der Agent bei einem Oberbeamten an. Michael Strogoff musste also mit der Polizei bald in Ordnung und frei in seinen Bewegungen sein. Inzwischen sah er sich von ungefaehr etwas um. Und was erblickte er? Da, mehr hingesunken als sitzend auf einer Bank ein junges Maedchen, ein Opfer der stummen Verzweiflung, deren Gesicht er nicht einmal ganz sehen konnte, da sich nur das Profil desselben von der weissgetuenchten Mauer abhob. Michael Strogoff taeuschte sich nicht; er hatte die junge Lieflaenderin wieder erkannt. Unbekannt mit der Verordnung des Gouverneurs war sie nach der Polizei gekommen, ihren Schein visiren zu lassen!... Man hatte ihr das Visum versagt. Ohne Zweifel war sie legitimirt, nach Irkutsk zu reisen, jene Verordnung war aber einmal bekannt gegeben, sie machte alle frueher ausgestellten Legitimationen ungiltig und verschloss alle Wege nach Sibirien. Michael Strogoff, in seiner Freude sie endlich wieder gefunden zu haben, naeherte sich dem jungen Maedchen. Diese sah ihn einen Moment an, und ueber ihr Gesicht flog ein leichter Schimmer, als sie den Reisegefaehrten wieder erkannte. Sie erhob sich fast instinctmaessig und wollte, so wie ein Schiffbruechiger sich an jedes Truemmerstueck klammert, ihn um seine Hilfe ansprechen ... In diesem Augenblick beruehrte der Agent Michael Strogoff's Schulter. "Der Polizeipraefect erwartet Sie, sagte er. -- Gut", erwiderte Michael Strogoff. Und ohne ein Wort zu Der zu sprechen, welche er so lange in der ganzen Stadt gesucht hatte, ohne sie durch irgend eine Bewegung, welche ihn selbst oder auch sie haette compromittiren koennen, zu beruhigen, folgte er dem Agenten durch die gedraengten Massen. Als die junge Lieflaenderin Den verschwinden sah, von dem sie allein einige Unterstuetzung erwartet haette, sank sie auf die Bank zurueck. Kaum drei Minuten verstrichen, als Michael Strogoff in Begleitung eines Agenten wieder im Saale erschien. In der Hand hielt er seinen Podaroshna, der ihm den Weg nach Sibirien oeffnete. Er ging auf die junge Lieflaenderin zu, streckte ihr die Hand entgegen und sagte: "Schwester ...!" Sie verstand ihn; sie erhob sich, als ob eine ploetzliche Eingebung ihr nicht erlaubte, zu zaudern. "Sei ruhig, Schwester, wiederholte Michael Strogoff, wir sind autorisirt, unsere Reise nach Irkutsk fortzusetzen. Kommst Du? -- Ich folge Dir, Bruder", antwortete das junge Maedchen und legte ihre Hand in die Michael Strogoff's. Sofort verliessen Beide das Gebaeude des Polizeiamtes. Siebentes Capitel. Auf der Wolga stromabwaerts. Kurz vor zwoelf Uhr rief die Glocke des Dampfbootes zu dem Landungsplatze an der Wolga eine grosse Menschenmenge zusammen, weil sich daselbst nicht nur Die einfanden, welche wirklich abreisten, sondern auch Die, welche hatten abreisen wollen. Die Kessel des "Kaukasus" besassen schon hinreichende Dampfspannung. Ueber dem Schlote kraeuselten sich nur leichte Rauchwirbel, waehrend aus dem Dampfrohre und um die Sicherheitsventile der weisse Dampf brodelte. Selbstverstaendlich ueberwachte die Polizei die Abfahrt des Steamers und schritt unerbittlich gegen die Reisenden ein, welche sich nicht als ausreichend legitimirt zum Verlassen der Stadt erwiesen. Zahlreiche Kosaken ritten den Kai auf und ab, bereit die Polizeiagenten zu unterstuetzen; nirgends machte sich indessen ihre Intervention noethig und Alles verlief ohne offenen Widerstand. Rechtzeitig ertoente das letzte Glockensignal; die Taue wurden geloest, die maechtigen Raeder des Dampfers peitschten das Wasser mit ihren beweglichen Schaufeln, und schnell glitt der "Kaukasus" zwischen den beiden Stadttheilen, welche Nishny-Nowgorod bilden, dahin. Michael Strogoff und die junge Lieflaenderin hatten sich mit eingeschifft und waren ohne Schwierigkeiten an Bord gekommen. Man erinnert sich, dass der auf den Namen Nicolaus Korpanoff ausgestellte Podaroshna den Kaufmann berechtigte, sich auf der Reise durch Sibirien begleiten zu lassen. Unter dem Schutze der kaiserlichen Polizei reisten hier also Bruder und Schwester. Still sassen Beide auf dem Hinterdeck und sahen die durch den Erlass des Gouverneurs so aufgeregte Stadt ihren Augen entfliehen. Michael Strogoff hatte kein Wort zu dem jungen Maedchen gesprochen, keine Frage an sie gestellt. Er wartete es ab, dass sie reden wuerde, wenn es ihr passend erschien. Ihr war es ja von Wichtigkeit, diese Stadt zu verlassen, in der sie ohne das wunderbare Dazwischentreten ihres unerwarteten Beschuetzers gefangen zurueckgeblieben waere. Sie sprach zwar nicht, aber ihre Augen dankten ihm. Die Wolga, die Rha der Alten, wird fuer den bedeutendsten Strom ganz Europas gehalten, und es erstreckt sich ihr Lauf auf nicht weniger als 4000 Werst (= 4300 Kilom.). Das etwas ungesunde Wasser derselben wird bei Nishny-Nowgorod durch die Einmuendung der Oka, eines schnell fliessenden Nebenstromes aus den mittelrussischen Provinzen, wesentlich verbessert. Man hat die Gesammtheit der Kanaele und Wasserlaeufe Russlands mit einem riesigen Baume verglichen, dessen Zweige sich in allen Theilen des Czaarenreiches veraesteln. Die Wolga ist es, welche den Stamm dieses Baumes darstellt, den Stamm, der seinerseits wiederum mit siebenzig Muendungen in dem Kuestengebiete des Kaspischen Meeres wurzelt. Sie ist von Rjef, einer Stadt im Gouvernement Tver, aus, d. h. im groessten Theile ihres Laufes schiffbar. Die Schiffe der Speditions-Gesellschaft zwischen Perm und Nishny-Nowgorod legen die 350 Werst (373 Kilom.) lange Strecke zwischen letzterer Stadt und Kasan sehr schnell zurueck. Freilich laufen die Dampfer dabei mit der Stroemung, die ihrer eigenen Schnelligkeit noch mit zwei Meilen per Stunde zu Hilfe kommt. Erreichen sie aber die Einmuendung der Kama, so vertauschen sie den Strom mit diesem Flusse, den sie dann bis Perm stromaufwaerts fahren muessen. Alles in Allem gerechnet und trotz seiner maechtigen Maschine konnte der "Kaukasus" nicht mehr als sechzehn Werst in der Stunde zuruecklegen. Bei nur einstuendigem Aufenthalt in Kasan nahm die Fahrt von Nishny-Nowgorod bis Perm doch sechzig bis zweiundsechzig Stunden in Anspruch. Der Steamer besass uebrigens sehr bequeme Einrichtungen fuer die Passagiere, welche je nach Gefallen oder nach ihren Mitteln in drei verschiedenen Klassen befoerdert wurden. - Michael Strogoff hatte zwei Cabinen erster Klasse belegt, um seiner Begleiterin zu gestatten, sich in die ihrige zurueck zu ziehen und allein zu sein, soviel es ihr beliebte. Heut war der "Kaukasus" von Passagieren aller Art ueberfuellt. Eine grosse Anzahl asiatischer Handelsleute mochten es fuer gerathen erachtet haben, Nishny-Nowgorod mit erster Gelegenheit zu verlassen. In der fuer die erste Klasse reservirten Abtheilung des Dampfers begegnete man Armeniern in langen Gewaendern und einer Mitra aehnlichen Kopfbedeckungen, - Juden, mit ihren hohen, konischen Muetzen, - reichen Chinesen in Landestracht, mit sehr weitem, blauem, violettem oder auch schwarzem, an der Vorder- und Rueckseite offenem Oberkleide und bedeckt von einem zweiten, weitaermeligen Ueberwurf, der in seinem Schnitte an den Talar der Popen erinnerte, - Tuerken mit dem nationalen Turban, - Indier mit viereckiger Muetze, einem einfachen Stricke als Guertel, von denen einige Staemme, vorzueglich aber die Shikapuris, den ganzen Handel Centralasiens in der Hand haben, - endlich Tartaren mit buntgestickten Stiefeln und ueber der Brust reichverzierten Kleidern. Diese Kaufleute alle mussten im Schiffsraume oder auf dem Verdeck ihr umfaengliches Gepaeck unterbringen, dessen Transport ihnen gewiss theuer zu stehen kam, da sie vorschriftsmaessig nur zwanzig Pfund Freigepaeck mitfuehren durften. Im Vordertheile des "Kaukasus" befanden sich noch weit zahlreichere Passagiere, nicht allein Auslaender, sondern auch Russen, denen die Verordnung nach den Heimatsstaedten der Provinz zurueckzukehren nicht verbot. Dort sassen oder standen Mujiks umher mit Kappen oder Muetzen auf dem Kopfe, bekleidet mit einer Art Hemd aus kleinquarrirtem Stoffe unter dem Pelze; Bauern aus den Wolgadistricten, die blauen Beinkleider in den Stiefeln, das Hemd von roethlichem Baumwollengewebe mit einem Strick geguertet, und mit flacher Kappe oder Filzmuetze. Einige Frauen in gebluemten Baumwollkleidern trugen Schuerzen mit moeglichst lebhaften Farben und grellroth gemusterte Tuecher um den Kopf. Hieraus setzten sich meist die Passagiere der dritten Klasse zusammen, welche die Aussicht auf eine langdauernde Rueckfahrt nicht sonderlich zu belaestigen schien. Jedenfalls war dieser Theil des Decks dicht mit Menschen besetzt. Die Insassen des Hinterdecks vermieden es auch, sich unter Jene zu mischen, deren Bereich uebrigens durch Bezeichnung auf den Klappen der Luken begrenzt war. Mit der vollen Kraft seiner Schaufeln eilte der "Kaukasus" indessen zwischen den Ufern der Wolga dahin. Er kreuzte sich mit vielen durch Remorqueure stromaufwaerts geschleppten Booten, welche noch allerlei Waaren nach Nishny-Nowgorod befoerderten. Dann schwammen Holzfloesse daher, so lang wie die unmessbaren Sargassobuendel im Atlantischen Ocean, und bis zum Versinken beladene Flachschiffe, die bis zum Dahlbord im Wasser gingen. Uebrigens sehr unnuetze Waarentransporte, insofern ja die Messe bald nach ihrem Anfang ploetzlich geschlossen worden war. Die von dem Wellenschlage des Dampfers ueberspuelten Ufer der Wolga zeigten sich mit grossen Entenschwaermen besetzt, welche mit betaeubendem Geschnatter aufflogen. Darueber hinaus weideten auf den duerren, von Birken, Weiden und Espen umrahmten Ebenen einzelne rothbraune Kuehe, Heerden von Schafen mit braeunlichem Fell und ganze Haufen von weissen und schwarzen Schweinen und Ferkeln. Einige mit magerem Buchweizen oder duerftigem Korn bestandene Felder dehnten sich bis ueber kleine Landerhebungen aus, welche indess nirgends eine bemerkenswerthe Aussicht bildeten. In diesen einfoermigen Landstrichen haette der Stift des Zeichners, wenn er pittoreske Bilder suchte, gewiss nichts zu thun gefunden. Zwei Stunden nach der Abfahrt des "Kaukasus" wandte sich die junge Lieflaenderin an Michael Strogoff und fragte: "Du gehst nach Irkutsk, Bruder? -- Ja, Schwester, erwiderte der junge Mann. Wir haben Beide den naemlichen Weg. Wo ich hindurchkomme, wirst auch Du hindurchkommen. -- Morgen, Bruder, sollst Du erfahren, warum ich die Kueste der Ostsee verliess, um nach jenseits der Berge des Ural zu ziehen. -- Ich frage nach Nichts, Schwester. -- Du sollst Alles wissen, antwortete das junge Maedchen, auf deren Lippen ein schmerzliches Laecheln spielte. Eine Schwester darf ihrem Bruder nichts verheimlichen. Heute koennte ich aber nicht!... Die Anstrengung, die Verzweiflung haben meine Kraefte verzehrt. -- Willst Du in Deiner Cabine ausruhen? fragte Michael Strogoff. -- Ja ... ja ... und morgen ... -- So komm ...!" Er brach den Satz ab, so als haette er ihn mit dem ihm noch unbekannten Namen seiner Begleiterin schliessen wollen. "Nadia, sagte sie und reichte ihm die Hand. -- Komm, Nadia, und verfuege ueber Deinen Bruder Nicolaus Korpanoff ohne alle Umstaende." Er geleitete das junge Maedchen nach ihrer Cabine nahe dem Salon des Hintertheils. Michael Strogoff kehrte nach dem Deck zurueck und mischte sich, begierig zu hoeren, doch ohne sich an den Gespraechen zu betheiligen, unter die Gruppen der Passagiere, aus deren Worten er Das oder Jenes zu vernehmen hoffte, was seine Reiseprojecte vielleicht zu beeinflussen im Stande waere. Sollte er zufaellig selbst gefragt und zu einer Antwort genoethigt werden, so wollte er sich fuer den Kaufmann Nicolaus Korpanoff ausgeben, den der "Kaukasus" nur nach der Grenze zuruecktrug, denn Niemand sollte vermuthen, dass ihn eine specielle Mission berechtigte, nach Sibirien zu reisen. Die Auslaender auf dem Dampfer konnten offenbar nur von den Tagesereignissen, jener Verordnung und ihren Folgen, sprechen. Die armen Leute, welche kaum die Strapazen einer Reise durch das innere Asien hinter sich hatten, sahen sich gezwungen, wieder umzukehren, und wenn sie ihrem Zorn nicht in lautem Ausbruche Luft machten, so lag die Ursache nur darin, dass sie das nicht wagten. Eine respectvolle Furcht hielt sie zurueck. Moeglicher Weise befanden sich zur Ueberwachung der Reisenden auch auf dem "Kaukasus" geheime Polizisten; da galt es, die Zunge im Zaum zu halten, denn diese Austreibung war der Einsperrung in einer Festung doch immer noch vorzuziehen. Deshalb schwiegen auch die meisten Gruppen oder fluesterten sich die Worte gegenseitig nur so vorsichtig zu, dass daraus im Zusammenhange nichts zu entnehmen war. Konnte Michael Strogoff aber von dieser Seite nichts vernehmen, oder schwiegen die Leute wohl auch ganz und gar - denn man kannte ihn ja nicht, - so traf sein Ohr dafuer der Laut einer Stimme, welche ziemlich unbesorgt zu sein schien, ob sie gehoert wurde oder nicht. Der Mann mit der hellen Stimme sprach russisch, aber mit fremdem Accente, und sein mehr zugeknoepfter Nachbar antwortete ihm in derselben Mundart, welche offenbar auch seine Muttersprache nicht war. "Wie! rief der Erste, wie, auf diesem Schiffe, Herr College, Sie, den ich bei dem Feste des Kaisers in Moskau und dann erst in Nishny-Nowgorod wieder sah? -- Gewiss, ich selbst! entgegnete trocken der Andere. -- Nun, frei heraus gesagt, ich erwartete nicht, dass Sie mir so unmittelbar, so auf den Fersen folgen wuerden. -- Ich folge Ihnen nicht, mein Herr, ich gehe Ihnen voraus. -- Vorausgehen! Vorausgehen! Wir wollen wenigstens sagen, wir marschiren gleichen Schrittes in der Front, wie zwei Soldaten bei der Parade, und vorlaeufig koennten wir uebereinkommen, Keiner dem Andern zuvor zu kommen. -- Ich werde es doch thun! -- Das wird sich erst auf dem Kriegsschauplatze zeigen; doch bis dahin koennen wir, zum Teufel, doch Reisegenossen sein. Spaeter werden wir noch Zeit genug finden, gelegentlich Rivalen zu werden. -- Feinde! -- Meinetwegen auch Feinde! Ihre Worte, Herr College, besitzen eine Klarheit des Ausdrucks, welche mich hoechst angenehm beruehrt. Bei Ihnen weiss Einer doch, woran er ist. -- Nun, was ist daran so schlimm? -- O nichts, gar nichts! Erlauben Sie, dass auch ich mir die Freiheit nehme, unseren gegenseitigen Standpunkt fest zu stellen. -- Nach Belieben. -- Sie gehen nach Perm ... wie ich? -- Wie Sie. -- Und begeben sich von Perm aus wahrscheinlich nach Jekaterinburg, auf dem besten und sichersten Wege zur Ueberschreitung des Uralkammes. -- Wahrscheinlich. -- Nach Ueberschreitung der Grenze werden wir in Sibirien, d. h. inmitten des ueberfallenen Gebietes sein. -- So ist es. -- Nun dann, aber auch erst dann wird es Zeit sein, zu sagen: 'Jeder fuer sich und Gott mit ...' -- Gott mit mir! -- Gott mit Ihnen! Ganz allein! Sehr schoen! Da wir indess noch acht neutrale Tage vor uns haben und es unterwegs voraussichtlich keine Neuigkeiten regnen duerfte, so lassen Sie uns Freunde sein, bis wir zu Rivalen werden. -- Zu Feinden! -- Ja wohl, das ist richtiger: Zu Feinden! Bis dahin koennen wir aber in Uebereinstimmung handeln und brauchen uns gegenseitig nicht zu verzehren! Ich verspreche Ihnen ueberdies, Alles fuer mich zu behalten, was ich etwa sehe ... -- Und ich Alles, was ich etwa hoere. -- Abgemacht? -- Abgemacht! -- Ihre Hand darauf? -- Hier ist sie!" Und die Hand des ersten Sprechers, d. h. fuenf weit offene Finger, schuettelte kraeftig die beiden Finger, welche der Zweite phlegmatisch hinhielt. "Was ich noch sagen wollte, begann der Erste, es gelang mir noch, den Inhalt der Verordnung diesen Morgen um 10 Uhr 17 Minuten an meine Cousine zu telegraphiren. -- Und ich habe dem Daily-Telegraph dieselbe Nachricht um 10 Uhr 13 gesendet. -- Bravo, Herr Blount! -- Zu guetig, Herr Jolivet! -- Bis ich mich revanchire! -- Duerfte Ihnen schwer fallen! -- Man versucht eben Alles!" Bei diesen Worten gruesste der franzoesische Correspondent vertraulich den englischen Reporter, der ihm mit vollem britannischen Stolze dankte. Diese beiden Neuigkeitsjaeger, welche ja weder Russen, noch Fremde von asiatischer Herkunft waren, traf die Verordnung des Generalgouverneurs nicht. Sie reisten also ab, und wenn sie Nishny-Nowgorod zu derselben Stunde verliessen, so geschah das, weil der naemliche Instinct sie vorwaerts trieb. Ganz natuerlich bedienten sie sich also derselben Fahrgelegenheit und folgten bis zu den sibirischen Steppen demselben Wege. Ob als einfache Reisegefaehrten, als Freunde oder Feinde, noch hatten sie acht Tage "bis zum Aufgang der Jagd" vor sich. Dann hiess es: Dran und drauf! Jetzt hatte Jolivet die ersten Zwischenvorschlaege gemacht und der Brite sie, wenn auch so kuehl als moeglich, angenommen. Jedenfalls sassen Beide, der Franzose immer offenherzig bis zur Schwatzhaftigkeit, der Englaender immer verschlossen, an derselben Tafel und probirten, zu sechs Rubel die Flasche, einen sogenannten echten Cliquot, offenbar den Abkoemmling des frischen Birkensaftes der Umgegend. Als Michael Strogoff Alcide Jolivet und Harry Blount so reden hoerte, sprach er fuer sich: "Das sind ein Paar neugierige und indiscrete Leute, denen ich auf der Reise jedenfalls noch ferner begegne. Mir scheint es geboten, sich diese drei Schritt vom Leibe zu halten." Die junge Lieflaenderin erschien nicht bei Tische. Sie schlummerte in ihrer Cabine und Michael Strogoff wollte sie nicht wecken lassen. Der Abend kam heran, ohne dass sie wieder auf Deck erschienen waere. Mit der langen Daemmerung gewann die Atmosphaere eine wohlthuende Frische, an welcher sich nach der Hitze des Tages Alle gern erquickten. Selbst in vorgeschrittener Nachtstunde dachten die Meisten gar nicht daran, die Salons oder Cabinen aufzusuchen. Auf die Baenke gestreckt, athmeten sie behaglich in dem Luftzuge, den die schnelle Bewegung des Schiffes erregte. Der Himmel verfinsterte sich in dieser Jahreszeit und in diesen Breiten zwischen Abend und Morgen nicht allzu sehr und erleichterte es dem Steuermann, zwischen den vielen Schiffen hindurch zu gleiten, welche die Wolga stromauf und stromab befuhren. Inzwischen ward es, da gerade Neumond war, in der Zeit von elf und ein Uhr doch nahezu Nacht. Die meisten Deckpassagiere schliefen schon und das Schweigen wurde nur durch das regelmaessige Klatschen der Schaufelraeder unterbrochen. Eine eigenthuemliche Unruhe hielt Michael Strogoff wach. Er ging, doch meist nur auf dem Hinterdeck, auf und ab. Einmal jedoch streifte er auch ueber den Maschinenraum hinaus. Er befand sich damit in der fuer die Passagiere zweiter und dritter Klasse bestimmten Abtheilung. Dort schlief Alles nicht nur auf den Baenken, sondern auch auf Ballen und Gepaeckstuecken, selbst auf dem Brettboden des Verdecks. Nur die Matrosen der Wache standen auf dem Vordercastell. Zwei Laternen, eine gruene und eine rothe, vom Backbord und vom Steuerbord, warfen einige schiefe Strahlen auf die Wand des Dampfers. Es erforderte eine gewisse Aufmerksamkeit, die ganz beliebig umher liegenden Schlaefer nicht zu treten. Es waren das meist Mujiks, denen bei ihrer Gewoehnung an ein hartes Lager auch das Verdeck des Schiffes schon genuegte, die aber doch Jeden schlecht empfangen haetten, der sie vorzeitig durch einen Fusstritt erweckte. Michael Strogoff huetete sich also wohl, an Jemand zu stossen. Bei seiner Wanderung bis an das Ende des Schiffes hatte er keine andere Absicht, als sich durch eine laengere Promenade des Schlafes zu erwehren. Auf dem Vorderdeck angelangt, wollte er schon die Stufen nach dem Vordercastell hinaufsteigen, als er neben sich sprechen hoerte. Er hielt an. Die Stimmen schienen aus einer Gruppe Passagiere zu kommen, welche mit allerhand Shawls und Decken verhuellt dasass, die er aber bei der Dunkelheit nicht weiter zu erkennen vermochte. Nur manchmal gelang es ihm ein wenig, wenn dem Rauchfange des Dampfers zwischen den schwarzen Wolken einige roethliche Flammen entstiegen; dann schien es, als wirbelten Funken mitten durch die Gruppe oder als erglaenzten Tausende von Metallflitterchen in dem ungewissen Lichte. Michael Strogoff wollte schon weiter gehen, als er einige Worte deutlicher vernahm und noch dazu in dem auffallenden Idiome, das schon auf dem Messplatze in vergangener Nacht an sein Ohr gedrungen war. Unwillkuerlich draengte es ihn, zu lauschen. In dem Schatten des Vordercastells konnte er nicht gesehen werden, so wenig, wie er die mit einander redenden Fahrgaeste eigentlich sehen konnte. Er musste sich demnach begnuegen, zu horchen. Die anfaenglich gewechselten Worte besassen, - wenigstens fuer ihn, - keine besondere Bedeutung, doch genuegten sie ihm, unzweifelhaft die Stimmen der Frau und des Mannes wieder zu erkennen, die er schon in Nishny-Nowgorod gehoert hatte. Er verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Es schien nicht unmoeglich, dass jene Tsiganen, von deren Gespraech er einige Brocken aufgefangen, jetzt nach der Austreibung sammt ihren Landsleuten, an Bord des "Kaukasus" Passage genommen haetten. Wie gut es war, dass er horchte, ergab sich aus folgenden in tartarischer Mundart gewechselten Worten: "Man sagt, es sei ein Courier auf dem Wege von Moskau nach Irkutsk. -- Das sagt man wohl, Sangarre, aber dieser Bote wird entweder zu spaet oder auch gar nicht ankommen!" Michael Strogoff fuehlte, wie diese ihn persoenlich so nahe angehende Antwort ihn durchzuckte. Er versuchte sich zu vergewissern, ob der Mann und die Frau, welche eben sprachen, dieselben seien, die er unter ihnen vermuthete; aber die tiefe Dunkelheit vereitelte seine Bemuehungen. Bald nachher war Michael Strogoff unbemerkt wieder nach dem Hinterdeck gelangt und setzte sich, den Kopf in die Haende gestuetzt, nieder. Man haette meinen sollen, er schliefe. Er schlief aber weder, noch dachte er ueberhaupt daran. Er ueberlegte sich vielmehr, nicht ohne eine gewisse Besorgniss, was er gehoert hatte. "Wer in aller Welt weiss von meiner Abreise und wer hat ein Interesse daran, sie zu kennen?" Achtes Capitel. Die Kama stromaufwaerts. Am Morgen des 18. Juli kam der "Kaukasus" um sechs Uhr vierzig Minuten an dem Landeplatze fuer Kasan, sieben Werst von dieser Stadt, wohlbehalten an. Kasan liegt am Zusammenflusse der Wolga und der Kazanka. Ein Hauptort des Gouvernements, ist es gleichzeitig Sitz einer Universitaet und eines griechischen Erzbischofs. Die gemischte Bevoelkerung dieser Provinzialhauptstadt besteht aus Tscheremissen, Mordwinen, Tschuwaken, Wolsaken, Wipulitschen und Tartaren, von denen der letzte Stamm sich den asiatischen Charakter am reinsten bewahrt hat. Trotz der grossen Entfernung der Stadt vom Landungsplatze draengte sich eine ungeheure Menge auf dem Kai. Man war gespannt auf Neuigkeiten. Der Gouverneur der Provinz hatte eine gleichlautende Verordnung erlassen, wie sein College in Nishny-Nowgorod. Da sah man Tartaren in kurzaermeligem Kaftan und mit spitzen Muetzen, deren breite Krempen an den gewoehnlichen Hut des Pierrot erinnerten. Andere in langem Ueberrock und auf dem Kopfe ein kleines Scheitelkaeppchen, wie es die polnischen Juden tragen. Frauengestalten mit glitzerndem Schmucke auf der Brust und einem sich halbmondfoermig erhebenden Diadem auf dem Kopfe, standen plaudernd in Gruppen bei einander. Polizei-Officianten inmitten der Volksmenge und Kosaken, die Lanze in der Faust, hielten auf Ordnung und schafften Raum, sowohl fuer die Passagiere, die den "Kaukasus" hier verliessen, als auch fuer andere, welche hier das Schiff bestiegen, Alles aber erst nach sorgfaeltiger Musterung jedes Einzelnen. Zum Theil waren das von dem Ausweisungsdecret betroffene Asiaten, zum andern Theil verschiedene Mujiks, die in Kasan verblieben. Gleichgiltig betrachtete Michael Strogoff dieses Ab- und Zustroemen, das man an jedem Dampfschifflandungsplatze ebenso sieht. Der "Kaukasus" sollte behufs Einnahme neuen Brennmaterials in Kasan eine Stunde rasten. An's Land zu gehen, kam Michael Strogoff gar nicht in den Sinn. Er haette die bis jetzt noch nicht wieder erschienene junge Lieflaenderin nicht auf dem Schiffe allein lassen koennen. Die beiden Journalisten hatten sich schon mit Tagesanbruch erhoben, wie sich's eben fuer eifrige Jaeger schickt. Sie begaben sich auf das Ufer und mischten sich, jeder auf eigene Hand, unter die Menge. Michael Strogoff beobachtete sowohl Harry Blount mit dem Notizbuche in der Hand, wie er entweder einige Erscheinungen fluechtig skizzirte oder Bemerkungen eintrug, als auch Alcide Jolivet, der im Vertrauen auf die Treue seines Gedaechtnisses nur plaudernd umher lief. Laengs der ganzen Ostgrenze Russlands schwirrte das Geruecht durch die Luft, dass die Empoerung und der Einfall sehr gefaehrliche Dimensionen annaehmen. Schon wurden die Verbindungen zwischen Sibirien und dem Reiche ungemein schwierig. Michael Strogoff erfuhr das, ohne den "Kaukasus" verlassen zu haben, von verschiedenen neuen Ankoemmlingen. Erfuellten ihn diese Nachrichten auch mit einer gewissen Unruhe, so erweckten sie doch gleichzeitig desto gebieterischer das Verlangen, die Uralkette zu ueberschreiten, um selbst ueber die Bedeutung der Ereignisse urtheilen und Vorbereitungen zur Beseitigung etwaiger Hindernisse treffen zu koennen. Fast haette er einen Eingeborenen aus Kasan um weitere Einzelheiten gefragt, als seine Aufmerksamkeit ploetzlich abgelenkt wurde. Unter den Reisenden, welche den "Kaukasus" verliessen, erkannte Michael Strogoff jene Tsiganen, die gestern noch auf der Messe in Nishny-Nowgorod figurirten. Auf dem Verdecke standen der alte Zigeuner und das Weib, die ihn einen Spion genannt hatte. Mit ihnen, und jedenfalls unter ihrer Fuehrung, schifften sich etwa zwanzig Taenzerinnen und Saengerinnen im Alter von fuenfzehn bis zwanzig Jahren aus, deren elende Lumpen nur nothduerftig den Flitterstaat darunter verhuellten. Diese glitzernden Stoffe, auf welche eben die Strahlen der Sonne fielen, erinnerten Michael Strogoff lebhaft an den Eindruck der vergangenen Nacht. Es war der naemliche Zigeunerputz, der im Dunklen aufblitzte, wenn aus dem Rauchfang des Steamers einige Flammen emporlohten. "Offenbar, so sagte er sich, hielt sich dieser Tsiganentrupp tagsueber unter dem Verdeck auf und wollte sich waehrend der Nacht unter dem Vordercastell verkriechen. Hielten die Leute es fuer gut, moeglichst wenig gesehen zu werden? Das ist aber doch sonst ihre Art nicht!" Michael Strogoff schwand nun jeder Zweifel, dass der ihn besonders angehende Redesatz von dieser dunklen Gruppe hergeruehrt habe, die nur dann und wann ein Glitzern und Funkeln verrieth, und dass jene Worte zwischen dem alten Tsiganen und dem Weibe, das er Sangarre nannte, gewechselt worden seien. Wider Willen naeherte sich Michael Strogoff der Austrittsstelle des Steamers, gerade als die Zigeunertruppe diesen verliess, um nicht wieder zu kehren. Dort stand der Alte in sehr demuethiger, mit der natuerlichen Unverschaemtheit seiner Stammesgenossen wenig uebereinstimmender Haltung. Er sah aus, als meide er es moeglichst gesehen zu werden, statt die Blicke Anderer auf sich zu lenken. Sein schaebiger, von der Sonne des ganzen Erdballs verbrannter Hut sass tief in dem runzeligen Gesicht. Ueber seinem breiten Ruecken bauschte sich trotz der Waerme der Sonne ein weiter Kittel. Es waere schwierig gewesen, unter dieser erbaermlichen Huelle seine Figur deutlich zu erkennen. Neben ihm stand die Tsiganerin Sangarre, eine grosse Frau von dreissig Jahren, mit braunem Teint, guter Constitution, praechtigen Augen und ueppigem Haar in stolzer Haltung. Einige der jungen Taenzerinnen waren von auffallender Schoenheit, und Alle zeigten die ausgesprochenen Merkmale ihrer Race. Die Tsiganenfrauen sind im Allgemeinen anziehend und mehr als einer der russischen Grossen, welche mit den Englaendern gern an Excentricitaet wetteifern, hat sich nicht entbloedet, ein Weib aus diesem Stamme zu waehlen. Eine von Jenen sang ein Liedchen von eigenthuemlichem Rhythmus vor sich hin, dessen erste Verse man etwa so uebersetzen koennte: Am braunen Hals die Koralle blinkt, Die goldene Nadel im Haar; Ich ziehe, wo immer das Glueck mir winkt, Zum Lande der ... Die lustige Dirne sang gewiss weiter, doch Michael Strogoff hoerte sie nicht mehr. Es schien, als ob der durchdringende Blick Sangarre's mit besonderer Aufmerksamkeit auf ihm hafte, und als wollte die Zigeunerin seine Zuege ihrem Gedaechtniss unausloeschlich einpraegen. Einige Minuten spaeter verliess dann auch Sangarre den "Kaukasus", als der Alte mit seiner Truppe schon am Lande war. "Die reine Zigeunerfrechheit! murmelte Michael Strogoff. Sollte sie mich als Denselben wieder erkannt haben, den sie in Nishny-Nowgorod mit 'Spion' titulirte? Diese verdammten Tsiganen haben Katzenaugen! Sie sehen auch deutlich in der Nacht, und Diese koennte wohl wissen ..." Michael Strogoff war auf dem Punkte, Sangarre und der Gesellschaft zu folgen, aber er bezwang sich noch. "Nein, nein, dachte er, keinen unueberlegten Schritt! Lasse ich den alten Wahrsager und seine Bande festnehmen, so laufe ich Gefahr, mein Incognito aufgeben zu muessen. Sie sind ja fort, und bevor sie ueber die Grenze gelangen koennen, werde ich schon weit ueber den Ural hinaus sein. Ich weiss wohl, dass sie den Weg von Kasan nach Tschim einschlagen koennen, aber dieser bietet keinerlei Befoerderungsmittel, und ein Tarantass mit tuechtigen sibirischen Rossen kommt einem Zigeunerwagen allemal zuvor. Also ruhig, bleib' ruhig, Freund Korpanoff!" Jetzt waren der alte Tsigane und Sangarre auch schon unter der Menge verschwunden. Wenn Kasan mit Recht "das Thor Asiens" genannt wird, wenn man diese Stadt als den Mittelpunkt des Handels von Sibirien und Bukhara ansieht, so kommt das von den zwei hier zusammenlaufenden Strassenzuegen her, welche ueber die Paesse des Uralwalles fuehren. Michael Strogoff hatte mit guter Absicht den ueber Perm, Jekaterinenburg und Tiumen vorgezogen. Er bildet die grosse Poststrasse, besitzt reichliche, vom Staate unterhaltene Stationen mit Relais und setzt sich ueber Tschim bis Irkutsk fort. Daneben verbindet freilich eine zweite Strasse, - eben jene von Michael Strogoff erwaehnte, - Kasan und Tschim mit Vermeidung des kleinen Umweges ueber Perm, welche ueber Jelabuga, Menzelinsk, Birsk, Zlatoutse, wo sie Europa verlaesst, und ueber Tschelabinsk, Kadrinsk und Kurganne fuehrt. Mag sie auch etwas kuerzer sein, als jene, so haelt der Mangel an Posthaeusern, der schlechte Zustand der Wege und die Seltenheit von Doerfern diesem Vortheil gewiss die Wage. Michael Strogoff musste mit seiner Wahl um so zufriedener sein, da ihm, wenn die Zigeuner den zweiten Weg von Kasan nach Tschim einschlugen, alle Chancen blieben, vor ihnen anzukommen. Eine Stunde spaeter laeutete die Glocke auf dem Vorderdeck des "Kaukasus", rief die neuen Passagiere herzu und die alten zurueck. Es mochte bald acht Uhr sein. Die Einnahme von Brennmaterial war beendet. Die Wandungen der Kessel zitterten unter der Pressung der Daempfe. Das Schiff konnte jeden Augenblick abfahren. Die Reisenden von Kasan nach Perm hatten ihre Plaetze an Bord schon eingenommen. Da fiel es Michael Strogoff auf, dass von den beiden Journalisten nur der eine, Harry Blount, nach dem Dampfer zurueck gekehrt war. Sollte Alcide Jolivet die Abfahrt versaeumen? Aber gerade in dem Augenblick, als man die Taue loeste, erschien Alcide Jolivet in vollem Laufe. Schon war der Steamer etwas abgestossen und die Landungsbruecke auf den Kai zurueck gerollt, der leichtfuessige Held der Feder bekuemmerte sich darum nicht viel, mit der Gewandtheit eines Clown setzte er ueber die Luecke und fiel auf dem Deck des "Kaukasus", fast in die Haende seines Collegen, nieder. "Ich glaubte schon, der 'Kaukasus' sollte ohne Sie weiter gehen, sagte Dieser mit einem Gesicht, das halb einer Feige und halb einer Weintraube aehnelte. -- Was da! antwortete Alcide Jolivet, ich haette Sie schon einzuholen gewusst und sollte ich deshalb auch auf Kosten meiner Cousine ein Extraschiff chartern oder mit Extrapost, per Pferd und Werst fuer zwanzig Kopeken, nachreisen. Was meinen Sie? Vom Landungsplatze bis zum Telegraphenbureau ist's eine tuechtige Strecke. -- Sie waren nach dem Telegraphen, fragte Harry Blount, dessen Lippen sich dabei zusammenzogen. -- Ja, ich bin dahin gegangen! erwiderte Alcide Jolivet mit dem liebenswuerdigsten Laecheln. -- Nun, er ist bis Kolyvan noch in Ordnung? -- Das weiss ich nicht, kann Ihnen dafuer aber versichern, dass er z. B. von Kasan nach Paris noch bestens in Gang ist. -- Sie gaben eine Depesche auf ... an Ihre Cousine?... -- Mit reinem Feuereifer! -- Sie haben also gehoert ... -- Erlauben Sie, Vaeterchen, um wie die Russen zu sprechen, antwortete Alcide Jolivet; ich bin wirklich ein gutes Kind und mag kein Geheimniss vor Ihnen haben. Die Tartaren, Feofar-Khan an der Spitze, sind ueber Semipalatinsk hinaus gedrungen und schwaermen in hellen Haufen laengs der Ufer des Irtysch. Benutzen Sie das nach Gefallen!" Wie! Eine so wichtige Neuigkeit, und Harry Blount kannte sie noch nicht, waehrend sein Rival, der sie von irgend einem Einwohner aus Kasan haben mochte, sie schon telegraphisch nach Paris gemeldet hatte! Die englische Zeitung war um zwei Pferdelaengen geschlagen! Der arme Harry Blount wandelte, die Haende auf dem Ruecken gekreuzt, nach dem Hinterdeck und setzte sich dort nieder, ohne eine Sylbe zu sprechen. Gegen zehn Uhr Morgens verliess die junge Lieflaenderin ihre Cabine und erschien auf dem Verdeck. Michael Strogoff ging ihr entgegen und bot ihr die Hand. "Sieh Dich hier um, Schwester", mahnte er, als Beide nach dem Vordertheile des Schiffes gelangt waren. Die Umgegend lohnte wirklich eine aufmerksamere Betrachtung. Der "Kaukasus" erreichte jetzt den Zusammenfluss der Wolga und Kama. Hier verliess er nach einer Thalfahrt von ueber 400 Werst jenen Strom, um den immerhin bedeutenden Fluss 460 Werst (= 490 Kilom.) weit stromauf zu durchpfluegen. An dieser Vereinigungsstelle der beiden Wasserlaeufe mischten sich deren verschieden gefaerbte Fluthen, wobei die klarere Kama hier dem linken Ufer denselben Dienst leistete, wie bei Nishny-Nowgorod die Oka dem rechten, und zur Verbesserung des Wassers sichtbar beitrug. Die Kama endigte in weitgeoeffneter Muendung, umrahmt von lieblich bewaldeten Ufern. Einige weisse Segel belebten das reinliche Wasser, auf dem die Sonne in vollem Glanze lag. Mit Espen, Erlen und dann und wann mit maechtigen Eichen geschmueckte Huegel schlossen den Horizont in harmonischer Linie ab, die bei dem blendenden Mittagslichte da und dort mit den Tiefen des Himmels zu verschmelzen schien. Und doch schien es, als blieben diese Naturschoenheiten ohne allen Eindruck auf den Gedankengang des jungen Maedchens. Sie hatte nur Eins im Auge: ihr Reiseziel zu erreichen! - Die Kama bildete fuer sie nur einen leichteren Weg, dahin zu gelangen. Wie glaenzten ihre Augen in schoenem Feuer auf, wenn sie diese nach Westen richtete, so als wollte sie den fernen Horizont durchbohren. Nadia hatte die Hand in der ihres Gefaehrten gelassen und fragte, indem sie sich zu ihm hinwendete: "Wie weit sind wir jetzt von Moskau weg? -- Neunhundert Werst, antwortete Michael Strogoff. -- Neunhundert auf sieben Tausend!" seufzte das junge Maedchen. Die Zeit zum Fruehstuecken war gekommen; das Laeuten einer Glocke meldete es den Reisenden. Nadia folgte Michael Strogoff nach den Restaurationsraeumen des Steamers. Sie beruehrte die auf einer seitlichen Tafel servirten Vorspeisen nicht, unter denen sich Caviar, Haering in Stuecken, anishaltiger Kornbranntwein u. dergl. zur Anregung des Appetites befand, eine Sitte, der man in allen noerdlichen Laendern, in Russland ebenso wie in Schweden und Norwegen begegnet. Nadia ass nur wenig, etwa wie ein armes Maedchen, deren beschraenkte Mittel sie nicht weiter gehen liessen. Michael Strogoff glaubte sich also auch mit den Gerichten zufrieden geben zu sollen, welche seiner Gefaehrtin genuegten, naemlich ein wenig "Kulbat", eine Art Pastete aus Reis, Eidotter und geklopftem Fleisch; Rothkohl mit Caviar und als Getraenk etwas Thee. Diese Mahlzeit war weder lang noch kostspielig, und kaum zwanzig Minuten, nachdem sie sich zu Tisch gesetzt hatten, betraten Michael Strogoff und Nadia wieder das Deck des "Kaukasus". Sie setzten sich auf dem Hinterdeck nieder, und Nadia begann ohne alle Umschweife, aber mit leiser Stimme, um nur von ihrem Nachbar gehoert zu werden: "Bruder, ich bin die Tochter eines Verbannten. Ich heisse Nadia Fedor. Vor kaum einem Monat starb in Riga meine Mutter, und ich begebe mich jetzt nach Irkutsk, um meinen Vater aufzusuchen und sein Exil zu theilen. -- Auch ich gehe nach Irkutsk, antwortete Michael Strogoff, und werde es als eine Gnade des Himmels betrachten, Nadia Fedor frisch und gesund in die Arme ihres Vaters zu fuehren. -- Ich danke, Bruder!" erwiderte Nadia. Michael Strogoff fuegte noch hinzu, dass er fuer Sibirien einen speciellen Podaroshna erhalten habe und ihrer Reise seitens der russischen Behoerden kein Hinderniss im Wege stehen werde. Nadia fragte nicht weiter. Sie sah in der zufaelligen Begegnung dieses einfachen, gutherzigen jungen Mannes nur Eins: das Hilfsmittel zu ihrem Vater zu gelangen! "Ich besass, fuhr sie fort, einen Pass, der mir erlaubte, nach Irkutsk zu gehen; ihn hat der Erlass des Generalgouverneurs zu Nishny-Nowgorod ungiltig gemacht, und ohne Dich, Bruder, haette ich die Stadt, in der Du mich wieder fandest und in welcher ich umgekommen waere, nicht verlassen koennen. -- Und allein, Nadia, bemerkte Michael Strogoff, ganz allein wolltest Du Dich durch die Steppen Sibiriens wagen? -- Es war meine Pflicht, Bruder. -- Wusstest Du aber nicht, dass das empoerte und von Feinden ueberschwemmte Land kaum zu passiren ist? -- Der Tartareneinfall war, als ich Riga verliess, noch nicht bekannt, erwiderte die junge Lieflaenderin. In Moskau erst erfuhr ich diese Neuigkeiten. -- Und setztest trotzdem Deine Reise fort? -- Es war meine Pflicht." Aus diesem Worte sprach der ganze Charakter des muthigen, jungen Maedchens. Was sie fuer ihre Pflicht erkannte, zoegerte Nadia niemals auszufuehren. Sie sprach dann von ihrem Vater, Wassili Fedor. Er war in Riga ein geschaetzter Arzt, betrieb seine Kunst mit Erfolg und lebte gluecklich im Kreise der Seinen. Nach seinem Beitritt zu einer auslaendischen geheimen Gesellschaft aber erhielt er den Befehl zugestellt, nach Irkutsk zu gehen und die Gensdarmen, welche jene Ordre ueberbrachten, geleiteten ihn ohne Verzug ueber die Grenze. Wassili Fedor liess man kaum Zeit, sein damals schon leidendes Weib und seine hilflos zurueckbleibende Tochter zu umarmen, und er vergoss heisse Thraenen beim Abschiede von den beiden, ihm so theuren Wesen. Seit zwei Jahren bewohnte er nun die Hauptstadt Ostsibiriens und hatte dort, aber fast ohne pecuniaeren Vortheil, seine Praxis weiter betreiben koennen. Und doch waere er wohl so gluecklich gewesen, wie das einem Verbannten ueberhaupt moeglich ist, haette er Weib und Kind um sich haben koennen. Frau Fedor vermochte es ihrer Schwaechlichkeit wegen aber auch schon damals nicht, Riga zu verlassen. Zwanzig Monate nach der Abreise des Gatten hauchte sie in den Armen der Tochter, welche nun ganz verwaist dastand, ihre Seele aus. Nadia Fedor ging die Behoerden nun um die bald zugestandene Erlaubniss an, ihren Vater in Irkutsk aufzusuchen. Sie schrieb Diesem, dass sie abreisen werde. Kaum vermochte sie die Mittel zu dieser weiten Reise aufzubringen, zauderte aber doch nicht, sie zu unternehmen. Sie that, was sie konnte!... Gott wuerde das Uebrige thun! Indess arbeitete sich der "Kaukasus" gegen den Strom vorwaerts. Die Nacht brach an und die Luft kuehlte sich erquickend ab. Zu Tausenden sprangen die Funken aus dem Rauchfange der Fichtenholzfeuerung des Dampfers, und zu dem Murmeln der an seinem Vordersteven gebrochenen Wellen gesellte sich das Geheul der Woelfe, die sich am rechten Kama-Ufer umhertrieben. Neuntes Capitel. Tag und Nacht im Tarantass. Am folgenden Tage, dem 19. Juli, legte der "Kaukasus" am Landungsplatze in Perm an, der letzten Station, die er an der Kama beruehrte. Das Gouvernement, dessen Hauptstadt Perm bildet, ist eines der umfaenglichsten in ganz Russland und greift ueber das Uralgebirge hinweg bis nach Sibirien hinueber. Marmorbrueche, Salinen, Platin- und Goldlager, sowie Steinkohlengruben werden dort in grossem Massstabe ausgebeutet. Perm mag allen Umstaenden nach dereinst eine Stadt ersten Ranges werden; vorlaeufig aber ist es wenig anziehend, schmutzig und bietet keinerlei Hilfsquellen. Fuer Diejenigen, welche von Russland nach Sibirien gehen, faellt jener Mangel an Comfort nicht allzu sehr in's Gewicht, denn Diese sind gewoehnlich mit allem Noethigen hinlaenglich versehen; den Ankoemmlingen aus Centralasien dagegen wuerde es nach ihrer langen und beschwerlichen Reise gewiss recht angenehm sein, die erste europaeische Stadt des Reiches an der asiatischen Grenze reichlicher mit den verschiedensten Gegenstaenden des Bedarfs versorgt zu sehen. In Perm pflegen die Reisenden ihre bei der langen Fahrt durch die Steppen meist mehr oder weniger beschaedigten Wagen zu veraeussern; andererseits kauft hier, wer von Europa nach Asien gehen will, im Sommer Wagen, im Winter Schlitten, bevor er sich fuer mehrere Monate in die verlassenen Steppenwuesten wagt. Michael Strogoff hatte schon sein umfassendes Reiseprogramm entworfen und durfte dasselbe nur erfuellen. Gewoehnlich besteht zwar ein Postverkehr, der die Uralkette ziemlich schnell ueberschreitet; unter dem Druck der augenblicklichen Verhaeltnisse hatte man diesen aber einstellen muessen. Auch ohnedem haette Michael Strogoff, dem es auf die groesste Eile ankam, auf dieses Befoerderungsmittel verzichtet, und wuerde er es, um von Niemand abhaengig zu sein, vorgezogen haben, selbst einen Wagen zu kaufen und auf jeder Station die Pferde zu wechseln, wobei er durch splendide "_na vodku_" (Trinkgelder) den Eifer der Postillone anzuspornen hoffen durfte. Zum Unglueck hatten in Folge der gegen die Fremden asiatischer Herkunft beliebten Massnahmen schon sehr viele Reisende Perm verlassen, in Folge dessen Transportmittel sehr selten geworden waren. Michael Strogoff kam also in die Lage, sich mit dem von Anderen Verschmaehten zu begnuegen. Bezueglich der Spannkraft konnte der Courier des Czaaren ausserhalb Sibiriens wohl seinen Podaroshna in's Treffen fuehren, auf welchen hin ihn die Postmeister ohne Widerspruch und vor allen Uebrigen befriedigen wuerden. Einmal ausser dem europaeischen Reiche aber sah er sich gleich jedem Andern auf die Hilfe der blinkenden Silberrubel beschraenkt. An welche Art Wagen sollten aber die Pferde gespannt werden, an einen Tarantass oder einen Teleg? Der Teleg ist ein vollkommen offenes, vierraederiges Waegelchen und durchweg aus Holz construirt. Raeder, Axen, Schlussnaegel, Sitze und Deichsel, alles stammt von den Baeumen der Nachbarschaft her, wobei die Verbindung der einzelnen Theile eines solchen Teleg nur durch haltbare Stricke hergestellt ist. Es giebt nichts Primitiveres, Nichts, was so sehr alles Comforts entbehrt, aber auch Nichts, was unterwegs im Fall einer Beschaedigung leichter wieder in Stand zu setzen waere. An Tannen fehlt es laengs der russischen Grenze nicht, und die Schlussnaegel wachsen in den Waeldern. Mittels solcher Telegs, denen alle Wege gut genug sind, werden die unter dem Namen "Perekladnoi" bekannten Extraposten befoerdert. Manchmal reissen zwar die Seile, welche das Ganze zusammenhalten, und waehrend der Hintertheil irgend wo ruhig stecken bleibt, kommt nur der Vordertheil des Fuhrwerks bei dem naechsten Relais auf zwei Raedern an; aber man ist auch mit dieser Errungenschaft schon zufrieden. Michael Strogoff haette sich ebenfalls zu einem solchen Teleg bequemen muessen, wenn es ihm nicht gelungen waere, noch einen Tarantass aufzutreiben. Es glaube aber Niemand, dass ein derartiges Gefaehrt auf der obersten Staffel der Wagenbaukunst stehe. Federn z. B. gehen ihm ebenso ab, wie dem Teleg; wegen Mangels an Eisen ist auch bei ihm das Holz nicht gespart; aber seine am Ende jeder Axe acht bis neun Fuss von einander entfernten Raeder sichern ihm wenigstens auf den holperigen und oft sehr unebenen Strassen ein gewisses Gleichgewicht. Ein Schirm schuetzt die Insassen vor dem aufspritzenden Kothe des Weges, eine starke Lederdecke, welche herabgezogen das Gefaehrt fast hermetisch verschliesst, vor dem Sonnenbrande und den nicht seltenen Windstoessen im Sommer. Im Uebrigen ist der Tarantass ebenso solid gebaut und leicht reparirbar, wie der Teleg, und andererseits weniger dem Unfall ausgesetzt, einen Theil im Schlamme stecken zu lassen. Michael Strogoff gelang es nur mit grosser Muehe, einen solchen Tarantass aufzufinden; vielleicht gab's in der ganzen Stadt Perm jetzt keinen zweiten mehr. Trotzdem feilschte er der Form wegen bei dessen Einkaufe nicht wenig, um seiner Rolle als einfacher Kaufmann Nicolaus Korpanoff auch hier treu zu bleiben. Nadia folgte ihrem Reisegefaehrten bei seinen Nachsuchungen nach einem Fuhrwerke. Trotz ihres verschiedenen Zweckes hatten doch Beide dieselbe Eile, an das Ziel zu gelangen und demnach baldigst abzureisen. Man koennte sagen, dass sie ein und derselbe Wille draengte. "Schwester, begann Michael Strogoff, ich haette fuer Dich gerne eine bequemere Fahrgelegenheit gesucht. -- Du sagst das zu mir, Bruder, zu mir, die ich im Nothfalle auch zu Fuss aufgebrochen waere, um meinen Vater zu finden. -- An Deinem Muthe, Nadia, zweifele ich nicht, aber es giebt physische Anstrengungen, denen ein Weib nicht gewachsen ist. -- Ich wuerde sie aber ertragen, welcher Art sie auch seien! entgegnete das junge Maedchen. Wenn Du eine Klage ueber meine Lippen kommen hoerst, so verlass mich und setze Deinen Weg allein fort!" Eine halbe Stunde spaeter standen, nach Vorzeigung des Podaroshna, drei Postpferde vor dem Tarantass angeschirrt. Diese langhaarigen Thiere aehnelten fast den Baeren. Sie waren, wie die sibirische Race ueberhaupt, klein, aber feurig. Der Postillon, der Jemschik, hatte sie folgendermassen angespannt: das eine, etwas groessere, stand zwischen einer Gabeldeichsel mit einem Bogen am vorderen Ende, der mit Schellen und Gloeckchen behangen war, d. i. der russische "_duga_"; die beiden andern waren einfach mittels Seilen an das Fussgestell des Tarantass gekoppelt. Von Zaum und Gebiss keine weitere Spur; als Zuegel diente einfache Hanfschnur. Weder Michael Strogoff noch die junge Lieflaenderin fuehrten vieles Gepaeck mit sich. Die Hauptbedingung der Schnelligkeit, mit der der Eine reisen musste, und die mehr als bescheidenen Mittel der Anderen hatten jede Ueberlastung mit Collis von vornherein verhindert. Jetzt kam ihnen das sehr zu Statten, denn der Tarantass haette entweder das Gepaeck oder die Reisenden nicht aufnehmen koennen. Er war, den Postillon ungerechnet, nur fuer zwei Personen eingerichtet, und Jener hielt sich auf seinem Sitze auch nur wie durch ein Wunder von Gleichgewicht aufrecht. Dieser Jemschik wechselt uebrigens bei jedem Relais. Der Fuehrer des Tarantass auf der ersten Strecke war ein geborener Sibirier, gleich seinen Rossen, auch nicht minder behaart wie diese und trug die im Uebrigen langen Haare ueber der Stirn viereckig beschnitten, einen breitkrempigen Hut, rothen Guertel und einen Capot mit kreuzweisen Schnueren an Knoepfen mit dem kaiserlichen Abzeichen. Als der Jemschik mit seiner Bespannung ankam, musterte er die Reisenden des Tarantass erst mit pruefendem Blicke. Kein Gepaeck! - Aber wo zum Teufel haette er solches unterbringen wollen? - Magere Aussichten! Er machte eine nicht misszudeutende Bewegung. "Ein Paar Raben, sagte er halb fuer sich und unbekuemmert darum, ob er verstanden wurde oder nicht, Raben fuer sechs Kopeken die Werst. -- Nein, Adler, antwortete Michael Strogoff, der seinen Postillonsjargon recht wohl verstand, Adler, hoerst Du, zu neun Kopeken die Werst, ohne das Trinkgeld!" Ein lustiger Peitschenknall antwortete ihm. Der "Rabe" bedeutet in der Sprache der russischen Postillone den geizigen oder unbemittelten Reisenden, der bei den Bauernrelais die Pferde nur mit zwei oder drei Kopeken per Werst bezahlt. Ein "Adler" dagegen ist der Reisende, der auch vor hohen Preisen nicht zurueckschreckt und reichlich Trinkgelder wegwirft. Deshalb kann auch der Rabe nicht Anspruch machen, ebenso schnell dahin zu fliegen, wie der Koenig der Voegel. Nadia und Michael Strogoff nahmen sofort ihre Plaetze in dem Tarantass ein. Einiger wenig umfaenglicher Proviant, der in den Sitzkaesten untergebracht wurde, gewaehrte ihnen die Sicherheit, auch eine Verzoegerung erleiden zu koennen, wenn sie einmal die durch Fuersorge des Staates wohlversehenen Posthaeuser nicht sogleich erreichen sollten. Die Wagendecke wurde uebergezogen zum Schutz gegen die unausstehliche Hitze, und gegen Mittag verliess der Tarantass, von drei schnaubenden Rossen gezogen, Perm, und flog in eine dichte Staubwolke gehuellt dahin. Die Manier, wie der Jemschik seine Pferde im Gang hielt, haette jedem Reisenden, der nicht geborener Russe oder Sibirier ist, hoechlichst verwundern muessen. Das etwas groessere Pferd in der Gabel hielt ungestoert, wie abschuessig der Weg auch war, einen gestreckten Trab von untadelhafter Regelmaessigkeit ein. Die beiden Seitenpferde schienen eine andere Gangart als Galop gar nicht zu kennen und sprangen ganz nach Laune nebenher. Der Jemschik schlug sie niemals, sondern trieb sie nur durch den scharfen Knall seiner Peitsche an. Wie viele Schmeichelnamen verschwendete er aber, wenn sie sich als gelehrige und einsichtige Thiere erwiesen, die Namen der Heiligen gar nicht zu rechnen, welche er fuer sie borgte! Die Schnur, die ihm als Zuegel diente, waere gegenueber den ausgelassenen Thieren wohl ganz nutzlos gewesen, aber "_na pravo_", rechts, oder "_na levo_", links, diese, von einer rauhen Kehlstimme gesprochenen Worte thaten hier mehr Wirkung, als Zuegel und Zaum. Und welche Liebesnamen gebrauchte gelegentlich der wuerdige Rosselenker! "Vorwaerts, meine Tauben! rief der Jemschik, vorwaerts meine artigen Schwalben! Fliegt zu, meine Turteltaeubchen! Immer dran, mein Vetter zur Linken! Greif' aus, Vaeterchen zur Rechten!" Wenn sie aber nachliessen im Laufe, traten an diese Stelle ebenso vielseitige Verwuenschungen, deren Werth die Thiere recht wohl zu kennen schienen. "Lauf zu, Du Hoellenschnecke, Du! Weh Dir, Du Blindschleiche! ich erwuerge Dich bei lebendigem Leibe, Du Schildkroete! Du sollst noch in jener Welt verdammt sein!" Was man aber auch denken moege ueber diese Art der Pferdefuehrung, welche mehr die Soliditaet der Kehle als die Kraft der Arme des Kutschers in Anspruch nahm, jedenfalls flog der Tarantass nur so dahin und bewaeltigte zwoelf bis vierzehn Werst in der Stunde. Michael Strogoff war ebenso an diese Art Wagen, wie an dessen Befoerderung gewoehnt. Weder das Schuetteln noch das Huepfen des Gefaehrtes belaestigte ihn. Er wusste, dass ein russisches Gespann weder Feldsteine, noch Gleise oder tiefe Loecher vermeidet, so wenig wie umgestuerzte Baumstaemme oder Graeben, die den Weg sperren. Ihm war das nicht neu. Seine Gefaehrtin freilich lief Gefahr, durch dieses Stossen des Tarantass verletzt zu werden, doch sie beklagte sich nicht. Die erste Zeit der Fahrt verhielt sich Nadia, als sie so schnell dahin gerissen wurde, ganz stumm. Endlich, immer von dem Gedanken: Ankommen, nur ankommen! verfolgt, begann sie: "Von Perm nach Jekaterinenburg rechnete ich 300 Werst, Bruder. Habe ich mich geirrt? -- Gewiss nicht, Nadia, erwiderte Michael Strogoff, und in Jekaterinenburg werden wir den Fuss des jenseitigen Uralabhanges erreicht haben. -- Wie lange wird die Fahrt durch die Berge dauern? -- Achtundvierzig Stunden, da wir Tag und Nacht reisen, - ich sage Tag und Nacht, denn ich darf keinen Augenblick verlieren und muss ohne Saeumen nach Irkutsk eilen. -- Ich werde Dich nicht aufhalten, Bruder, nicht eine Stunde; wir wollen Tag und Nacht fahren. -- Nun, Nadia, wenn uns der Einfall der Tartaren nicht die Wege verlegt, so koennen wir vor Verlauf einer Woche angekommen sein. -- Du hast diese Reise schon einmal gemacht? -- Schon mehrere Male. -- Im Winter wuerden wir schneller und sicherer vorwaerts kommen, nicht wahr? -- Schneller gewiss, doch wuerdest Du von der Kaelte und dem Schnee schwer gelitten haben. -- Warum? Der Winter ist ja des Russen Freund. -- Ja wohl, Nadia, aber es gehoert doch ein gewisses Temperament dazu, diese Freundschaft auszuhalten. Wiederholt habe ich die Kaelte in den Steppen Sibiriens bis unter vierzig Grad herabgehen sehen. Ich habe trotz meiner Kleidung aus Rennthierfell(2) mein Herz sich mit Eis ueberziehen, meine Glieder sich zusammenkruemmen, meine Fuesse unter dreifacher wollener Umhuellung erfrieren sehen! Ich sah die Pferde meines Schlittens bedeckt mit einem Eispanzer und ihren Athem vor den Nuestern erstarren. Ich sah es, wie der Branntwein in meiner Kuerbisflasche zu Stein wurde, so dass kein Messer ihn schneiden konnte!... Mein Schlitten aber flog dahin wie ein Orkan! Da gab es keine Hindernisse auf der geglaetteten und unuebersehbar weissen Ebene! Keine Wasserlaeufe, durch die man sonst eine passirbare Furth suchen musste! Keine Seen, welche Schiffe noethig machten! Allueberall das harte Eis, die freie, sichere Strasse. Aber um den Preis welcher Leiden, Nadia! Die allein koennten sie melden, welche nicht wiederkamen und deren Leichname der wehende Schnee begrub! -- Und doch bist Du zurueck gekehrt, Bruder! sagte Nadia. -- Ja, aber ich bin Sibirier, und schon als Kind, wenn ich meinem Vater bei seinen Jagdzuegen folgte, gewoehnte ich mich an all' diese harten Proben. Als Du, Nadia, mir aber sagtest, dass der Winter Dich nicht zurueck gehalten haette, dass Du abgereist waerst mit dem Vorsatze, gegen das fuerchterliche, unwirthbare Klima Sibiriens anzukaempfen, da sah ich Dich schon im Geiste verloren im Schnee niedersinken, um niemals wieder aufzustehen! -- Wie oft bist Du im Winter durch die Steppe gekommen? fragte die junge Lieflaenderin. -- Dreimal, Nadia, wenn ich nach Omsk ging. -- Und was thatest Du in Omsk? -- Ich besuchte meine Mutter, welche mich erwartete. -- Und ich, ich gehe nach Irkutsk, wo mein Vater meiner harrt. Ich will ihm die letzten Worte meiner Mutter bringen! Glaubst Du nun, Bruder, dass mich Nichts haette zurueckhalten koennen? -- Du bist ein braves Kind, Nadia, antwortete Michael Strogoff, und Gott wuerde Dir geholfen haben!" Diesen Tag ueber wurde der Tarantass durch die bei jedem Relais wechselnden Jemschiks sehr schnell weiter befoerdert. Die Adler der Berge haetten ihren Namen durch jene "Adler" der Landstrasse nicht als entehrt ansehen koennen. Der hohe Preis fuer jedes Pferd, die reichlich gespendeten Trinkgelder dienten den Reisenden als ganz besonders wirksame Empfehlung. Den Postmeistern mochte es nach Veroeffentlichung jener Verordnung wohl auffallen, dass ein junger Mann nebst seiner Schwester, beide offenbar Russen, dennoch frei durch Sibirien reisen konnten; indess waren ihre Papiere in Ordnung und gaben ihnen das Recht, zu passiren. So standen denn auch die Kilometer-(Werst-)Pfaehle bald im Ruecken des Tarantass. Uebrigens waren Michael Strogoff und Nadia nicht die einzigen Reisenden auf der Strasse von Perm nach Jekaterinenburg. Schon von den ersten Relais ab hatte der Courier des Czaar bemerkt, dass ein Wagen ihm vorausging, ohne sich, da an Pferden kein Mangel eintrat, darueber besondere Sorge zu machen. Im Verlaufe dieses Tages ward nur einige Male angehalten, um die noethigen Mahlzeiten einzunehmen. Die Posthaeuser boten Unterkunft und Staerkungsmittel; auch wenn man kein Relais erreicht haette, waere das Haus jedes russischen Bauern nicht minder gastlich geoeffnet gewesen. In diesen einander ueberaus aehnlichen Doerfern mit ihren weissen steinernen Capellen und gruenlichen Daechern kann der Reisende wohl an jede Thuer klopfen; sie wird sich gewiss oeffnen. Dann erscheint der Mujik laechelnden Gesichts und giebt seinem Gaste die Hand. Man bietet ihm Brod und Salz an, rueckt den "Samowar" ueber's Feuer und er wird sich bald ganz heimisch fuehlen. Die Familie wuerde im Nothfalle das Haus raeumen, um ihm Platz zu machen. Der ankommende Fremdling ist der Verwandte Aller; er ist der "den Gott selbst sendet". Bei der Ankunft gegen Abend fragte Michael Strogoff, von einem unbestimmbaren Instincte getrieben, den betreffenden Postmeister, vor wie viel Stunden der ihm vorausgehende Wagen das Relais passirt habe. "Vor zwei Stunden, Vaeterchen, berichtete der Postmeister. -- Es ist eine Berline? -- Nein, ein Teleg. -- Wie viel Reisende? -- Zwei. -- Sie haben es eilig? -- Es sind Adler! -- Lasst schleunigst anspannen." Michael Strogoff und Nadia, entschlossen, sich keine Stunde lang aufzuhalten, fuhren die ganze Nacht hindurch. Noch hielt sich die Witterung zwar gut, doch fuehlte man, dass die drueckender gewordene Luft sich allmaelig mit Elektricitaet saettigte. Kein Woelkchen unterbrach die Strahlen der Sonne, und es schien, als stiege ein warmer Dunst aus dem Erdboden auf. Es stand zu befuerchten, dass in den Bergen ein dort meist sehr heftiges Unwetter ausbrechen werde. Michael Strogoff, der gewoehnt war, alle atmosphaerischen Vorzeichen zu deuten, fuehlte einen nahen Kampf der Elemente voraus, der ihn mit einiger Besorgniss erfuellte. Die Nacht verging ohne Zwischenfall. Trotz der Stoesse des Tarantass vermochte Nadia einige Stunden zu schlummern. Die halb zurueckgeschlagene Wagendecke gestattete etwas Luft zu schoepfen, nach der die Lungen in dieser erstickenden Atmosphaere begierig verlangten. Michael Strogoff durchwachte die ganze Nacht; er misstraute den Jemschiks, weil sie so leicht auf ihrem Sitze einschlafen. Keine Stunde wurde auf den Relais verloren, keine Stunde unterwegs. Am folgenden Tage, dem 20. Juli, zeigten sich gegen acht Uhr Morgens die ersten Wellenlinien der Uralberge im Osten. Diese maechtige Kette, die Grenzmauer zwischen dem europaeischen Russland und Sibirien, lag jedoch noch in weiter Ferne und vor Ende des Tages durfte man sie kaum zu erreichen hoffen. Die Ueberschreitung der Berge konnte also voraussichtlich erst waehrend der folgenden Nacht stattfinden. Im Laufe dieses Tages blieb der Himmel durchgaengig bedeckt und in Folge dessen auch die Luftwaerme ertraeglicher, doch wurde die Witterung immer gewitterschwueler. Mit solchen Aussichten erschien es eigentlich rathsamer, sich nicht mitten in der Nacht in die Berge zu wagen, und Michael Strogoff wuerde es gewiss unterlassen haben, wenn er Zeit zum Verweilen gehabt haette; als ihn der Jemschik des letzten Relais aber auf einen fern im Gebirge verrollenden Donner aufmerksam machte, fragte er nur: "Ein Teleg faehrt uns noch immer voraus? -- Ja. -- Welchen Vorsprung mag es jetzt etwa haben? -- Ungefaehr eine Stunde. -- Vorwaerts! - Das dreifache Trinkgeld, wenn wir morgen frueh in Jekaterinenburg sind." Zehntes Capitel. Ein Unwetter in den Uralbergen. Die Uralkette erstreckt sich auf einer Laenge von nahe 3000 Werst (3200 Kilometer) zwischen Europa und Asien hin. Ob man den Namen Ural gebraucht, der tartarischen Ursprungs ist, oder die Bezeichnung "Poyas" aus russischem Sprachstamme, immer sind beide Namen treffend, denn in den betreffenden Sprachen bedeuten diese Worte gleichmaessig den "Guertel". Mit dem einen Fusse an der unwirthlichen Kueste des Arktischen Oceans netzen sie den andern am lieblichen Gestade der Kaspisee. Das war die Grenze, welche Michael Strogoff ueberschreiten musste, um von Russland nach Sibirien zu gelangen, und indem er, wie erwaehnt, die Strasse einschlug, die auf der oestlichen Abdachung des Ural von Perm nach Jekaterinenburg fuehrt, that er deshalb sehr wohl daran, weil das der leichtere und sicherere Weg ist, der auch dem Verkehr des gesammten centralasiatischen Handels dient. Eine Nacht konnte, im Fall kein Hinderniss eintrat, wohl zum Passiren der Berge ausreichen. Leider kuendigte das erste Grollen des Donners ein Unwetter an, das bei dem dermaligen Zustand der Atmosphaere furchtbar zu werden drohte. Die elektrische Spannung war so gross, dass sie sich nur durch heftige Entladungen ausgleichen konnte. Michael Strogoff achtete darauf, dass seine junge Begleiterin bestmoeglich versorgt war. Die Wagendecke, die ein schaerferer Windstoss leicht haette wegreissen koennen, wurde durch ueber und hinter ihr gekreuzte Stricke besser gesichert. Man verdoppelte die Zugstraenge der Pferde und polsterte aus uebergrosser Vorsicht das Stosseisen der Naben mit Stroh aus, sowohl um die Haltbarkeit der Raeder zu vergroessern, als auch um die Stoesse zu mildern, die in einer so dunklen Nacht doch einmal nicht zu vermeiden sein wuerden. Endlich verband man noch den Vorder- und den Hintertheil des Gefaehrtes, deren Achsen einfach an den Kasten des Tarantass angepfloeckt waren, mit einander durch eine mittels Bolzen und Schraubenmuttern befestigte Stange. Dieser Langbaum vertrat die Stelle des gebogenen Holzstueckes, das an den Berlinen die beiden Achsen des Gestells verbindet. Nadia nahm ihren Platz im Wagen wieder ein, und Michael Strogoff setzte sich neben sie. Vor der vollkommen niedergelassenen Wagendecke hingen zwei Ledervorhaenge herab, welche die Insassen bis zu gewisser Grenze vor dem Regen und Sturme schuetzen mussten. An der linken Seite des Kutschersitzes wurden zwei grosse Laternen angebracht, deren fahler Schein mit seinen schiefen Strahlen den Weg nicht gerade sonderlich erhellte; sie bezeichneten aber Stellung und Richtung des Fuhrwerks, und wenn sie auch die Dunkelheit nur wenig zerstreuten, so dienten sie doch zum Schutze gegen das Zusammenstossen mit einem etwa entgegenkommenden Wagen. Man erkennt hieraus, dass keine Vorsichtsmassregel versaeumt wurde, und gegenueber einer so drohenden Nacht waren sie gewiss am Platze. "Wir sind bereit, Nadia, begann Michael Strogoff. -- So wollen wir fahren", antwortete das junge Maedchen. Der Jemschik erhielt Befehl, und der Tarantass schwankte die ersten Vorberge des Urals hinan. Es war acht Uhr und die Sonne nahe ihrem Untergange. Dennoch wurde es, trotz der in jenen Breiten laenger andauernden Daemmerung, schon recht dunkel. Enorme Dunstmassen schienen die Woelbung des Himmels herab zu druecken, doch bewegte sie bis jetzt noch kein Lufthauch. Doch wenn sie auch in der Richtung von Horizont zu Horizont unbewegt blieben, so war das doch nicht in der vom Zenith zum Nadir der Fall, indem ihre Entfernung vom Erdboden fast sichtbar abnahm. Einzelne Streifen schimmerten in einer Art phosphorescirenden Lichtes und erschienen dem Auge in Bogenform von sechzig bis achtzig Grad Spannweite. Schichtenweise naeherten sie sich der Erde und verengten die Maschen ihres Netzes, so als sollten sie den Gebirgsstock umstricken und als jagte sie ein Orkan in den hoeheren Luftschichten von oben nach unten. Die Strasse fuehrte diesen gewaltigen, dichten und ihrer Condensirung offenbar nahen Wolken gerade entgegen. Binnen Kurzem mussten Strasse und Dunstmassen einander begegnen, und loesten die Wolken sich dann nicht in Regen auf, so drohten sie mit einem Nebel, durch welchen der Tarantass nicht vorzudringen wagen durfte, ohne Gefahr zu laufen in einen Abgrund zu stuerzen. Die Kette der Uralberge erreicht uebrigens nur eine mittlere Hoehe; ihr bedeutendster Gipfel uebersteigt noch nicht 5000 Fuss. Der ewige Schnee ist daselbst unbekannt, und die Schneemassen, welche der sibirische Winter ueber das Gebirge schuettet, schmelzen vollstaendig bei der Sonnenwaerme des Sommers. Pflanzen und Baeume gedeihen noch in betraechtlicher Hoehenlage. Die Ausbeutung der Eisen- und Kupferminen, der Lagerstaetten kostbarer Edelsteine versammelt hier eine ansehnliche Menge fleissiger Haende. So begegnet man denn auch den "Zarody" genannten Dorfschaften ziemlich haeufig und der durch die gewaltigen Engpaesse gefuehrte Weg ist fuer die Postwagen in gut fahrbarem Zustande. Was aber bei guter Witterung und vollem Tageslichte leicht ist, bietet Schwierigkeiten und Gefahren, sobald die Elemente mit einander kaempfen und man sich in diesem Gewuehle befindet. Aus Erfahrung wusste Michael Strogoff schon, was ein Gewitter in den Bergen bedeuten will, und vielleicht hielt er, ganz mit Recht, dieses Meteor fuer ebenso gefahrbringend, als die fuerchterlichen Schneestuerme, die hier waehrend des Winters mit unvergleichlicher Heftigkeit wuethen. Zur Zeit der Abfahrt fiel noch kein Regen. Michael Strogoff hatte die das Wageninnere schuetzenden Ledervorhaenge aufgehoben, sah hinaus und achtete scharf auf beide Seiten des Weges, die der zitternde Laternenschein mit phantastischen Schattenbildern belebte. Unbeweglich, mit gekreuzten Armen schaute Nadia ebenfalls hinaus, waehrend ihr Begleiter mit halbem Koerper aus dem Wagen herausgelehnt, den Himmel und die Erde musterte. Die Atmosphaere war ganz still, aber drohend ruhig. Kein Lufttheilchen ruehrte sich vom Platze. Man haette sagen moegen, dass die halberstickte Natur nicht mehr athmete, und ihre Lungen, d. h. jene duesteren, dichten Wolken, aus irgend welchem Grunde gelaehmt, nicht mehr functioniren konnten. Das Schweigen waere ein absolutes gewesen ohne das Knirschen der Raeder des Tarantass, die die Kiesel der Strasse zerrieben, ohne das Seufzen der Naben und ueberhaupt des Holzwerkes am Gefaehrte, ohne den keuchenden Athem des Gespanns und das Aufschlagen ihrer Hufe auf die Steine, die dabei lebhafte Funken spruehten. Uebrigens war die Strasse vollkommen oede. Der Tarantass begegnete weder einem Fussgaenger, noch einem Reiter oder einem Wagen bei dieser drohenden Nacht in den engen Schluchten des Urals. Kein Feuer eines Koehlers rauchte im Walde, keine Lagerstaette von Arbeitern eines Steinbruchs ward sichtbar, keine einzige im Gehoelz verlorene Huette. Es bedurfte solcher Gruende, welche kein Zweifeln und kein Zaudern erlauben, um eine Fahrt durch die Gebirgskette unter den gegebenen Verhaeltnissen zu unternehmen. Michael Strogoff hatte nicht gezaudert. Ihm war das wohl unmoeglich; aber - und das fing doch an ihm eine sonderbare Besorgniss einzufloessen, - wer in aller Welt konnten die beiden Reisenden in dem seinem Tarantass vorausgehenden Teleg sein; welch' gewichtige Gruende hatten sie, eben so tollkuehn zu handeln? Eine Zeit lang versank Michael Strogoff in tiefes Sinnen. Gegen elf Uhr begannen die Blitze den Himmel zu erleuchten und setzten dann nicht mehr aus. Bei ihrem schnellen Scheine sah man die Silhouetten maechtiger Kiefern auftauchen und verschwinden, die an verschiedenen Stellen die Strasse gruppenweise flankirten. Naeherte sich der Tarantass dem Rande der Strasse, dann beleuchteten die brennenden Wolken tiefe Abgruende neben jener. Von Zeit zu Zeit verrieth ein heftigeres Rollen und Stossen, dass der Wagen eine Bruecke aus Baumstaemmen passirte, welche kaum zugehauen eine Hoehlung des Weges ueberdeckten. Je hoeher sie hinauf kamen, desto mehr ertoente ein monotones Brausen in der Luft. Dazu mischten sich die aufmunternden Rufe des Jemschik, der bald Schmeichelworte, bald Schmaehreden an seine Thiere verschwendete, welche mehr durch die Schwere der Atmosphaere als durch den Weg selbst ermattet schienen. Auch die Schellen des Deichselbogens vermochten sie nicht mehr aufzumuntern, und manchmal knickten sie fast zusammen. "Wann werden wir auf dem Gipfel des Kammes anlangen? fragte Michael Strogoff den Jemschik. -- Um ein Uhr frueh ... wenn wir ueberhaupt hinkommen! antwortete dieser mit unglaeubigem Kopfschuetteln. -- Sag' doch, Freund, das ist doch nicht Dein erstes Gewitter hier in den Bergen, nicht wahr? -- Nein, und gebe Gott, dass es auch nicht mein letztes ist. -- Hast Du Furcht? -- Ich habe keine Furcht, aber ich wiederhole, dass Du unrecht handeltest, abzufahren. -- Ich haette noch mehr unrecht gehandelt, wenn ich blieb. -- Na, dann vorwaerts, meine Taeubchen!" erwiderte der Jemschik, als ein Mann, der nicht da war zu discutiren, sondern zu gehorchen. In diesem Augenblicke liess sich ein entferntes Geraeusch vernehmen; es glich einem tausendfachen gellenden und betaeubenden Pfeifen in der bisher noch halb ruhigen Atmosphaere. Bei dem blendenden Scheine eines Blitzes, dem ein entsetzlicher Donnerschlag folgte, bemerkte Michael Strogoff einige grosse Kiefern, die auf einem kahlen Gipfel schwankten. Der Sturm brach los, jagte aber bis jetzt nur die hoehern Luftschichten durcheinander. Ein trockenes Geknatter liess erkennen, dass einige alte oder schlecht bewurzelte Baeume schon dem ersten Anprall der Windsbraut nicht hatten Widerstand leisten koennen. Eine Lawine gebrochener Staemme rollte bald ueber die Strasse, schlug huepfend auf die Felsenvorspruenge und verlor sich, zweihundert Schritte vor dem Tarantass, in den Tiefen zur Linken. Stutzend hielten die Pferde still. "Immer vorwaerts, meine Turteltaeubchen!" rief der Jemschik, und munter knallte seine Peitsche zwischen dem Rollen des Donners. Michael Strogoff ergriff Nadia's Hand. "Schlaefst Du, Schwester? fragte er. -- Nein, Bruder. -- Sei bereit fuer Alles. Jetzt kommt das Unwetter! -- Ich bin bereit." Michael Strogoff hatte kaum Zeit, die Ledervorhaenge zu schliessen. Wild tobte der Sturmwind heran. Der Jemschik war mit einem Sprunge von seinem Sitze herab und eilte, die Pferde am Kopfe zu halten, denn dem ganzen Gespann drohte eine schreckliche Gefahr. Unbeweglich stand der Tarantass an einer Biegung des Weges, durch welche der Sturm hereintobte. Der Wagen musste also dem Winde gerade entgegen gehalten werden, denn ergriff jener ihn von der Seite, so waere er unfehlbar umgeworfen und in den benachbarten Abgrund geschleudert worden. Von den Windstoessen zurueckgedraengt baeumten sich die Pferde, ohne dass es ihrem Fuehrer gelang, sie wieder zur Ruhe zu bringen. Auf die Schmeichelworte folgten die kraeftigsten Flueche. Nichts half. Die armen, von den elektrischen Entladungen geblendeten, von dem schrecklichen, Artilleriesalven aehnlichen Donner betaeubten Thiere drohten die Straenge zu zerreissen und durchzugehen. Der Jemschik war nicht mehr Herr seines Gespannes. Da sprang Michael Strogoff aus dem Tarantass und kam dem Kutscher zu Hilfe. Seiner aussergewoehnlichen Koerperkraft gelang es, wenn auch nicht ohne Muehe, die Thiere zu baendigen. Aber die Wuth des Orkanes verdoppelte sich. Die Strasse erweiterte sich an der eben erreichten Stelle tonnenartig, so dass sich der Wind hineinpresste, etwa wie in die Zugrohre, welche man auf dem Verdeck der Dampfer sieht. Gleichzeitig begann eine Lawine von Steinen und Baumstaemmen den Abhang herab zu poltern. "Hier koennen wir nicht bleiben, sagte Michael Strogoff. -- Wir werden auch gar nicht laenger hier sein! rief der Jemschik, waehrend er ganz bestuerzt sich mit aller Macht gegen die mit entsetzlicher Wucht einherstuermenden Luftmassen stemmte. Der Sturm war schon sehr nahe daran, uns bergab zu befoerdern und das auf dem kuerzesten Wege. -- Nimm das Handpferd beim Zuegel, Memme! antwortete Michael Strogoff; fuer das linke werde ich stehen!" Ein neuer heftiger Windstoss unterbrach Michael Strogoff. Der Kutscher und er mussten sich fast bis zur Erde niederbeugen, um nicht umgeweht zu werden; aber trotz ihrer eigenen und der Anstrengung der Pferde, die sie jetzt direct gegen den Wind hielten, rollte der Wagen doch eine kleine Strecke zurueck, und haette ihn dann nicht ein querliegender Baumstamm aufgehalten, so waere er wohl vom Wege abgedraengt worden. "Fuerchte Dich nicht, Nadia! rief Michael Strogoff. -- Ich habe keine Furcht", erwiderte die junge Lieflaenderin, ohne dass ihre Stimme irgend eine besondere Erregtheit verrathen haette. Einen Augenblick verstummte das Rollen des Donners und der brausende Sturm verlor sich weiter unten in den Tiefen des Hohlweges. "Willst Du wieder hinunterfahren? fragte der Jemschik. -- Nein, wir muessen hinauf; es gilt nur, diese Wendung des Weges zu ueberwinden, hoeher oben kommen wir unter den Schutz der Bergwand. -- Aber die Pferde wollen nicht vorwaerts. -- Mach' es wie ich, ziehe sie! -- Diese Windstoesse werden sich wiederholen. -- Wirst Du gehorchen? -- Du willst es. -- Der 'Vater' selbst befiehlt es! setzte Michael Strogoff hinzu, der zum ersten Male den jetzt in drei Welttheilen allmaechtigen Namen des Kaisers gebrauchte. -- Dann also vorwaerts, meine Schwalben!" rief der Jemschik und ergriff das Pferd zur Rechten, waehrend Michael Strogoff die Zuegel des linken packte. So geleitet kamen die Thiere langsam wieder in Gang. Sie konnten nicht mehr seitwaerts ausbiegen, und das Mittelpferd in der Gabeldeichsel, das nun nicht weiter gezerrt wurde, konnte die Mitte der Strasse einhalten. Menschen und Thiere aber vermochten dem Sturme gerade entgegen nicht drei Schritte vorwaerts zu thun, ohne davon einen oder zwei wieder zu verlieren. Sie glitten aus, fielen und erhoben sich wieder. Auch das ganze Gefaehrt schwebte jeden Augenblick in Gefahr, ausser Ordnung zu kommen. Waere die Wagendecke nicht so besonders sorgsam befestigt gewesen, so haette sie der erste Anprall des Sturmes gewiss schon entfuehrt. Michael Strogoff und der Jemschik brauchten mehr als zwei Stunden, diese kaum eine halbe Werst lange Wegstrecke zurueckzulegen, welche der Geissel des Orkanes so sehr preisgegeben war. Und dazu lag die Gefahr nicht allein in diesem fessellosen Sturmwinde, sondern vorzueglich auch in jenem Hagel von Geroell und geknickten Staemmen, welchen der Berg um sie herum niederschuettete. Ploetzlich zeigte sich in dem Bette eines Wildbachs ein groesserer Steinblock, der mit wachsender Schnelligkeit in der Richtung auf den Tarantass herabstuerzte. Der Jemschik schrie entsetzt laut auf. Michael Strogoff wollte die Pferde mit einem wuchtigen Peitschenhiebe antreiben. Nur wenige Schritte, und das Felsstueck waere hinter ihnen niedergeschlagen. In einer Zwanzigstelsecunde sah es Michael Strogoff ein, dass der Tarantass getroffen, seine Gefaehrtin zerschmettert werden muesste! Er fuehlte, dass er sie lebend nicht mehr herauszuholen vermoechte ... Da sprang er schnell hinter den Wagen, aus der Gefahr schoepfte er eine fast uebermenschliche Kraft, stemmte den Ruecken gegen die Achse, die Fuesse fest auf den Boden und draengte das schwerfaellige Fuhrwerk einige Schritte vorwaerts. Der gewaltige Block flog vorueber, streifte dem jungen Manne fast die Brust und benahm ihm den Athem, wie eine vorbeisausende Kanonenkugel. Knisternd und Funken spruehend zersprangen die Steine auf der Strasse. "Bruder!" hatte zum Tode erschrocken Nadia gerufen, welche die ganze Scene beim Leuchten eines Blitzes mit angesehen hatte. -- Nadia! antwortete Michael Strogoff, keine Furcht, Nadia! -- Um meinetwillen koennte ich mich niemals fuerchten. -- Gott ist mit uns, Schwester! -- Mit mir gewiss, Bruder, da er mich auf Deinen Weg geleitet hat!" sagte halblaut das junge Maedchen. Der Anstoss, den der Tarantass durch Michael Strogoff's Anstrengung erhielt, sollte nicht verloren sein. Er ward zur Anregung fuer die stutzenden Pferde, die fruehere Richtung wieder einzuschlagen. Von Michael Strogoff und dem Jemschik so zu sagen gezerrt, klommen sie bergauf bis zu einem schmalen von Norden nach Sueden verlaufenden Kamme, wo sie gegen den directen Anprall des Unwetters einigermassen gesichert waren. Die Berglehne zur Rechten bildete hier eine Art Saegewerk durch einen vorspringenden Felsen, der sich mitten in einem schaeumenden Wildwasser erhob. Hier wuethete wenigstens kein gefahrdrohender Wirbelwind und der Platz schien einigermassen haltbar, waehrend in der Peripherie dieser scheinbaren Cyclone sich gewiss kein Mensch oder Thier haette aufrecht erhalten koennen. Wirklich wurden einige Tannen, die mit ihren Wipfeln den Felsenscheitel ueberragten, in einem Augenblick gekoepft, so als sauste eine Riesensense ueber die Hochflaeche dahin. Das Unwetter tobte jetzt in vollster Wuth. Grell flammten die Blitze in den Engpass hinein und in einem Athem rollte der furchtbare Donner. Der Boden schien unter den furchtbaren Schlaegen zu erzittern, so als wuerde die ganze Uralkette erschuettert. Zum Glueck hatte man den Tarantass in einer tiefen Felsenaushoehlung ziemlich gut unterbringen koennen, wo ihn der Sturm nur etwas von der Seite traf; doch war er nicht so vollkommen geschuetzt, dass er nicht manchmal durch einige von den Bergvorspruengen abgeleitete Seitenstroemungen tuechtig geschuettelt worden waere. Dabei stiess er wohl gegen die Felsmauer, dass man befuerchten musste, ihn in tausend Truemmer zersplittert zu sehen. Nadia musste den von ihr eingenommenen Platz verlassen. Michael Strogoff fand bei einer Nachsuchung mit Hilfe einer Laterne eine kleine Aushoehlung, die wahrscheinlich nur von der Spitzhaue eines Bergmanns herruehrte und in welche sich das junge Maedchen verkriechen musste, bis es moeglich wuerde, die Fahrt wieder fortzusetzen. Jetzt begann - es war gegen ein Uhr Morgens - der Regen in Stroemen herabzustuerzen, und nun wuchsen die aus Luft und Wasser gemengten Sturmwehen zu einer ungeheuren Gewalt an, ohne das Feuer des Himmels zu verloeschen. Unter diesen Verhaeltnissen war an den Wiederaufbruch natuerlich gar nicht zu denken. Trotz aller Ungeduld Michael Strogoff's - und man begreift wohl, wie gross diese war - musste er doch das schlimmste Unwetter erst voruebergehen lassen. Da uebrigens der Bergruecken, ueber den die Strasse von Perm nach Jekaterinenburg fuehrt, schon erreicht war, so handelte es sich nur noch darum, die Bergabhaenge des Ural hinabzufahren, und eine solche Thalfahrt, jetzt, ueber einen von unzaehligen Bergbaechen durchwuehlten Boden, mitten in dem Sturm und den Regenschauern, hiess wirklich das Leben auf's Spiel setzen, dem Verderben selbst entgegen eilen. "Abwarten - es ist schwer, sagte da Michael Strogoff, aber es sichert doch gegen vielleicht noch laengere Verzoegerungen. Die Heftigkeit des Gewitters laesst mich annehmen, dass es nur von kurzer Dauer sein werde. Gegen drei Uhr muss der Tag grauen, und wenn wir es gar nicht wagen duerfen, in der Finsterniss bergab zu fahren, so wird das nach Sonnenaufgang wenn auch nicht leicht, so doch mindestens ausfuehrbar sein. -- So wollen wir warten, Bruder, erwiderte Nadia, doch wenn Du die Abfahrt aufschiebst, so geschehe es nicht, um mir eine Anstrengung oder Gefahr zu ersparen. -- Ich weiss es, Nadia, dass Du entschlossen bist, Alles zu wagen; wenn ich uns Beide aber blossstelle, dann setze ich einen noch hoeheren Preis ein, als mein Leben oder das Deinige, dann entziehe ich mich der Pflicht und dem Auftrage, die ich vor Allem zu erfuellen habe. -- Einer Pflicht!..." murmelte Nadia. Eben zerriss ein grellleuchtender Blitz den Himmel und schien den Regen gleichsam zu zerstaeuben. Gleichzeitig vernahm man einen kurzen, trockenen Krach. Die Luft erfuellte sich mit schwefeligem, fast erstickendem Geruche und eine zwanzig Schritte von dem Tarantass entfernte Gruppe alter Kiefern flammte, von dem elektrischen Fluidum entzuendet, gleich einer Gigantenfackel lodernd in die Hoehe. Der Jemschik stuerzte, wie von einem Rueckschlag getroffen, zu Boden, erhob sich aber gluecklicher Weise unverletzt wieder. Hierauf, als das letzte Rollen des Donners sich in den Tiefen des Gebirges verloren hatte, fuehlte Michael Strogoff seine Hand fest von der Nadia's ergriffen und hoerte sie die Worte in sein Ohr sprechen: "Hilferufe, Bruder! Hoerst Du sie?" Elftes Capitel. Reisende in Noth. Wirklich vernahm man in der kurzen Ruhepause weiter oben von der Strasse her und unfern der Aushoehlung, welche den Tarantass deckte, wiederholtes Hilferufen. Es klang wie ein verzweifelter letzter Rettungsversuch, der offenbar von irgend einem gefaehrdeten Reisenden ausging. Michael Strogoff lauschte aufmerksam. Der Jemschik horchte gleichfalls auf, aber mit einem Kopfschuetteln, so als scheine es ihm unmoeglich, hier Beistand zu leisten. "Das sind Reisende, welche um Hilfe bitten, rief Nadia. -- Auf uns werden sie nicht zaehlen duerfen!... fiel rasch der Jemschik ein. -- Und warum das nicht? fragte Michael Strogoff etwas streng. Was Jene unter gleichen Verhaeltnissen gewiss fuer uns thun wuerden, sollen wir das unversucht lassen? -- Ihr setzt aber Pferde und Wagen auf's Spiel!... -- Ich werde zu Fuss gehen, unterbrach Michael Strogoff den besorgten Geschirrfuehrer. -- Und ich begleite Dich, Bruder, erbot sich die junge Lieflaenderin. -- Nein, bleibe, Nadia. Der Jemschik wird bei Dir sein. Ich moechte diesen nicht allein lassen ... -- So werd' ich dableiben, erwiderte Nadia. -- Was auch geschehe, verlasse diese geschuetzte Stelle nicht! -- Du wirst mich da wieder finden, wo ich jetzt bin." Michael Strogoff drueckte dankend die Hand seiner Gefaehrtin, eilte nach der Ecke des Abhangs und verschwand bald im Dunklen. "Dein Bruder handelt unrecht, sagte der Jemschik zu dem jungen Maedchen. -- Er handelt recht", antwortete einfach Nadia. Inzwischen klomm Michael Strogoff rasch bergan. Wenn er grosse Eile hatte den Bedraengten, welche jene Rufe erschallen liessen, helfend beizuspringen, so war doch auch sein Wunsch nicht minder gross, zu erfahren, wer jene Reisenden sein moechten, die auch dieses Unwetter nicht abgehalten hatte, sich in die Berge zu wagen, denn er zweifelte gar nicht daran, dass es dieselben Leute seien, deren Teleg immer seinem Tarantass vorausrollte. Der Regen hatte jetzt nachgelassen, aber der Sturm tobte eher mit verdoppelter Wuth. Die Ausrufe, welche der Wind mit dahertrug, wurden immer deutlicher. Von der Stelle, an der Michael Strogoff Nadia zurueck gelassen hatte, war nichts zu sehen. Die Strasse verlief mehrfach gekruemmt und der blaeuliche Schein der Blitze erleuchtete nur den Bergvorsprung, der sich in einen solchen Strassenbogen hineinschob. Der Wind bildete, indem er sich an allen jenen Ecken und Kanten brach, sehr schwer zu passirende Wirbel, denen Michael Strogoff nur mit dem Aufgebot aller Kraefte zu widerstehen vermochte. Jedoch, es zeigte sich sehr bald, dass die Reisenden, von denen jene Hilferufe ausgingen, nicht mehr sehr fern sein konnten. Waren sie fuer Michael Strogoff auch noch nicht sichtbar - ob das nun daher kam, dass Jene sich nicht auf der Strasse selbst befanden, oder dass nur die herrschende Dunkelheit sie seinen Blicken noch verbarg, - jedenfalls verstand er ihre Worte schon ganz deutlich. Da hoerte er denn, - natuerlich zu seiner nicht geringen Verwunderung, - Folgendes: "Wirst Du wohl zurueckkommen, Schlingel? -- Dich erwartet die Knute auf dem naechsten Relais. -- Hoerst Du, Du Postillon der Hoelle! He! Du, da unten! -- So wird man in diesem verwuenschten Lande befoerdert. -- Und das nennen sie einen Teleg! -- He, Du dreifacher Erztoelpel! - Da reisst er aus und scheint's gar nicht zu bemerken, dass er uns hier sitzen gelassen hat! -- Nein, mich so zu behandeln! Mich, einen wohlbeglaubigten Englaender! Ich werde mich beim Kanzleramte beklagen und den Burschen dingfest machen lassen!" Der, welcher diese Worte herauspolterte, schaeumte vor Wuth. Aber ploetzlich schien es Michael Strogoff, als ob ein Zweiter die Situation von ganz anderer Seite betrachtete, denn er hoerte nach einem hellen, bei solcher Scene gewiss unerwarteten Gelaechter die Worte: "Bei Gott, diese Geschichte ist gar zu drollig! -- Was? Sie wagen auch noch zu lachen? entgegnete in aergerlichem Tone der Buerger des Vereinigten Koenigreichs. -- Natuerlich, lieber College, und ganz aus vollem Herzen; was soll ich denn Besseres dabei thun! Ich rathe Ihnen, es ebenso zu machen! Auf Ehrenwort! Das ist gar zu drollig, das ist noch gar nicht dagewesen!..." Da erfuellte ein heftiger Donnerschlag den Engpass mit schrecklichem Krachen, das der Widerhall der Berge noch maechtig verstaerkte. Dann, als das letzte schwache Rollen verloescht war, liess sich wiederum die lustige Stimme vernehmen: "Ja, ja, ganz ausnehmend drollig! Das koennte in Frankreich wahrlich nicht passiren! -- In England auch nicht!" antwortete der Brite. Beim Scheine der Blitze sah jetzt Michael Strogoff auf der Strasse und gegen zwanzig Schritt vor sich zwei Maenner auf dem hohen Ruecksitz eines sonderbaren Fuhrwerks, das in dem tiefen Schlamme eines ausgefahrenen Geleises fest zu sitzen schien. Michael Strogoff naeherte sich den beiden Reisenden, deren Einer immer weiter lachte, der Andre unverdrossen weiter schimpfte, und erkannte bald die beiden Zeitungscorrespondenten, welche auf dem "Kaukasus" den Weg von Nishny-Nowgorod nach Perm mit ihm zurueckgelegt hatten. "Ei guten Tag, mein Herr! rief der Franzose. Sehr erfreut, Sie unter diesen Umstaenden wieder zu sehen! Erlauben Sie, Ihnen meinen intimsten Feind, Herrn Blount, hier vorzustellen." Der englische Reporter gruesste und vielleicht wollte er nach allen Regeln des Anstandes eben seinerseits seinen Collegen Alcide Jolivet vorstellen, als ihn Michael Strogoff unterbrach: "Nicht noethig, meine Herren, wir kennen uns ja wohl, da wir die Wolga gemeinschaftlich befahren haben. -- Ah, sehr gut! Ganz richtig! Herr ...? -- Nicolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk, antwortete Michael Strogoff. Aber wollen Sie mich wissen lassen, welcher fuer den Einen so erheiternde, fuer den Andern so beklagenswerthe Unfall sich hier zugetragen hat? -- Gut, ich rufe Sie als Richter an, Herr Korpanoff, entgegnete Alcide Jolivet. Stellen Sie sich vor, dass unser Postillon mit dem Vordertheile seines vermaledeiten Fuhrwerks davon gefahren ist und hat uns hier ruhig sitzen lassen mit sammt dem Hintertheile seines nichtswuerdigen Fahrzeugs. Da haben wir nun die schlechtere Haelfte eines Telegs fuer uns Zwei, aber keinen wegekundigen Kutscher, keine Pferde mehr! Ist das nicht unbedingt und ueber alle Massen drollig? -- Ich finde gar nichts Laecherliches dabei! knurrte der Englaender. -- Und doch, College! Sie verstehen die Sache nur nicht von ihrer besten Seite anzusehen. -- Aber wie denken Sie denn, dass es moeglich werden soll, unsern Weg fortzusetzen? fragte Harry Blount. -- Nichts einfacher als das, spottete Alcide Jolivet. Sie spannen sich beispielsweise vor das uns verbliebene Restchen des Wagens; ich ergreife die Zuegel, ich nenne Sie 'mein Taeubchen', wie ein leibhaftiger Jemschik, und Sie trotten dann drauf los, ganz wie ein ... -- Herr Jolivet, fiel der Englaender ein, ein solcher Scherz geht zu weit und ... -- O, beruhigen Sie sich, Herr College. Sobald Sie sich verfangen haben, trete ich an Ihre Stelle und Sie moegen mich dann als engbruestige Schnecke oder ohnmaechtige Schildkroete behandeln, wenn ich Sie nicht in einem Hoellengalop dahinfahre!" Alcide Jolivet schuettelte das Alles mit einem so liebenswuerdigen Humor hervor, dass Michael Strogoff sich eines Laechelns nicht enthalten konnte. "Meine Herren, nahm er darauf das Wort, da weiss ich doch besseren Rath. Wir befinden uns jetzt hier sehr nahe dem hoechsten Kamme des Ural und folglich haben wir den Gebirgsabhang nur noch hinabzufahren. Mein Wagen befindet sich fuenfhundert Schritt weiter rueckwaerts. Ich will Ihnen eines meiner Pferde abtreten, das spannen wir vor den Rest Ihres Telegs und kommen, wenn uns kein Zwischenfall abhaelt, morgen zusammen in Jekaterinenburg an. -- Herr Korpanoff, sagte Alcide Jolivet verbindlich, das ist ein Vorschlag, der aus sehr edelmuethigem Herzen kommt. -- Ich bemerke noch, mein Herr, dass ich Ihnen deshalb nicht anbiete meinen Tarantass mit zu benutzen, weil er nur zwei Plaetze enthaelt, die ich mit meiner Schwester nothwendiger Weise selbst brauche. -- O, keine Entschuldigungen, mein Herr, antwortete Alcide Jolivet, mein College und ich wuerden mit Ihrem Pferde und dem Hintertheil unsers Halbtelegs noethigenfalls bis an's Ende der Welt kommen. -- Mein Herr, fiel nun auch Harry Blount ein, wir nehmen Ihren grossmuethigen Vorschlag an. Aber jener Jemschik ... -- O glauben Sie, es wird nicht das erste Mal gewesen sein, dass ihm solch' kleiner Unfall zustiess, bemerkte Michael Strogoff. -- Nun, warum kehrt er dann aber nicht zurueck? Er wird recht gut wissen, dass er uns hier im Stiche gelassen hat, der Elende! -- Er!? Er weiss sicher kein Sterbenswoertchen davon. -- Was? Dieser brave Kerl sollte die Zerreissung des Telegs in zwei Haelften gar nicht bemerkt haben? -- Nein, sicherlich nicht; der bringt seinen Vordertheil im besten Glauben von der Welt nach Jekaterinenburg hinein. -- Sagt' ich es Ihnen nicht vorher, Herr College, rief lachend Alcide Jolivet, dass uns nur die allerlustigste Geschichte passirt sei? -- Nun denn, meine Herren, mahnte Michael Strogoff, wenn es Ihnen gefaellig ist mir zu folgen und meinen Wagen aufzusuchen ... -- Aber der Teleg? bemerkte der Englaender. -- Fuerchten Sie nicht, dass er uns davon fliege, mein lieber Blount, troestete Alcide Jolivet, der steht hier so gut im Erdboden fest gewurzelt, dass er kommendes Fruehjahr Knospen treiben muesste, wenn man ihn stehen liesse. -- Kommen Sie also, meine Herren, sagte Michael Strogoff, wir wollen den Tarantass nun hierher schaffen." Der Franzose und der Englaender verliessen ihre Bank, die aus einem Ruecksitz zum Vordersitz geworden war, und folgten Michael Strogoff. Auch unterwegs plauderte Alcide Jolivet immer weiter in seiner rosenfarbenen Laune, welche eben Nichts zu zerstoeren im Stande war. "Meiner Treu, Herr Korpanoff, wandte er sich an Michael Strogoff, Sie ziehen uns hier allerdings aus einer argen Verlegenheit. -- Ich that noch weiter nichts, mein Herr, erwiderte Michael Strogoff, als was jeder Andere an meiner Stelle ebenfalls gethan haette. Wenn sich Reisende erst nicht mehr gegenseitig unterstuetzen wollen, moege man lieber gleich die Landstrassen sperren. -- Wir bleiben Ihnen zu Gegendiensten verbunden, mein Herr. Im Fall Sie weit durch die Steppe reisen, koennten wir uns wohl auch noch einmal begegnen, und ..." Alcide Jolivet fragte zwar nicht direct, wohin Michael Strogoff ginge, dieser aber erwiderte, um sich nicht den Schein der Heimlichthuerei zu geben: "Ich reise nach Omsk, meine Herren. -- Und Herr Blount und ich, erklaerte Alcide Jolivet, wir reisen eigentlich nur der Nase nach, dahin, wo es vielleicht eine Kugel, jedenfalls aber Neuigkeiten zu erwischen giebt. -- Nach den empoerten Provinzen? fragte Michael Strogoff mit einem gewissen Eifer. -- Ganz recht, Herr Korpanoff, und wahrscheinlich begegnen wir uns dort wohl nicht wieder! -- Wahrlich, mein Herr, antwortete Michael Strogoff, ich bin gar nicht luestern nach einer Buechsenkugel oder einem Lanzenstiche und zu friedliebender Natur, um mich unnoethig dahin zu begeben, wo man sich herumschlaegt. -- Bedaure, mein Herr, bedaure, es sollte uns gewiss leid thun, so schnell von Ihnen wieder Abschied zu nehmen. Vielleicht will es unser guter Stern aber doch, dass wir wenigstens von Jekaterinenburg aus noch ein Stueck Weges zusammen zuruecklegen, und waere es nur waehrend weniger Tage? -- Sie gehen vielleicht auch nach Omsk? fragte Michael Strogoff nach kurzer Ueberlegung. -- Das wissen wir freilich selbst noch nicht, erwiderte Alcide Jolivet. Jedenfalls wenden wir uns direct nach Ichim und dort werden die Verhaeltnisse unseren weiteren Weg bestimmen. -- Nun wohl, meine Herren, sagte Michael Strogoff, bis nach Ichim werden wir also zusammen sein." Michael Strogoff haette es gewiss vorgezogen, allein zu reisen, er konnte sich aber, ohne damit aufzufallen, nicht wohl von den beiden Reisenden absondern, welche des naemlichen Weges zogen wie er. Bei der von Alcide Jolivet ausgesprochenen Absicht, sammt seinem Begleiter in Ichim Halt zu machen und nicht unmittelbar nach Omsk weiter zu gehen, lag fuer ihn uebrigens kein besonderer Grund vor, diesen Theil der Reise in ihrer Gesellschaft zurueck zu legen. "Also, meine Herren, es ist abgemacht. Wir reisen zusammen." Dann setzte er mit moeglichst gleichgiltigem Tone hinzu: "Haben Sie vielleicht einige sicherere Nachrichten ueber den Tartareneinfall? -- Leider nein, erwiderte Alcide Jolivet, wir wissen davon ebenso viel, als in Perm allgemein bekannt war. Die Tartarenhaufen Feofar-Khan's haben die ganze Provinz Semipalatinsk ueberschwemmt und dringen jetzt in Eilmaerschen laengs des Bettes des Irtysch vor. Sie werden sich also ein wenig beeilen muessen, ihnen bis Omsk noch zuvorzukommen. -- Ja, Sie haben Recht, bemerkte Michael Strogoff. -- Dazu geht das Geruecht, es sei dem Oberst Ogareff gelungen, verkleidet die Grenze zu passiren, und er werde sich, in der Mitte der insurgirten Provinz, dem Tartarenchef unverzueglich anschliessen. -- Wie will man das aber wissen? warf Michael Strogoff ein, den diese mehr oder weniger begruendeten Neuigkeiten selbstverstaendlich sehr interessirten. -- Ei, so wie man eben Alles weiss, antwortete Alcide Jolivet; das liegt so in der Luft. -- Und Sie haben begruendete Ursache zu glauben, dass Colonel Ogareff in Sibirien sei? -- Ich habe mindestens davon sprechen hoeren, dass er den Weg von Kasan nach Jekaterinenburg eingeschlagen habe. -- O, Sie wuessten das, Herr Jolivet? liess sich da Harry Blount vernehmen, den jene Bemerkung des franzoesischen Correspondenten aus seiner Schweigsamkeit aufruettelte. -- Ich wusste es, erwiderte Alcide Jolivet. -- Und es war Ihnen auch bekannt, dass er als Zigeuner verkleidet ging? fragte Harry Blount. -- Als Zigeuner! rief Michael Strogoff fast unwillkuerlich, da er sich der Anwesenheit des alten Tsiganen in Nischny-Nowgorod, seiner Fahrt auf dem "Kaukasus" und seiner Ausschiffung in Kasan erinnerte. -- Ich hatte davon eben genug erfahren, um darueber einen Brief an meine Cousine zu richten, antwortete laechelnd Alcide Jolivet. -- Sie haben in Kasan Ihre Zeit nicht verloren! bemerkte der Englaender in trockenem Tone. -- Gewiss nicht, liebster College, und waehrend der 'Kaukasus' sich verproviantirte, that ich ganz dasselbe!" Michael Strogoff achtete ferner nicht auf das Wortgeplaenkel, das sich zwischen Harry Blount und Alcide Jolivet entsponnen hatte. Er gedachte jener Zigeunergruppe, jenes alten Tsiganen, dessen Gesicht er nicht ordentlich sehen konnte, des fremden Weibes in seiner Begleitung, die jenen sonderbaren Blick auf ihn geworfen hatte, und er bemuehte sich, alle Details jenes Zusammentreffens wieder im Gedaechtniss aufzufrischen, als in geringer Entfernung ein Knall hoerbar wurde. "Ah, vorwaerts, meine Herren! rief Michael Strogoff. -- Sieh da, ein braver Kaufmann, der die Flintenschuesse flieht, meinte Alcide Jolivet, der laeuft ueber Hals und Kopf dahin, wo er solche hoert!" Schnell eilte er aber sowohl selbst, als hinter ihm Harry Blount, der auch nicht der Mann dazu war, feig zurueck zu bleiben, Michael Strogoff furchtlos nach. Nach wenig Augenblicken befanden sich Alle bei dem Felsenvorsprunge, der den Tarantass deckte. Noch loderten die Flammen aus der durch den Blitzschlag entzuendeten Fichtengruppe empor. Die Strasse war leer. Und doch, Michael Strogoff konnte sich unmoeglich getaeuscht haben; das musste ein Gewehrschuss sein, der vorher an sein Ohr schlug. Da hoerte man ploetzlich ein schreckliches Brummen und am Abhange krachte ein zweiter Schuss. "Ein Baer! rief Michael Strogoff, dem jenes Brummen ja bekannt genug war. Nadia! Nadia!" Sein Dolchmesser aus dem Guertel reissend stuerzte Michael Strogoff hastig vorwaerts und lief um den Felsen, hinter dem das junge Maedchen zu warten versprochen hatte. Grell beleuchteten die von der Wurzel bis zum Gipfel brennenden Fichten den Schauplatz. In dem Augenblicke, als Michael Strogoff den Tarantass erreichte, waelzte sich ihm eine enorme Masse entgegen. Es war ein ungeheurer Baer. Der Sturm mochte ihn aus dem Gehoelz, das diese Abhaenge der Uralberge bedeckt, vertrieben und er eine Zuflucht in seiner gewohnten Hoehle gesucht haben, in derselben, welche eben Nadia deckte. Zwei von den Pferden zerrissen da, erschreckt ueber den Anblick des furchtbaren Raubgesellen, ihre Straenge und entflohen; der Jemschik, dem nur seine Thiere am Herzen lagen und der dabei ganz vergass, dass das junge Maedchen nun allein dem Angriffe des Baeren ausgesetzt blieb, jagte ihnen nach. Die muthige Nadia verlor den Kopf aber nicht. Das Thier mochte sie zuerst nicht bemerkt haben, denn es stuerzte sich auf das dritte Pferd. Nadia schluepfte aus der Hoehlung, welche sie verbarg, lief nach dem Wagen, ergriff einen von Michael Strogoff's Revolvern, ging kaltbluetig auf den Baeren los und feuerte auf ihn aus unmittelbarer Naehe. Leicht an der Schulter verwundet hatte sich das Thier gegen das junge Maedchen gewendet, die ihm auszuweichen suchte und um den Tarantass lief, dessen einzig uebrig gebliebenes Pferd sich ebenfalls loszureissen suchte. Verirrten sich diese Pferde aber alle in dem Gebirge, so war die ganze Weiterfahrt zunaechst in Frage gestellt. Nadia war also dem Baeren wieder entgegen getreten und gab mit bewunderungswuerdig ruhigem Blute, gerade als jener die gewaltigen Tatzen erhob, um auf sie niederzuschlagen, zum zweiten Male Feuer. Das war jener zweite Schuss, welcher ganz in der Naehe Michael Strogoff's aufblitzte. Mit einem Satze warf sich dieser zwischen den Baeren und das junge Maedchen. Sein Arm machte nur eine Bewegung von unten nach oben, und das gewaltige Thier fiel, aufgeschlitzt vom Bauch bis zur Gurgel, eine leblose Masse, vor ihm zusammen. Es war ein huebsches Proebchen jener Methode der sibirischen Jaeger, die stets darauf achten, das kostbare und von ihnen hoch im Preise gehaltene Fell eines Baeren nicht zu beschaedigen. "Du bist nicht verletzt, Schwester? war Michael Strogoff's erste Frage, als er sich zu dem jungen Maedchen wandte. -- Nein, Bruder", antwortete Nadia. Gerade jetzt kamen auch die beiden Journalisten zur Stelle. Alcide Jolivet sprang nach dem Kopfe des Pferdes, und er musste wohl eine kraeftige Faust haben, denn es gelang ihm, jenes zu baendigen. Sein Begleiter und er hatten den kurzen Kampf Michael Strogoff's mit angesehen. "Zum Teufel! platzte Alcide Jolivet heraus, fuer einen einfachen Kaufmann, Herr Korpanoff, wissen Sie mit dem Jagdmesser doch recht leidlich umzugehen. -- Sogar sehr geschickt, fuegte Harry Blount hinzu. -- In Sibirien, meine Herren, antwortete Michael Strogoff, sind wir genoethigt, uns um Alles ein wenig zu bekuemmern." Alcide Jolivet betrachtete den jungen Mann. Wie er so in voller Beleuchtung dastand, das blutige Waidmesser fest in der Hand, den einen Fuss auf dem Koerper des erlegten Baeren, sah Michael Strogoff bei seinem hohen Wuchse und dem entschlossenen Blicke wirklich schoen aus. "Ein famoser Kerl!" sagte Alcide Jolivet fuer sich. Dann trat er respectvoll, den Hut in der Hand, vor und begruesste das junge Maedchen. Nadia verneigte sich leicht. Alcide Jolivet kehrte sich darauf nach seinem Begleiter um und sagte: "Die Schwester ist des Bruders werth! Wenn ich ein Baer waere, ich riebe mich nicht an diesem ebenso achtunggebietenden als liebenswuerdigen Paerchen!" Harry Blount stand, gerade wie eine Hopfenstange, mit abgezogenem Hute in einiger Entfernung. Die zwanglose Hoeflichkeit seines Collegen vermehrte nur seine natuerliche Steifheit. Jetzt erschien auch der Jemschik wieder, dem es gelungen war, seine beiden Pferde wieder einzufangen. Er warf zuerst einen bedauernden Blick auf das praechtige, am Boden liegende Thier, das hier als Beute fuer die Raubvoegel liegen bleiben sollte, und machte sich dann erst daran, das Geschirr wieder in Ordnung zu bringen. Michael Strogoff setzte ihn von der Lage der beiden andern Reisenden in Kenntniss und sagte, dass er diesen ein Pferd vom Tarantass zur Verfuegung stellen wolle. "Ganz wie es Dir beliebt, entgegnete der Jemschik. Indess, zwei Wagen statt des einen ... -- Schon gut, Freundchen, fiel Alcide Jolivet, der dieses Zoegern schnell genug verstand, ihm in's Wort, Du wirst natuerlich auch doppelte Bezahlung erhalten. -- Nun denn vorwaerts, meine Turteltaeubchen!" rief der Jemschik. Nadia hatte den Tarantass wieder bestiegen, waehrend Michael Strogoff und seine Begleiter diesem zu Fusse nachfolgten. Es mochte gegen drei Uhr sein. Der Sturm war nun im Abnehmen und jagte nicht mehr mit unwiderstehlicher Gewalt durch den Hohlweg, so dass man leidlich schnell vorwaerts kam. Mit dem ersten Schimmer des Morgenrothes hatte der Tarantass das Telegrestchen erreicht, das gewissenhaft bis zur Mitte der Raeder in den Schlamm eingesunken war. Man erkannte jetzt recht wohl, dass ein heftiger Ruck der Bespannung die Trennung der beiden Wagentheile veranlasst hatte. Das eine der Seitenpferde des Tarantass ward nun so gut es eben anging mit Stricken an den Sitzkasten des Teleg gespannt. Die beiden Journalisten nahmen auf der Bank ihres etwas sonderbaren Fahrzeugs Platz, und gleichzeitig setzten sich beide Wagen in Bewegung. Uebrigens hatte man ja nur die Bergabhaenge des Ural hinunter zu fahren, was keine besondere Schwierigkeit bot. Sechs Stunden spaeter langten die beiden Fuhrwerke eines dicht nach dem anderen in Jekaterinenburg an, ohne dass ein weiterer Unfall diesen zweiten Theil der Fahrt noch einmal unterbrochen haette. Das erste Individuum, das den Journalisten schon am Thore des Posthauses in die Augen fiel, war ihr eigener Jemschik, der sie mit der groessten Gemuethsruhe zu erwarten schien. Ohne alle Verlegenheit ging der gutmuethige Russe seinen Passagieren laechelnd entgegen und streckte die Hand hin, um sein Trinkgeld einzuheimsen. Die Wahrheit verlangt es nicht zu verschweigen, dass Harry Blount's Zorn dabei mit voller britannischer Heftigkeit zum Ausbruch kam, und waere der Jemschik nicht klueglich zurueckgewichen, so haette ihm ein nach allen Regeln der edlen Boxkunst gefuehrter Faustschlag wohl sein '_na vodku_' mitten in's Gesicht gezeichnet. Als Alcide Jolivet diesen Zornesausbruch sah, wand er sich fast vor Lachen und jubelte auf, wie er vielleicht frueher noch nie gelacht hatte. "Er hat ja ganz Recht, der arme Teufel da! rief er. Er ist in seinem vollen Rechte, lieber College! Das ist doch seine Schuld nicht, wenn wir keine Mittel fanden, ihm zu folgen!" Er zog einige Kopeken aus der Tasche. "Da, Freundchen, sagte er, indem er sie dem Jemschik hinreichte, da, steck' sie ein. Wenn Du sie nicht verdient hast, war's ja Deine Schuld nicht!" Das verdoppelte aber nur noch die Aufregung Harry Blount's, der sich an dem Postmeister schadlos halten und ihm einen Prozess an den Hals werfen wollte. "Einen Prozess! Und in Russland! rief Alcide Jolivet; aber unter den obwaltenden Verhaeltnissen, bester College, waeren Sie nicht im Stande, dessen Ende abzusehen. Da ist Ihnen die herrliche Geschichte von jener russischen Amme wohl nicht bekannt, welche der Familie ihres Saeuglings gegenueber klagbar wurde, dass sie jenen weiter naehren wollte? -- Ich kenne sie nicht, entgegnete Harry Blount. -- Dann wissen Sie auch nicht, was aus jenem Saeugling geworden war, als das Gericht das Endurtheil zu seinen Gunsten faellte? -- Und was, wenn ich bitten darf? -- Ja, mein Gott, ein Oberst der Gardehusaren war aus ihm geworden!" Alle brachen in helles Gelaechter aus. Alcide Jolivet holte in dieser lustigen Stimmung sein Notizbuch hervor und bereicherte es, um einst in einem moskowitischen Woerterbuche zu figuriren, durch folgende Bemerkung: "Teleg, ein in Russland gebraeuchlicher Wagen, wenn er abfaehrt mit vier, - wenn er ankommt mit zwei Raedern!" Zwoelftes Capitel. Eine Herausforderung. Jekaterinenburg ist seiner geographischen Lage nach eine Stadt Asiens, denn es erhebt sich jenseit des Ural, auf den letzten Auslaeufern der oestlichen Berglehne. Trotzdem gehoert es zu dem Gouvernement von Perm und bildet also einen Theil des ausgedehnten Gebietes des europaeischen Russlands. Dieser administrative Uebergriff muss wohl seinen Grund haben. Er betrifft ein Stueck Sibirien, das zwischen den Kinnbacken Russlands verblieb. Weder Michael Strogoff noch die beiden Berichterstatter konnten in einer so grossen, schon im Jahre 1723 gegruendeten Stadt um die Beschaffung der noethigen weiteren Reisegelegenheit in Verlegenheit kommen. In Jekaterinenburg befindet sich die erste und bedeutendste Muenzstaette des ganzen Reiches; dort domicilirt auch die kaiserliche Generaldirection der Erzbergwerke. Die Stadt bildet also einen wichtigen industriellen Mittelpunkt in einem Lande, wo Erzhuetten, Gold- und Platinwaeschereien fast im Ueberfluss vorhanden sind. Zu jener Zeit hatte die Bevoelkerung Jekaterinenburgs sich ganz ausnahmsweise stark vermehrt. Von dem feindlichen Einfall bedrohte Russen und Sibirier stroemten dort zusammen nach ihrer Flucht aus den von Feofar-Khan's Horden schon ueberflutheten Provinzen und vorzueglich aus dem Lande der Kirghisen, das sich im Suedwesten des Irtysch bis zu den Grenzen von Turkestan ausdehnt. Fehlten also die Befoerderungsmittel sehr, um nach Jekaterinenburg zu gelangen, so waren sie dagegen im Ueberfluss vorhanden, um diese Stadt verlassen zu koennen. Bei der jetzigen Lage der Dinge fuehlten die meisten Fremden kein besonderes Verlangen, sich nach Sibirien hinein zu begeben. Unter eben diesen Umstaenden gelang es Alcide Jolivet und Harry Blount natuerlich leicht, ihren Halbteleg durch einen completen Teleg zu ersetzen. Was Michael Strogoff betrifft, so gehoerte der Tarantass ja ihm an; letzterer hatte durch die Ueberschreitung der Uralkette auch nicht sonderlich gelitten, und es bedurfte nur des Vorspanns dreier flotter Pferde, um ihn schnell auf der Strasse nach Irkutsk weiter zu befoerdern. Bis Tiumen und selbst bis Novo-Zaimskoe verlief diese Strasse noch sehr huegelig, denn sie wand sich bis dahin ueber die launenhaften Bodenerhebungen, welche die ersten Stufenwellen der Uralkette bilden. Jenseit der Etappe Novo-Zaimskoe aber begann die grenzenlose Steppe, die sich bis in die Naehe von Krasnojarsk erstreckt, d. h. ueber einen Raum von 1700 Werst (= 1815 Kilom.) Durchmesser. Nach Ischim wollten sich die beiden Berichterstatter, wie wir es im Vorigen erfahren haben, zunaechst begeben; diese Stadt liegt 630 Werst von Jekaterinenburg entfernt. Dort gedachten sie sich naeher ueber den Verlauf der Ereignisse zu unterrichten, und beabsichtigten von hier aus nach den im Aufstand begriffenen Gegenden weiter zu ziehen, getrennt oder vereint, je nachdem ihr Jaegerinstinct sie auf die eine oder die andere Faehrte leiten wuerde. Dieselbe Strasse von Jekaterinenburg nach Ischim, - die sich auch nach Irkutsk fortsetzt, - war aber auch diejenige, welche Michael Strogoff unbedingt benutzen musste. Da er jedoch nicht dem Einsammeln von Tagesneuigkeiten nachging und das von den Rebellen besetzte Land eher zu vermeiden als aufzusuchen alle Ursache hatte, so war er fuer seinen Theil fest entschlossen, nirgends unnoethig eine Stunde zu verweilen. "Meine Herrn, begann er also zu seinen neuen Begleitern, es wird mir sehr angenehm sein, einen Theil der bevorstehenden Reise in Ihrer Gesellschaft zurueckzulegen, doch muss ich Sie im Voraus darauf aufmerksam machen, dass ich die groesste Eile habe, in Omsk anzukommen, denn meine Schwester und ich wollen dort unsere Mutter treffen. Wer weiss, ob es uns ueberhaupt moeglich werden wird, diese Stadt zu erreichen, bevor sie den Tartaren in die Haende faellt! Ich werde mich also auf den Relais nie laengere Zeit aufhalten, als das Umspannen der Pferde erfordert, und werde Tag und Nacht reisen. -- Wir denken vorlaeufig nicht anders zu verfahren, bemerkte Harry Blount. -- Nun gut, erwiderte Michael Strogoff, so verlieren Sie auch keinen Augenblick. Miethen oder kaufen Sie einen Wagen, der ... -- Der so freundlich ist, fuegte Alcide Jolivet hinzu, mit wohl verbundenem Vorder- und Hintertheil bei der naechsten Station anzukommen." Eine halbe Stunde spaeter hatte der ruehrige Franzose denn auch ohne besondere Muehe einen Tarantass aufgetrieben, der dem Michael Strogoff's ziemlich aehnlich war und in welchem er mit seinem Begleiter sich sofort bequem einrichtete. Michael Strogoff und Nadia nahmen ihre Plaetze im Tarantass ebenfalls wieder ein, und zu Mittag verliessen beide Fuhrwerke zusammen Jekaterinenburg. Nadia war endlich in Sibirien, auf jenem langen, weiten Wege, der nach Irkutsk fuehrt! Welcher Art mochten die Gedanken der jungen Lieflaenderin da wohl sein? Drei hurtige Rosse zogen sie durch dieses Land der Verbannten, in dem ihr Vater, vielleicht lange und so unendlich weit von der geliebten Heimat zu leben verurtheilt war! Aber sie sah die unendlichen Steppen sich kaum vor ihrem Auge entrollen, jene Steppen, die sie beinahe selbst nicht einmal haette betreten duerfen; ihr Blick schweifte hinaus ueber den entfernten Horizont, hinter dem sie das Gesicht des Verbannten suchte. Sie beobachtete nichts von der Landschaft, die sie mit einer Schnelligkeit von sechzehn Werst die Stunde durchflog, nichts von den Gegenden des westlichen Sibiriens, die sich von dem des oestlichen so merklich unterscheiden. Hier begegnet man nur sehr selten angebauten Feldern, einem, mindest auf der Oberflaeche, sehr mageren Boden, denn in seinem Innern birgt er neben einem Ueberfluss von Eisen auch viel Kupfer, Gold und Platin. Deshalb sieht man wiederholt wohl huettengewerbliche Anlagen, aber fast nirgends landwirthschaftliche Ansiedelungen. Woher sollte man auch die noethigen Arme nehmen, die Erde zu pfluegen, die Felder zu besaeen, die Erndten einzuholen, wenn es eintraeglicher ist, die Eingeweide der Erde mit Spitzhaue und Schlaegel zu durchwuehlen? Hier hat der Landbauer dem Bergmann den Platz geraeumt. Die Hacke trifft man ueberall, den Spaten nirgends. Manchmal loesten sich Nadia's Gedanken indess doch von den entlegenen Provinzen am Baikalsee los und richteten sich mit Interesse auf ihre gegenwaertige Lage. Das Bild ihres Vaters verwischte sich ein wenig und sie sah wieder ihren edelmuethigen Reisegefaehrten zuerst auf der Eisenbahn von Wladimir, wo sie die Vorsehung zum ersten Male mit ihm zusammen gefuehrt hatte. Sie erinnerte sich seiner Aufmerksamkeit waehrend der Fahrt, seines Erscheinens auf dem Polizei-Amte von Nishnij-Nowgorod, der wohlthuenden Einfachheit, mit der er sie mit der Bezeichnung Schwester anredete, seiner Sorgfalt fuer sie waehrend der Fahrt auf der Wolga, endlich alles dessen, was er in der schrecklichen Gewitternacht im Ural gethan hatte, um mit Gefahr seines Lebens das ihrige zu retten! Nadia dachte also an Michael Strogoff. Sie dankte Gott dafuer, dass er ihr gerade diesen wachsamen Beschuetzer, diesen edelmuethigen und verschwiegenen Freund zugefuehrt hatte. Sie fuehlte sich neben ihm, unter seinem Schutze vollkommen in Sicherheit. Ein wirklicher Bruder haette nicht besser an ihr handeln koennen. Sie fuerchtete jetzt kein Hinderniss mehr; sie war ueberzeugt, ihr Endziel zu erreichen. Michael Strogoff selbst sprach nur wenig und gab sich vielmehr seinen Gedanken hin. Er dankte seinerseits Gott, dass er ihm durch diese Begegnung mit Nadia erstens ein Mittel gegeben habe, seine Individualitaet gegen Entdeckung besser zu sichern, und dann auch eine Gelegenheit, ein gutes Werk zu thun. Die ruhige Unerschrockenheit des jungen Maedchens erweckte die Sympathie seines muthigen Herzens. War sie nicht in der That seine Schwester? Er empfand fuer seine schoene heroische Begleiterin ebenso viel Hochachtung als Zuneigung. Er fuehlte es, dass in ihr eines jener reinen und seltenen Herzen pulsire, auf welche man in jedem Fall zaehlen kann. Seitdem er indess den Boden Sibiriens durchzog, begannen fuer Michael Strogoff erst die eigentlichen Schwierigkeiten. Wenn die beiden Journalisten sich nicht etwa taeuschten, wenn Iwan Ogareff wirklich die Grenze ueberschritten hatte, so musste er ueberall mit der groessten Vorsicht auftreten. Die Verhaeltnisse lagen hier umgekehrt, denn in den sibirischen Provinzen wimmelte es gewiss von tartarischen Spionen. Wurde sein Incognito gelueftet, seine Eigenschaft als Courier des Czaar erkannt, so war es um seine Mission, ja vielleicht um sein Leben geschehen. Michael Strogoff empfand die Verantwortlichkeit immer schwerer, die jetzt auf ihm lastete. So gestalteten sich die Umstaende in dem ersten Wagen, und wie sah es denn in dem zweiten aus? Ganz und gar wie gewoehnlich. Alcide Jolivet sprach in lustigen Saetzen, Harry Blount antwortete mit einsylbigen Brocken. Jeder sah die Sachen von dem ihm eigenen Standpunkte aus an und notirte sich Anmerkungen ueber Vorkommnisse waehrend der Reise, Ereignisse, welche uebrigens waehrend dieses Zuges durch die ersten Gebietstheile Westsibiriens nicht von besonderem Gewichte waren. Auf jedem Relais stiegen die beiden Berichterstatter aus und suchten Michael Strogoff auf. Sollte im Posthause nicht eine Mahlzeit eingenommen werden, so verliess Nadia den Tarantass gar nicht. Beabsichtigte man zu fruehstuecken oder zu Mittag zu speisen, so nahm sie zwar mit an der Tafel Platz, hielt sich aber sehr zurueckgezogen und betheiligte sich moeglichst wenig bei der Unterhaltung. Ohne jemals die Grenzen gebildeter Hoeflichkeit zu ueberschreiten, zeigte Alcide Jolivet doch fuer die junge Lieflaenderin, die er uebrigens reizend fand, stets die groesste Sorgsamkeit. Er bewunderte die schweigsame Energie, die sie den Strapazen einer unter so beschwerlichen Umstaenden ausgefuehrten Reise gegenueber zeigte. Diese Zeiten gezwungenen Aufenthaltes gefielen Michael Strogoff nur sehr mittelmaessig. Auf jedem Relais trieb er zuerst zur Weiterfahrt, feuerte die Postmeister an, liess die Jemschiks nicht zu Athem kommen und beeilte das Anspannen. War dann die Mahlzeit im Fluge verzehrt - gewoehnlich zu schnell und zum grossen Leidwesen Harry Blount's, der nun einmal ein methodischer Esser war, - so fuhr man ab, die Journalisten gleichfalls als Adler, denn sie bezahlten fuerstlich und, wie Alcide Jolivet sagte, "als und mit russischen Adlern(3)". Es versteht sich von selbst, dass Harry Blount sich des jungen Maedchens wegen in keinerlei Unkosten steckte. Es war das einer der wenigen Unterhaltungsgegenstaende, ueber welche er mit seinem Gefaehrten nicht gern plauderte. Der ehrenwerthe Gentleman hatte nicht die Gewohnheit, zwei Sachen auf einmal zu thun. Als Alcide Jolivet ihn einmal so nebenbei fragte, wie alt die junge Lieflaenderin wohl sein moege, antwortete er ganz ernsthaft und mit halbgeschlossenen Augen: "Welche junge Lieflaenderin? -- Nun, zum Kukuk, die Schwester Nicolaus Korpanoff's. -- Das ist seine Schwester? -- Nein, seine Grossmutter! versetzte Alcide Jolivet, den dieses Phlegma ausser Fassung brachte. -- Nun, welches Alter trauen Sie ihr zu? -- Waere ich bei ihrer Geburt anwesend gewesen, so wuerde ich es wissen!" antwortete einfach Harry Blount, der sich offenbar nicht weiter einlassen wollte. Der Landstrich, durch den die beiden Tarantass dahinrollten, war fast vollkommen verlassen. Das Wetter blieb ziemlich gut, der Himmel leicht bewoelkt, die Temperatur ertraeglich. Mit besser auf Federn befestigten Wagen haetten sich die Reisenden nach keiner Seite zu beklagen gehabt. Sie kamen wie mit den Berlinen der russischen Post, d. h. ungemein schnell vorwaerts. Wenn das Land aber verlassen schien, so lag das nur in den gegenwaertigen Verhaeltnissen. Auf den seltenen Feldern fanden sich nur wenig oder gar keine sibirischen Bauern mit ihrem bleichen und ernstem Gesicht, welche Bauern eine beruehmte Reisende mit den Castiliern verglichen hat, nur fehlt ihnen deren trotziger Stolz. Da und dort verriethen auch schon einige verlassene Doerfer die Annaeherung der tartarischen Heerhaufen. Die Einwohner waren unter Mitfuehrung ihrer Heerden von Schafen, Kameelen und Pferden nach den noerdlicheren Ebenen entflohen. Einige treu gebliebene Staemme der grossen Kirghisenhorde hatten ihre Zelte gleichfalls ueber den Irtysch und Obi hinaus geschafft, um den Pluenderungen der Eindringlinge zu entgehen. Gluecklicher Weise erlitt der Postbetrieb hier noch keine Stoerung, so wenig wie das Telegraphenwesen, so weit der ununterbrochene Draht eben noch reichte. Auf jedem Relais lieferten die Postmeister Pferde zu den vorschriftsmaessigen Bedingungen. Auf jeder Station befanden sich die Beamten an ihren Schaltern zur Befoerderung der aufgegebenen Telegramme, welche hoechstens durch die vielen Staatsdepeschen einige Verzoegerung erfuhren. Auch Harry Blount und Alcide Jolivet machten von dem Telegraphen ausgiebigen Gebrauch. Bis hierher ging Michael Strogoff's Reise also unter befriedigenden Umstaenden von Statten. Der Courier des Czaar hatte sich nirgends verspaetet, und wenn es ihm gelang, die Spitze der von Feofar-Khan ueber Krasnojarsk hinaus geschobenen Heereshaufen noch zu umgehen, war er auch sicher, vor ihnen und in der kuerzesten bis jetzt gebrauchten Zeit in Irkutsk anzulangen. Am folgenden Tage, nachdem die beiden Tarantass Jekaterinenburg verliessen, erreichten sie um sieben Uhr Morgens die kleine Stadt Tuluguisk nach Zuruecklegung einer Strecke von 220 Werst, ohne dass sich dabei ein irgend nennenswerther Zufall ereignet haette. Dort wurde dem Fruehstueck ein halbes Stuendchen gegoennt. Gleich darauf eilten die Reisenden mit einer Geschwindigkeit weiter, welche nur das Versprechen einer gewissen Summe Kopeken erklaerlich machte. Denselben Tag, den 22. Juli, langten die beiden Fuhrwerke sechzig Werst weiter in Tiumen an. Tiumen, dessen normale Bevoelkerung gegen 10,000 Seelen zaehlt, beherbergte jetzt wohl die doppelte Zahl. Diese Stadt, uebrigens das erste von den Russen in Sibirien gegruendete Industriestaedtchen, dessen schoene metallurgische Werkstaetten und Glockengiessereien weithin bekannt sind, bot noch nie vorher einen so belebten Anblick. Die beiden Correspondenten begaben sich sofort auf die Jagd nach Neuigkeiten. Was die sibirischen Fluechtlinge vom Kriegsschauplatze mittheilten, klang nicht eben sehr troestlich. Man sagte unter Anderem, die Armee Feofar-Khan's naehere sich in Eilmaerschen dem Thale des Ischim, und man bestaetigte mehrfach, dass der Tartarenchef sich sehr bald mit dem Oberst Iwan Ogareff die Hand bieten werde, wenn das nicht gar schon geschehen sei. Man folgerte daraus ganz richtig, dass die Operationen bald mit mehr Nachdruck im Osten Sibiriens gefuehrt werden wuerden. Die russischen Truppen mussten ihrer Mehrzahl nach erst aus den europaeischen Provinzen herangezogen werden, und standen noch viel zu entfernt, um sich dem Einfall entgegen werfen zu koennen. Dagegen bewegten sich die Kosaken des Gouvernements Tobolsk in forcirten Maerschen auf Tomsk zu und hofften die Tartarenschwaerme dort abzuschneiden. Um acht Uhr Abends hatten die Tarantass weitere fuenfundsiebzig Werst zurueckgelegt und kamen in Jalutorowsk an. Man wechselte rasch die Pferde und passirte gleich ausserhalb der Stadt auf einer Faehre den Tobolfluss. Sein sehr friedliches Gewaesser erleichterte diese Ueberfahrt, welche sich im weiteren Verlauf der Fahrt noch mehrmals, und dann wohl unter minder guenstigen Umstaenden wiederholen musste. Gegen Mitternacht wurde, fuenfundfuenfzig Werst weiter, der Flecken Novo-Saimsk erreicht und nun liessen die Reisenden endlich den leicht wellenfoermigen Boden mit seinen waldbedeckten Huegeln, den letzten Wurzeln der Uralberge, hinter sich. Hier begann nun wirklich die eigentliche sibirische Steppe, die sich bis in die Nachbarschaft von Krasnojarsk ausdehnt. Das war die Ebene ohne Grenzen, eine Art mit Graesern bestandener Wueste, an deren Umfang sich Himmel und Erde, wie in einem mit dem Zirkel geschlagenen Bogen beruehrten. Diese Steppe bot dem Auge keine anderen Haltepunkte, als die Telegraphenpfaehle zu beiden Seiten der Strasse, laengs der die Draehte leise, wie die Saiten einer riesigen Aeolsharfe, bei dem sanften Winde erklangen. Der Weg unterschied sich im Uebrigen von der weiten Ebene nur durch den feinen Staub, der unter den Raedern der Tarantass aufwirbelte. Ohne dieses weissliche Band, das sich hinzog, so weit man sehen konnte, haette man geglaubt, in der Wueste zu sein. Durch die Steppe jagten Michael Strogoff und seine Gefaehrten mit noch groesserer Schnelligkeit. Die von den Jemschiks angetriebenen Pferde hatten kein besonderes Hinderniss zu ueberwinden, und der Weg verschwand sichtbar hinter ihnen. Die Tarantass flogen direct auf Ischim zu, woselbst die beiden Correspondenten zunaechst bleiben wollten, wenn kein besonderer Zwischenfall ihre Absichten kreuzte. Zweihundert Werst etwa trennen Novo-Saimsk von der Stadt Ischim, und am Morgen des andern Tages sollten und konnten diese zurueckgelegt sein, vorausgesetzt, dass man eben keinen Augenblick verlor. In den Augen der Jemschiks verdienten die Reisenden, wenn sie nicht wirklich grosse Herren oder hohe Beamte waren, doch, es zu sein, mochte diese Ansicht auch nur in der Freigebigkeit bezueglich der vertheilten Trinkgelder begruendet sein. Am andern Tage, dem 23. Juli, befanden sich die beiden Tarantass in der That nur noch dreissig Werst von Ischim. Da bemerkte Michael Strogoff auf der Strasse und vor einer wallenden Staubwolke kaum sichtbar, dass noch ein Wagen dem seinigen vorausfuhr. Da seine weniger ermuedeten Pferde sehr schnell liefen, musste er diesen offenbar bald einholen. Jenes war weder ein Tarantass, noch ein Teleg, sondern eine Postkutsche; ueber und ueber mit Staub bedeckt, schien sie einen weiten Weg hinter sich zu haben. Der Postillon schlug unausgesetzt auf seine Gaeule los und suchte sie mit Zurufen und mit der Peitsche im Galop zu erhalten. Diese Berline hatte Novo-Saimsk offenbar nicht passirt. Sie musste auf die Strasse nach Irkutsk ueber irgend einen verlorenen Weg durch die Steppe gelangt sein. Als Michael Strogoff und seine Begleiter die Berline sahen, hatten sie Alle nur den naemlichen Gedanken, sie zu ueberholen, vor ihr beim Relais anzukommen und sich der disponiblen Pferde zu versichern. Nur eines Wortes an ihre Jemschiks bedurfte es, und sie befanden sich bald zur Seite der von ihren ermatteten Rossen dahin geschleppten Berline. Michael Strogoff langte zuerst neben ihr an. Eben wurde ein Kopf hinter dem Vorhang der Berline sichtbar. Michael Strogoff hatte kaum Zeit diesen wahrzunehmen. So schnell er indessen voruebereilte, so hoerte er den Fremden doch mit befehlendem Tone ihm zurufen: "Anhalten!" Die Wagen hielten aber nicht an, im Gegentheil ward die Berline schnell ueberholt. Nun kam es zu einem wahren Wettrennen, denn die durch den schnellen Lauf der voruebersausenden Pferde jedenfalls angeregte Bespannung der Berline gewann die Kraft, einige Minuten mit Curs zu halten. Die drei Fuhrwerke verschwanden in einer Wolke von Staub. Aus dieser weisslich-grauen Masse erschallte wie ein Raketenfeuer das Knallen der Peitschen, vermischt mit den aufmunternden oder scheltenden Zurufen der Kutscher. Alles in Allem blieb aber Michael Strogoff mit seinen Begleitern im Vorsprung, - ein Vorsprung, der von Bedeutung werden konnte, wenn das Relais mit nur wenigen Pferden versehen war. Zwei Wagen zu bespannen, das verlangte vielleicht mehr, als der Postmeister, wenigstens kurze Zeit nach einander, wohl zu leisten vermochte. Eine halbe Stunde spaeter sah man die weit ueberholte Berline kaum noch als ein Puenktchen am Horizonte der Steppe. Es war acht Uhr Abends, als die beiden Tarantass am Posthause, gleich am Eingange der Stadt Ischim anlangten. Die Nachrichten ueber den Einfall lauteten immer und immer schlimmer. Die Stadt selbst war schon unmittelbar von der Vorhut der Tartarenhaufen bedroht und schon vor zwei Tagen hatten sich die Staatsbehoerden auf Tobolsk zurueckgezogen. Ischim besass jetzt weder einen Beamten noch einen Soldaten. Michael Strogoff verlangte sofort nach der Ankunft bei dem Relais fuer sich frische Pferde. Er hatte sehr wohl daran gethan, die Berline noch auszustechen. Gerade drei Pferde nur waren in dem Zustande, sogleich angeschirrt zu werden. Die andern lagen erschoepft von irgend einem kurz zuvor zurueckgelegten langen Wege in den Stallungen. Der Postmeister gab Befehl, den Tarantass zu bespannen. Die beiden Correspondenten brauchten sich um sofortige Weiterbefoerderungsmittel nicht zu sorgen, da sie es fuer gerathen hielten, vorlaeufig in Ischim zu verweilen; sie liessen also nur ihren Wagen in einer Remise des Posthofes unterbringen. Zehn Minuten nach der Einfahrt in das Relais erhielt Michael Strogoff die Meldung, dass sein Tarantass zum Abfahren bereit sei. "Gut", erwiderte er. Dann wendete er sich zu den beiden Journalisten. "Meine Herren, begann er, da Sie in Ischim zu bleiben gedenken, ist wohl die Zeit des Abschieds fuer uns gekommen. -- Wie, Herr Korpanoff, antwortete Alcide Jolivet, werden Sie sich nicht ein Stuendchen lang auch in Ischim aufhalten? -- Nein, Herr Jolivet, es liegt mir etwas daran, das Posthaus verlassen zu haben, bevor die von uns ueberholte Berline hier eintrifft. -- Fuerchten Sie, dass der nachkommende Reisende Ihnen die Postpferde streitig machen koennte? -- Ich suche gern jede Schwierigkeit zu vermeiden. -- Dann, Herr Korpanoff, sagte Alcide Jolivet, haetten wir nur nochmals fuer den uns geleisteten Dienst zu danken, sowie fuer das Vergnuegen, welches es uns bereitete, mit Ihnen zu reisen. -- Es ist uebrigens moeglich, setzte Harry Blount hinzu, dass wir uns nach Verlauf einiger Tage in Omsk wieder begegnen. -- Das koennte wohl sein, bestaetigte Michael Strogoff, da ich direct dorthin abgehe. -- Also glueckliche Reise, lieber Herr Korpanoff, sagte Alcide Jolivet, und Gott bewahre Sie vor allen Telegs." Die beiden Correspondenten ergriffen die Haende Michael Strogoff's, um sie ihm zum Abschiede recht warm und herzlich zu druecken, als von draussen das Heranrollen eines Wagens hoerbar wurde. Fast gleichzeitig ward das Thor des Gebaeudes stuermisch aufgerissen und erschien in demselben eine maennliche Gestalt. Es war das der Insasse jener Berline, ein Mann von militaerischem Aussehen, der gegen vierzig Jahre zaehlen mochte, von hoher, kraeftiger Gestalt, maechtigem Kopfe, breiten Schultern und mit einem martialischen Schnurrbart, der unmittelbar in den roethlichen Backenbart ueberging. Er trug eine Uniform ohne Gradabzeichen. Ein Cavalleriesaebel hing an seiner Seite und eine Peitsche mit kurzem Stiel hatte er in der Hand. "Pferde!" rief er mit herrischem Tone, aus dem man seine Gewohnheit zu befehlen leicht heraushoerte. -- Ich habe augenblicklich keine Pferde zur Verfuegung, antwortete der Postmeister mit einer hoeflichen Verbeugung. -- Ich brauche solche aber im Augenblick. -- Es ist unmoeglich. -- Was sind das fuer Pferde, welche ich eben vor der Thuer des Relais an den Tarantass gespannt sah? -- Sie sind von diesem Reisenden belegt, erwiderte der Postmeister mit einem Hinweis auf Michael Strogoff. -- So spanne man sie wieder ab!..." sagte der Reisende in einem Tone, der jeden Widerspruch fast abschnitt. Michael Strogoff trat einen Schritt vor. "Jene Pferde sind von mir bestellt, sagte er. -- Thut nichts! Ich brauche sie! Vorwaerts - lebhaft! Ich habe keine Zeit zu verlieren. -- Mir ist jeder Augenblick nicht minder kostbar", erwiderte Michael Strogoff, der ruhig bleiben wollte und sich doch nur mit Muehe zurueckhalten konnte. Nadia trat an seine Seite. Auch sie erschien aeusserlich ruhig und doch fuerchtete sie innerlich einen Auftritt, den sie gern vermieden gesehen haette. "Genug der Worte!" versetzte der fremde Reisende. Dann wandte er sich an den Postmeister: "Sie lassen jenen Tarantass wieder abschirren, rief er und bekraeftigte seinen Befehl durch eine drohende Geberde; die Pferde werden sofort vor meine Berline gespannt." In seiner Verlegenheit wusste der Postmeister jetzt nicht, wem er gehorchen sollte, und sah Michael Strogoff an, dessen Sache es doch war, den unberechtigten Anforderungen des Fremden entgegenzutreten. Michael Strogoff zauderte einen Augenblick. Er wollte sich der Hilfe seines Podaroshna, der die Aufmerksamkeit Aller auf ihn lenken musste, nicht bedienen, er wollte aber ebenso wenig durch Ueberlassung der Pferde seine Reise verzoegern, und ausserdem lag es ihm am Herzen, keinen zwecklosen Streit zu provociren, der die Ausfuehrung seiner Mission haette in Frage stellen koennen. Die beiden Journalisten hielten die Blicke auf ihn gerichtet, offenbar bereit ihm beizustehen, wenn er ihre Unterstuetzung anrufen sollte. "Meine Pferde werden an meinem Wagen bleiben", sagte Michael Strogoff, aber ohne den Ton dabei mehr zu erheben, als es fuer einen einfachen sibirischen Kaufmann passend erschien. Der Fremdling schritt auf Michael Strogoff zu und sprach, indem er seine Hand derb auf dessen Schulter fallen liess: "Also so steht es! Du weigerst Dich, mir Deine Pferde abzutreten? -- Gewiss, antwortete Michael Strogoff. -- Nun gut, so werden sie dem gehoeren, der nachher noch im Stande ist weiter zu reisen! Vertheidige Dich - ich schone Dich nicht!" Bei diesen Worten riss der Fremde hastig seinen Pallasch aus der Scheide und legte sich zum Fechten aus. Nadia stuerzte sich zwischen ihn und Michael Strogoff. Harry Blount und Alcide Jolivet traten an seine Seite. "Ich werde mich nicht schlagen, antwortete Michael Strogoff gelassen, und kreuzte, wie um sich sicherer zu bezwingen, die Arme vor der Brust. -- Du wirst Dich nicht schlagen? -- Nein. -- Auch hiernach nicht?" schrie der Reisende. Und bevor man ihn zurueckhalten konnte, traf der Griff seiner Hetzpeitsche Michael Strogoff's Schulter. Bei dieser frechen Beleidigung schwand jeder Tropfen Blut aus den Wangen des jungen Mannes. Seine Haende hoben sich krampfhaft, als wollten sie den rohen Gegner zermalmen. Nur mit aeusserster Anstrengung blieb er seiner maechtig. Ein Duell, - das war mehr, als eine Verzoegerung, das konnte ihn seine Mission gaenzlich verfehlen lassen!... Es schien ihm besser, einige Stunden zu opfern!... Gut, aber diesen Insult sollte er still verwinden! "Nein! antwortete Michael Strogoff auf jene Herausforderung, ohne den Raufbold eines weiteren Wortes zu wuerdigen, waehrend er dem Fremden aber fest in's Auge sah. -- Die Pferde fuer mich! Und augenblicklich!" herrschte Jener. Er verliess mit diesen Worten das Zimmer. Der Postmeister folgte ihm sofort, zuckte aber verwundert mit den Schultern und warf Michael Strogoff einen keineswegs zustimmenden Blick zu. Die Wirkung, welche dieser Zwischenfall auf die beiden Journalisten hervorbrachte, konnte Michael Strogoff nicht besonders guenstig sein. Sie erschienen sichtlich enttaeuscht. Dieser kraftstrotzende junge Mann liess sich schlagen und forderte auch fuer eine solche rohe Beleidigung keine Genugthuung! Sie gruessten zum Abschied etwas verlegen und zogen sich zurueck, wobei Alcide Jolivet zu Harry Blount sagte: "Das haette ich nimmermehr geglaubt von einem Manne, der die Baeren des Ural so im Handumdrehen aufschlitzt! Sollte es doch wahr sein, dass der Muth seine Stunden und seine gewissen Formen hat? Die Sache ist mir unverstaendlich. Uns Andern koennte hier vielleicht nur das Eine abgehen, dass wir niemals Leibeigene gewesen sind." Kurze Zeit darauf verrieth das Rollen von Raedern und das Knallen einer Peitsche, dass die mit den Pferden des Tarantass bespannte Berline das Posthaus verliess. Nadia blieb gelassen, Michael Strogoff noch leise vor Aufregung zitternd in dem Wartesaale des Relais zurueck. Der Courier des Czaar hatte sich mit noch immer untergeschlagenen Armen niedergesetzt. Er unterschied sich kaum von einer Bildsaeule. Nur hatte eine tiefe Roethe, welche einer Schamroethe dennoch nicht aehnlich sah, die fruehere Blaesse seines Gesichtes verdraengt. Fuer Nadia lag es ausser allem Zweifel, dass nur die gewichtigsten Gruende einen solchen Mann veranlassen konnten, einen derartigen Bubenstreich ungestraft hingehen zu lassen. Ruhig ging sie auf ihn zu, ganz so, wie er sich ihr auf dem Polizeiamte in Nishnij-Nowgorod genaehert hatte. "Deine Hand, Bruder!" redete sie ihn an. Dabei fing ihre Hand bei einer fast muetterlich-zaertlichen Bewegung eine Thraene auf, die sich aus dem Auge ihres Begleiters hervordraengte. Dreizehntes Capitel. Die Pflicht ueber Alles! Nadia hatte es durchschaut, dass irgend ein wichtiges Geheimniss die Handlungsweise Michael Strogoff's bestimmte, dass dieser, aus welchem Grunde wusste sie nicht, sich nicht selbst angehoerte, nicht das Recht hatte, ueber seine Person zu verfuegen, und dass er unter diesen Umstaenden sich heroisch seiner Pflicht zum Opfer brachte, selbst gegenueber einer so frechen, toedtlichen Beleidigung. Nadia vermied es, von Michael Strogoff irgend eine Erklaerung zu beanspruchen. Der Postmeister vermochte frische Pferde vor dem kommenden Morgen nicht zu beschaffen; man musste demnach die ganze Nacht auf dem Relais zubringen. Fuer Nadia hatte das den Vortheil, ihr einmal die so noethige Ruhe nach den Strapazen der letzten Tage zu gewaehren. Es wurde fuer sie also ein Zimmer zurecht gemacht. Gewiss waere das junge Maedchen lieber bei ihrem Reisegefaehrten geblieben, aber sie fuehlte doch auch die Nothwendigkeit, allein zu sein, und schickte sich an, das fuer sie bestimmte Zimmer aufzusuchen. Unmoeglich war es ihr aber, sich zurueck zu ziehen, ohne sich von Jenem wenigstens zu verabschieden. "Lieber Bruder ...", fluesterte sie noch einmal. Aber Michael Strogoff unterbrach sie durch eine abwehrende Bewegung. Ein Seufzer entrang sich der Brust des jungen Maedchens, und schweigend verliess sie das Zimmer. Michael Strogoff legte sich nicht nieder. Er haette unmoeglich Schlaf finden koennen. Die Stelle seiner Schulter, welche die Peitsche des brutalen Reisenden getroffen hatte, brannte ihm wie Feuer. "Fuer das Vaterland und fuer dessen Vater!" murmelte er endlich am Schlusse eines stillen Abendgebetes. Jedenfalls empfand er aber eine unbesiegbare Begierde, zu wissen, wer der Mann sein moege, der ihn zu schlagen gewagt hatte, woher er kaeme, wohin er ginge. Die Gesichtszuege desselben hatten sich seinem Gedaechtniss so tief eingepraegt, dass er nie zu befuerchten brauchte, dieselben zu vergessen. Michael Strogoff liess den Postmeister rufen. Dieser, ein Sibirier von altem Schlage, kam sofort, sah den jungen Mann etwas ueber die Achsel an und erwartete dessen Begehren. "Du bist selbst aus diesem Lande? -- Ja. -- Kennst Du den Mann, der meine Pferde nahm? -- Nein. -- Du hast ihn nie vorher gesehen? -- Niemals. -- Wer glaubst Du mochte jener Fremde sein? -- Ein grosser Herr, der seinen Willen durchzusetzen weiss!" Wie ein Dolchstoss traf Michael Strogoff's Blick den Sibirier bis in's Herz, aber der Postmeister ruehrte die Augenlider nicht. "Du unterstehst Dich, ueber mich abzuurtheilen? rief Michael Strogoff. -- Ja, antwortete der Sibirier, denn es handelte sich hier um Dinge, die auch ein einfacher Kaufmann nicht ohne Abwehr hinnimmt. -- Den Schlag mit der Peitsche meinst Du? -- Den Peitschenschlag, junger Mann! Ich bin in den Jahren und in der Lage, Dir das sagen zu koennen." Michael Strogoff naeherte sich dem Postmeister und legte ihm seine beiden wuchtigen Haende auf die Schultern. Dann sagte er mit besonders gemaessigter Stimme: "Geh' Deines Weges, guter Freund! - Geh', ich koennte Dich umbringen!" Diesmal hatte der Postmeister ihn nicht missverstanden. "So sehe ich Dich lieber", sagte er noch halblaut. Ohne ein weiteres Wort verliess er den Wartesaal. Andern Tags, am 24. Juli, stand der Tarantass Morgens acht Uhr mit drei muthigen Rossen bespannt bereit. Michael Strogoff und Nadia nahmen Platz, und Ischim, fuer Beide eine Stadt mit so betruebender Erinnerung, verschwand bald hinter einer Biegung der Strasse. Auf den verschiedenen Relais, welche Michael Strogoff im Laufe des Tages beruehrte, konnte er sich ueberzeugen, dass die Berline ihm immerfort auf dem Wege nach Irkutsk vorausfuhr und dass der Reisende, der es offenbar ebenso eilig hatte wie er, keinen Augenblick verlor, die Steppe zu durchjagen. Gegen vier Uhr Abends musste, fuenfundsiebzig Werst weiter, bei der Station Abatskaja, der Ischimfluss, einer der bedeutendsten Nebenarme des Irtysch, ueberschritten werden. Die Ueberfahrt war etwas schwieriger, als jene ueber den Tobol. Die Stroemung des Ischim ist naemlich gerade an dieser Stelle eine besonders heftige. Waehrend des sibirischen Winters sind alle diese Steppenfluesse, welche der Frost mit mehrere Fuss dickem Eise belegt, leicht zu passiren; ihr Bett verschwindet dann unter der ungeheuren weissen Decke, welche sich ueber die ganze Haelfte des groessten Erdtheils lagert; im Sommer koennen sie dagegen dem Verkehr nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereiten. Zwei volle Stunden gingen mit der Ueberfahrt ueber den Ischim hin, - zwei Stunden, welche Michael Strogoff schon an sich fast zur Verzweiflung brachten, noch viel mehr aber, als die Ruderknechte ihm sehr beunruhigende Nachrichten von dem Tartareneinfalle mittheilten. Diese lauteten etwa folgendermassen: Einzelne Plaenkler von Feofar-Khan's Truppen waren schon an beiden Ufern des unteren Ischim, in den suedlichen Landstrichen des Gouvernements Tobolsk erschienen. Omsk war sehr bedroht. Man sprach unter der Hand von einem Treffen zwischen den sibirischen und tartarischen Heerhaufen an der Grenze des Gebietes der grossen Kirghisenhorde, - ein Treffen, das fuer die auf diesem Punkte viel zu schwachen Russen nicht zum Vortheile ausgefallen sein konnte, denn deren Truppen wandten sich zum Rueckzug, der gleichzeitig eine allgemeine Auswanderung der in jenen Gegenden ansaessigen Bauern zur Folge hatte. Man erzaehlte sich von haarstraeubenden Frevelthaten der Eindringlinge, von Pluenderungen, Diebstaehlen, Brandstiftungen und Mordthaten. Das war die gewohnte Kriegfuehrung der Tartaren. Von allen Seiten suchte man also den Vortruppen Feofar-Khan's zu entfliehen. Bei dieser Entvoelkerung der Flecken und Doerfer fuerchtete Michael Strogoff vor Allem, dass es ihm an den noethigen Vorspannpferden zur Weiterreise fehlen koenne. Er beeilte also seine Ankunft in Omsk auf jede moegliche Weise. Jenseits dieser Stadt schien es eher moeglich, den tartarischen Plaenklern, die laengs des Irtysch herabkamen, zuvor zu kommen und die noch freie Strasse nach Irkutsk zu erreichen. Der Tarantass ueberschritt den Fluss uebrigens gerade am Ende der Stelle, welche man in der Militaersprache als "die Ischimsperre" bezeichnet, eine Reihe von hoelzernen Thuermen und Fortificationsanlagen, die sich von der suedlichen Grenze Sibiriens in einer Laenge von 400 Werst (= 427 Kilometer) nach Norden ausdehnt. Sonst waren die Blockhaeuser u. s. w. von Kosakenabtheilungen besetzt und sicherten die Umgebung ebenso wohl gegen Uebergriffe der Kirghisen, wie gegen solche der Tartaren. Als die moskowitische Regierung diese Horden aber fuer vollstaendig unterworfen hielt, hatte man sie verlassen, und sie konnten nun nichts mehr nuetzen, obschon sie gerade jetzt haetten recht vortheilhaft vertheidigt werden koennen. Der groesste Theil dieser Blockhaeuser lag in Asche, und einige Rauchwolken, auf welche die Ruderer Michael Strogoff aufmerksam machten, bezeugten, am fernen Horizonte aufziehend, die Annaeherung der tartarischen Vorhut. Sobald die Faehre den Tarantass nebst Bespannung an das rechte Flussufer befoerdert hatte, ward der Weg durch die Steppe in moeglichster Geschwindigkeit weiter fortgesetzt. Es war sieben Uhr Abends, der Himmel gleichmaessig verschleiert. Wiederholt fiel ein kurzer, aber heftiger Regen, der den Vortheil hatte, den Staub zu loeschen und den Weg eher zu bessern. Von dem Relais in Ischim aus verharrte Michael Strogoff in truebem Schweigen, ohne dass er deshalb die gewohnte Sorgfalt aus den Augen verlor, Nadia die Anstrengungen einer solchen Fahrt ohne Ruhe und Rast moeglichst zu erleichtern, wenn auch nie eine Klage ueber des jungen Maedchens Lippen kam. Wie gern haette sie den Pferden des Tarantass Fluegel verliehen! Ein unbekanntes Etwas rief ihr zu, dass ihr Begleiter wohl noch mehr Eile habe, in Irkutsk anzukommen, als sie selbst; und wie viele Werst trennten sie jetzt noch von diesem Ziele! In ihr stieg auch der Gedanke auf, dass bei einer Besetzung von Omsk durch die Tartaren Michael Strogoff's alte Mutter, welche ja in dieser Stadt wohnte, manchen Gefahren ausgesetzt war, die ihren Sohn auf's schmerzlichste beunruhigen mussten, und dass hierin wohl ein hinreichender Erklaerungsgrund zu finden sei fuer seine Ungeduld, moeglichst schnell bei ihr einzutreffen. Nadia hielt es also fuer gerathen, gelegentlich von der alten Marfa zu ihm zu sprechen, von der Vereinsamung, in der sie sich inmitten dieser so ernsthaften Ereignisse befand. "Du hast seit dem Anfange des Tartareneinfalles von Deiner Mutter keine Nachricht erhalten? fragte sie. -- Nein, Nadia. Der letzte Brief meiner Mutter datirt schon von vor zwei Monaten, dieser enthielt jedoch nur guenstige Nachrichten. Marfa ist eine energische Frau, eine Sibirierin mit offenem Auge. Trotz ihres Alters bewahrte sie bis jetzt noch ihre ganze moralische Energie. Sie weiss sich auch in missliche Umstaende zu schicken. -- Ich werde sie besuchen, Bruder, versetzte lebhaft das junge Maedchen. Da Du mir den Namen Schwester gegeben hast, bin ich auch Marfa's Tochter!" Michael Strogoff antwortete nicht sofort. "Vielleicht hat Deine Mutter Omsk schon verlassen koennen? fuegte sie hinzu. -- Das ist wohl moeglich, Nadia, erwiderte Michael Strogoff, und ich hoffe sogar, dass es ihr schon gelungen ist, in Tobolsk Zuflucht zu suchen. Die alte Marfa ist von Hass gegen die Tartaren erfuellt. Sie kennt die Steppe, sie hat keine Furcht, und ich wuenschte, sie haette ihren Stab ergriffen und waere laengs des Irtysch nach Norden gewandert. In der Provinz giebt es keinen Ort, der ihr unbekannt waere. Wie oft hat sie das ganze Land an der Seite meines alten Vaters durchzogen, und wie oft bin ich, selbst noch als Kind, bei ihnen gewesen auf diesen Jagdzuegen durch die sibirische Wuestenei! Gewiss, Nadia, ich hoffe, meine Mutter wird Omsk gluecklich verlassen haben. -- Und wann denkst Du sie wieder zu sehen? -- Jedenfalls ... auf der Rueckreise. -- Wenn Deine Mutter aber noch in Omsk waere, wirst Du ein Stuendchen opfern, sie zu umarmen? -- Ich werde nicht erst zu ihr gehen. -- Du willst sie nicht einen Augenblick sehen? -- Nein, Nadia ...! entgegnete Michael Strogoff, dessen Brust sich muehsam hob und der wohl einsah, dass er die Fragen des jungen Maedchens noch weiter zu beantworten nicht im Stande sei. -- Du sagst: Nein! Ach, Bruder, welche Ursachen koennten Dich, wenn Deine Mutter in Omsk ist, hindern sie zu sehen und zu besuchen? -- Welche Ursachen, Nadia? Du fragst mich nach den Gruenden meiner Handlungsweise! rief Michael Strogoff mit einer so auffallend veraenderten Stimme, dass das junge Maedchen fast dabei erzitterte. Aber wegen der Ursachen, die mich meinen Zorn ueberwinden liessen gegenueber jenem Elenden, dessen ..." Er konnte den Satz nicht vollenden, die Zunge versagte ihren Dienst. "Beruhige Dich, mein Bruder, redete ihn Nadia mit sanftester Stimme zu. Ich weiss nur Eines, oder vielmehr ich weiss es nicht, aber ich fuehle es, dass jetzt nur ein Gefuehl Dich ganz und gar beherrscht, das Gefuehl einer noch heiligeren Pflicht, als die, welche den Sohn gegen die Mutter bindet!" Nadia schwieg und vermied auch von diesem Augenblicke ab jedes Gespraech, welches zu der gegenwaertigen eigenthuemlichen Lage Michael Strogoff's irgend Bezug haben konnte. Hier lag ein Geheimniss, gewiss ein wichtiges, vor. Sie achtete es aufrichtig. Am andern Tage, dem 25. Juli, langte der Tarantass um drei Uhr frueh bei dem Postrelais zu Tjukalinsk an, nachdem er von der Ueberfahrtsstelle am Ischim gegen 120 Werst zurueckgelegt hatte. Schnell wurden die Pferde gewechselt. Indess erhob hier zum ersten Male der Jemschik Einspruch gegen die Weiterfahrt mit dem Bemerken, dass Tartarenabtheilungen durch die Steppe streiften und dass Reisende, Pferde und Wagen fuer jenes Raubgesindel eine erwuenschte Beute sein wuerden. Michael Strogoff besiegte den Widerwillen des Jemschiks nur mit klingender Muenze, denn in diesem wie in mehreren anderen Faellen wollte er von seinem Podaroshna keinen Gebrauch machen. Der letzte, durch den Telegraphen uebermittelte Ukas war in den sibirischen Provinzen bekannt, und auf einen Russen lenkte sich dadurch, dass er von der Befolgung der in jenem enthaltenen Vorschriften speciell dispensirt war, schon die allgemeine Aufmerksamkeit, die der Courier des Czaar doch vor Allem zu vermeiden suchte. Sollten die ausgesprochenen Befuerchtungen des Jemschiks vielleicht nur daher ruehren, dass der Schlaukopf seine Rechnung auf die Ungeduld des Reisenden gruendete? Oder war in der That jetzt ein unliebsames Abenteuer zu befuerchten? Endlich fuhr der Tarantass ab und bewegte sich mit einer solchen Schnelligkeit weiter, dass er um drei Uhr Nachmittags Kulatsinskoe, in einer Entfernung von 80 Werst, gluecklich erreichte. Eine Stunde spaeter befand er sich an dem Ufer des Irtysch. Omsk lag von hier aus nur noch 20 Werst entfernt. Dieser Irtysch ist ein bedeutender Strom, eine der sibirischen Hauptarterien, die ihre Waesser nach dem Norden Asiens hinabrollen. Entsprungen in den Altaibergen, wendet er sich schraeg von Suedosten nach Nordwesten und muendet zuletzt, nach einem Stromlaufe von 700 Werst, in den Obi ein. Zu dieser Zeit des Jahres, der Periode des Hochwassers aller Stroeme der sibirischen Niederung, war auch der Wasserstand des Irtysch ein ungewoehnlich hoher, so dass die heftige, fast reissende Stroemung die Ueberschreitung des Flusses ziemlich schwierig machte. Auch der beste Schwimmer haette sich wohl nicht hindurch zu arbeiten vermocht; ja, selbst eine Faehre, das einzige Mittel zur Ueberfahrt ueber den Irtysch, bot jetzt einige Gefahren. Diese Gefahren aber konnten, ebenso wenig wie alle anderen, Michael Strogoff und Nadia auch nur einen Augenblick aufhalten, da Beide entschlossen waren, all' und jedem Hinderniss ohne Besinnen zu trotzen. Inzwischen machte Michael Strogoff seiner jungen Begleiterin den Vorschlag, erst allein ueber den Fluss zu gehen, indem er sich auf der mit dem Fuhrwerk und der Bespannung beladenen Faehre einschiffen wollte, denn er fuerchtete, dass das Gewicht dieser Ladung die Sicherheit der Faehre einigermassen in Frage stellen koenne. Nachdem er Pferde und Wagen am jenseitigen Ufer gelandet, wollte er zurueckkehren, um Nadia abzuholen. Nadia verweigerte diese Ruecksichtnahme, welche eine volle Stunde Zeitverlust veranlasst haette, und sie wollte um ihrer persoenlichen Sicherheit halber nie die Ursache einer Verzoegerung sein. Die Einschiffung ging nicht gar so leicht von statten, denn das Ufer stand jetzt theilweise unter Wasser und die Faehre konnte in Folge dessen nicht so nahe anlegen. Nach halbstuendiger Anstrengung brachte der Faehrmann den Tarantass und die drei Pferde gluecklich auf dem Fahrzeug unter. Michael Strogoff, Nadia und der Jemschik schifften sich ein, und man stiess nun vom Ufer. Waehrend der ersten Minuten ging Alles ganz gut. Der Strom des Irtysch, der sich weiter stromauf an einer weit vorspringenden Landzunge brach, bildete hier eine Art Wirbel, welchen die Faehre leicht ueberwand. Die beiden Schiffer stiessen das Fahrzeug mit zwei langen Stangen, deren sie sich sehr geschickt bedienten, vorwaerts; je mehr sie sich aber der Mitte des Stromes naeherten, desto mehr vertiefte sich dessen Bett, so dass von den Stangen kaum noch der obere Theil frei blieb, auf den jene sich mit der Schulter stemmten. Dieser Kopf der Stange ragte zuletzt kaum noch einen Fuss aus dem Wasser, was die Arbeit der Leute natuerlich nicht wenig erschwerte. Michael Strogoff und Nadia hatten im hinteren Theile der Faehre Platz genommen und beobachteten, immer in der Furcht eine Verzoegerung zu erleiden, aufmerksam die Anstrengungen der Bootsfuehrer. "Achtung!" rief da der Eine hastig seinem Kameraden zu. Diesen Zuruf veranlasste eine unerwartete Wendung der Faehre, welche mit grosser Geschwindigkeit vor sich ging. Sie ward direct von der Stroemung des Flusses ergriffen und von dieser stromabwaerts mit fortgerissen. Es handelte sich also darum, durch geschickte Handhabung der Stangen die Faehre wieder in schraege Linie gegen die Richtung der Wellenbewegung zu bringen. Die Bootsfuehrer liessen nichts unversucht, und es gelang ihnen, wenn auch mit einiger Muehe, die Direction des Fahrzeugs wieder zu veraendern und nach dem rechten Ufer zu etwas an Weg zu gewinnen. Man konnte schon mit Sicherheit berechnen, dass das Faehrboot fuenf bis sechs Werst stromab von der Abfahrtsstelle das Ufer erreichen wuerde, was ja nicht von zu grosser Bedeutung war, wenn nur Menschen und Thiere gluecklich das Land erreichten. Die beiden Bootsfuehrer, kraeftige Maenner, welche noch das Versprechen eines reichlichen Faehrgeldes besonders antrieb, setzten nicht den mindesten Zweifel in das glueckliche Ueberschreiten des angeschwollenen Irtysch. Dabei liessen sie freilich einen Zwischenfall ausser Acht, den sie unmoeglich voraussehen konnten, und weder ihr Eifer noch ihr Geschick haetten eben gegen diesen etwas auszurichten vermocht. Die Faehre befand sich inmitten der Stroemung, etwa in gleicher Entfernung von beiden Ufern, und schwamm mit der Schnelligkeit von zwei Werst in der Stunde mit jener thalabwaerts, als Michael Strogoff sich erhob und mit gespannter Aufmerksamkeit die Blicke stromaufwaerts richtete. Er bemerkte in dieser Richtung einige Barken, die der Strom mit ungeheurer Schnelligkeit herabtrug, denn zu der der Wasserbewegung gesellte sich noch der Druck der Ruder, mit denen sie ausgeruestet waren. Auf Michael Strogoff's Stirn bildeten sich ploetzlich einige Falten und ein leiser Schrei kam unwillkuerlich ueber seine Lippen. "Was giebt es?" fragte das junge Maedchen. Aber bevor Michael Strogoff noch Zeit fand zu antworten, rief einer der Bootsfuehrer mit erschrockener Stimme: "Die Tartaren! Die Tartaren!" Wirklich glitten einige von Bewaffneten besetzte Barken den Irtysch in groesster Schnelligkeit hinab und mussten binnen wenigen Minuten die Faehre erreichen, welche viel zu tief im Wasser ging, um jenen schnell genug entweichen zu koennen. Erschreckt durch diesen Anblick schrieen die Faehrleute verzweifelt auf und verliessen ihre Bootshaken. "Muth, Muth, Freunde! rief ihnen Michael Strogoff zu! Fuenfzig Rubel sind euer, wenn wir das Ufer noch vor der Ankunft jenes Raubgesindels erreichen!" Dieses Versprechen belebte noch einmal die kleinmuethigen Faehrleute so weit, dass sie mit dem Aufgebot aller Kraefte die scharfe Stroemung zu durchschneiden suchten, aber dennoch zeigte sich bald die Unmoeglichkeit, vor Ankunft der Tartaren zu landen. Wuerden diese nun vorueberfahren, ohne die Faehre und ihre Insassen zu belaestigen? Wahrscheinlich nicht! Im Gegentheil hatte man von diesen Barbaren Alles zu fuerchten. "Hab' keine Furcht, Nadia, sagte Michael Strogoff, aber bereite Dich vor auf Alles! -- Ich bin es, antwortete Nadia. -- Selbst Dich in den Fluss zu stuerzen, wenn ich es verlangte? -- Auf Dein erstes Wort. -- Vertraue mir, Nadia. -- Ich vertraue Dir stets." Die Tartarenboote schwammen jetzt nur noch in einer Entfernung von hundert Schritten daher. Sie trugen eine Abtheilung bukharischer Soldaten, welche offenbar eine Recognoscirung von Omsk beabsichtigten. Die Faehre befand sich jetzt noch zwei Schiffslaengen weit vom Ufer. Die Schiffer verdoppelten ihre Anstrengungen. Auch Michael Strogoff sprang ihnen noch bei und ergriff einen Bootshaken, den er mit uebermenschlicher Kraft handhabte. Vermochte er den Tarantass noch auszuschiffen und im Galop davon zu fahren, so schimmerte ihm doch noch einige Hoffnung, den nicht berittenen Tartaren zu entgehen. Aber alle Muehe, alle Anstrengung sollte vergeblich sein! "_Sarin na kitschu!_" riefen die Soldaten aus dem ersten Boote. Michael Strogoff verstand das Kriegsgeschrei der tartarischen Piraten, auf das es keine andere Antwort gab, als sich platt auf den Boden zu werfen. Und da weder er selbst noch die Bootsfuehrer diesem Befehle gehorchten, knatterte eine kraeftige Gewehrsalve, von der zwei der Pferde toedtlich getroffen wurden. Da - in diesem Augenblick, - folgte auch ein heftiger Stoss: die Barken waren an der Langseite der Faehre angelangt. "Komm, Nadia!" rief Michael Strogoff, bereit sich mit ihr ueber Bord zu stuerzen. Eben wollte das junge Maedchen ihm nachfolgen, als Michael Strogoff von einem Lanzenstosse getroffen in den Strom fiel. Das Wasser riss ihn mit weg; einen Augenblick noch kaempften seine Arme ueber den Fluthen, dann verschwand er unter den wirbelnden Wellen. Nadia hatte es mit einem Schrei gesehen; doch bevor sie noch Zeit gewann, sich Michael Strogoff nachzustuerzen, ward sie ergriffen, weggeschleppt und in eines der Boote gefangen gesetzt. Einen Augenblick nachher fielen die Bootsfuehrer, von Lanzenstichen durchbohrt, und die Faehre trieb steuerlos weiter, waehrend die Tartaren den Lauf des Irtysch weiter stromab ruderten. Vierzehntes Capitel. Mutter und Sohn. Omsk ist die officielle Hauptstadt des westlichen Sibiriens. Es ist zwar nicht die bedeutendste Stadt des gleichnamigen Gouvernements, da Tomsk mehr Einwohner zaehlt und einen betraechtlicheren Umfang hat, in Omsk residirt jedoch der Generalgouverneur dieser ersten Haelfte des asiatischen Russlands. Omsk besteht genau genommen aus zwei verschiedenen Staedten, von denen die eine ausschliesslich von den Behoerden eingenommen und von den zugehoerigen Beamten bewohnt ist, waehrend die andere vorzueglich die sibirischen Kaufleute, deren Handelsbeziehungen freilich von keiner besonderen Bedeutung sind, beherbergt. Die Einwohnerzahl dieser Stadt mag sich auf 12-13,000 Seelen belaufen. Sie wird durch eine von Bastionen verstaerkte Umwallung vertheidigt; freilich bestehen diese Befestigungen nur aus Erdwerken und bieten nur einen sehr unzulaenglichen Schutz. Die Tartaren gingen, wohl bekannt mit obiger Sachlage, eben jetzt daran, die Stadt durch einen Sturmangriff in ihre Gewalt zu bringen, was ihnen auch nach einer Einschliessung von nur wenigen Tagen gelingen sollte. Die kaum 2000 Mann zaehlende Besatzung von Omsk hatte mannhaften Widerstand geleistet. Das obere Quartier von Omsk war hierbei in eine Art Citadelle umgewandelt, die Haeuser und Kirchen mit Schiessscharten versehen worden, und in diesem improvisirten Kreml hielten sich die Truppen zur Zeit noch, trotz der mangelnden Aussicht auf eine baldige Entsetzung. Die tartarischen Truppen dagegen erhielten unter Benutzung des Wasserweges auf dem Irtysch tagtaeglich neuen Zuzug und wurden, - hier ein besonders wichtiger Umstand, - von einem Officier angefuehrt, der zwar ein Verraether an seinem Vaterlande, aber doch ein Mann von hohem Verdienste und beispielloser Kuehnheit war. Iwan Ogareff befehligte die feindlichen Schaaren. Iwan Ogareff, ebenso furchtbar, wie der Tartarenchef, den er vorwaerts draengte, zeichnete sich durch tiefe militaerische Kenntnisse aus. In seinen Adern rollte, ein Erbtheil von seiner Mutter, welche von asiatischer Herkunft war, auch etwas mongolisches Blut; er liebte jede List, legte gern Hinterhalte und schreckte vor keinem Mittel zurueck, wenn es ihm darauf ankam, dem Gegner eine Falle zu stellen. Arglistig von Natur, bediente er sich bald der gemeinsten Verkleidungen und trat gelegentlich selbst als Bettler auf, wobei ihn seine ausserordentliche Geschicklichkeit der Verstellung des aeussern Ansehens und des ganzen Benehmens wesentlich unterstuetzte. Dabei befaehigte ihn seine Grausamkeit, im Nothfall den Henker selbst zu spielen. Feofar-Khan besass in ihm einen Stellvertreter, der es vollkommen verdiente, ihm bei jenem wilden Kriegszuge beizustehen. Als Michael Strogoff an den Ufern des Irtysch anlangte, war Iwan Ogareff schon Herr in Omsk und beeilte die Belagerung des hoeher gelegenen Stadtviertels um so mehr, als er Eile hatte, sich nach Tomsk zu begeben, wo sich die Hauptmacht der Tartarenhorden concentrirte. Tomsk war naemlich vor einigen Tagen in Feofar-Khan's Haende gefallen und von hier aus wollten die Eindringlinge, nach der Besitznahme der centralsibirischen Gebiete, nach Irkutsk aufbrechen. Irkutsk bildete das eigentliche Ziel Iwan Ogareff's. Der Plan des erbaermlichen Verraethers ging dahin, sich dem Grossfuersten daselbst unter falschem Namen anzuschliessen, sein Vertrauen zu erschleichen und ihn zur gegebenen Stunde sammt der Stadt den Tartaren in die Haende zu liefern. Mit dieser Stadt und einer solchen Geissel im Besitz musste das ganze asiatische Sibirien in die Gewalt der Eindringlinge kommen. Wir wissen ja von frueher, dass dieser Anschlag zur Kenntniss des Czaaren gelangt war, und um ihn zu vereiteln, hatte man Michael Strogoff mit der hochwichtigen Mission betraut. Deshalb erhielt der junge Mann seiner Zeit auch die gemessensten Befehle, das von den Feinden ueberschwemmte Land unter falschem Namen zu durchreisen. Bis hierher hatte er seine Mission getreulich erfuellt - wuerde er sie aber auch jetzt noch ebenso zu Ende fuehren koennen? Der Lanzenstoss, den Michael Strogoff empfing, war nicht toedtlich gewesen. Unter dem Wasser schwimmend erreichte er ungesehen das rechte Flussufer und brach in dem Gebuesch daselbst kraftlos zusammen. Als er wieder zum Bewusstsein kam, sah er sich zu seiner Verwunderung in der Huette eines Mujik, der ihn aufgehoben und verpflegt hatte, und dem er zunaechst die Rettung seines Lebens dankte. Seit wie lange mochte er der Gast des braven Sibiriers sein? - er vermochte sich darueber keine Rechenschaft zu geben. Als er die Augen oeffnete, bemerkte er ueber sich ein baertiges, aber freundliches Gesicht, auf dem ein theilnehmendes Laecheln spielte. Schon wollte er fragen, wo er sich befinde, als der besorgte Mujik ihm zuvorkam: "Sprich nicht, Vaeterchen, sprich nicht! Du bist noch zu schwach. Ich werde Dir sagen, wo Du bist, und erzaehlen, was sich zugetragen hat, seitdem ich Dich in mein Haeuschen schaffte." Der redliche Landmann erzaehlte hierauf den Verlauf des kurzen Kampfes, dessen Augenzeuge er zufaellig geworden, den Angriff der Tartarenboote, die Pluenderung des Tarantass, die Ermordung der Faehrleute ... Doch darauf hoerte Michael Strogoff kaum, er fuhr mit der Hand unter seine Kleidung und fuehlte den kaiserlichen Brief noch immer unversehrt auf seiner Brust. Er athmete auf, noch war er indess nicht jeder Sorge ledig. "Mich begleitete ein junges Maedchen, sagte er. -- Sie wurde nicht getoedtet! antwortete der Mujik, der die Unruhe zu beschwichtigen suchte, die aus den Augen seines Pflegebefohlenen leuchtete. In einer Barke haben sie jene entfuehrt, als sie den Irtysch weiter stromab ruderten! Sie ist jetzt eine Gefangene mehr, welche man mit ihren Leidensgefaehrtinnen nach Tomsk schleppt!" Michael Strogoff konnte keine Sylbe erwidern, er presste seine Hand auf's Herz, um dessen stuermisches Klopfen zu bewaeltigen. Und doch, trotz aller Pruefungen, beherrschte nur ein Gefuehl seine ganze Seele, das Gefuehl seiner heiligen Pflicht. "Wo bin ich? fragte er. -- Auf dem rechten Ufer des Irtysch und nur fuenf Werst von Omsk entfernt, antwortete ihm der Mujik. -- Was fuer eine Wunde empfing ich damals, dass sie mich so lange besinnungslos machen konnte? Vielleicht einen Flintenschuss? -- Nein, einen jetzt vernarbten Lanzenstich am Kopfe, erwiderte der Mujik. Nach einigen Tagen der Ruhe, Vaeterchen, wirst Du, denk' ich, Deinen Weg fortsetzen koennen. Du warst in's Wasser gestuerzt. Die Tartaren haben Dich weder beruehrt noch gepluendert; auch Deine Boerse steckt noch in Deiner Tasche." Michael Strogoff reichte dem ehrlichen Bauer die Hand. Dann richtete er sich mit einer ploetzlichen Anstrengung auf und fragte: "Wie lange liege ich schon in Deinem Hause, guter Freund? -- Seit drei Tagen. -- Drei ganze Tage verloren! -- Drei Tage, waehrend der Du bewusstlos dalagst. -- Kannst Du mir ein Pferd verkaufen? -- Du willst weiter reisen? -- Womoeglich noch diesen Augenblick. -- Ich habe weder ein Pferd, noch einen Wagen, Vaeterchen. Wo die Tartaren vorueber zogen, da ist von solchen Dingen nichts uebrig geblieben. -- So werde ich nach Omsk zu Fuss gehen muessen, um dort ein Pferd zu kaufen. -- Pflege Dich nur noch einige Stunden, dann wirst Du besser im Stande sein, Deinen Weg fortzusetzen. -- Keine Stunde laenger! -- So komm, antwortete der Mujik, da er einsah, dass er vergeblich dem festen Willen seines Gastes entgegen trat. Ich werde Dir selbst das Geleit geben, fuegte er hinzu. Uebrigens befinden sich noch viele Russen in Omsk und vielleicht gelangst Du noch unbemerkt hindurch. -- Vergelte Dir der Himmel, wackrer Freund, erwiderte Michael Strogoff, lohne er Dir, was Du Alles fuer mich gethan hast! -- Eine Belohnung! versetzte der Mujik, nur die Thoren erwarten eine solche auf der Erde." Michael Strogoff trat aus der Huette. Als er gehen wollte, uebermannte ihn ein so heftiger Schwindel, dass er ohne die hilfreiche Unterstuetzung des Bauern wohl umgesunken waere, aber bald staerkte ihn der Genuss der freien Luft sichtlich. Jetzt fuehlte er erst die Nachwehen jenes gegen seinen Kopf gefuehrten Stosses, dessen Heftigkeit seine Pelzmuetze gluecklicher Weise gebrochen hatte. Bei der bekannten, ihm innewohnenden Energie war er nicht der Mann, sich viel um diese Kleinigkeit zu kuemmern. Vor seinen Augen sah er nur das eine Ziel, das entlegene Irkutsk, welches er erreichen musste! Omsk musste er deshalb ohne jeden Aufenthalt passiren. "Gott schuetze meine Mutter und Nadia, murmelte er, jetzt habe ich kein Recht, an Beide zu denken." Michael Strogoff und der Bauer kamen bald in dem Kaufmannsviertel der Unterstadt an, in welche sie trotz der militaerischen Besetzung derselben unschwer hineingelangten. Der Erdwall um jene zeigte sich an vielen Stellen zerstoert, die ebenso viele Breschen darstellten, durch welche sich die Marodeurs der Armee Feofar-Khan's eindraengten. Im Innern von Omsk, auf den Strassen und Plaetzen, wimmelte es von tartarischen Soldaten, aber man konnte dabei doch leicht wahrnehmen, dass eine eiserne Faust sie hier in den Fesseln einer Disciplin hielt, an welche Jene wohl nur wenig gewoehnt waren. Sie liefen auch nie einzeln umher, sondern marschirten in bewaffneten Abtheilungen, um in der Lage zu sein, jeden Angriff abzuwehren. Auf dem zu einem Lager umgestalteten und dicht mit Wachposten besetzten Platze bivouakirten gegen 2000 Tartaren in guter Ordnung. An eingerammten Pfaehlen standen die Pferde angebunden, aber stets in voller Ausruestung, um beim ersten Befehl zum Aufbruch fertig zu sein. Immerhin bildete Omsk nur einen provisorischen Halteplatz fuer die Tartarenreiter, welche die reicheren Ebenen Ostsibiriens vorziehen mussten, weil dort die Staedte bedeutender, die Landschaften fruchtbarer, die Raubzuege also jedenfalls ergiebiger wurden. Ueber dem Handelsviertel erhaben thronte die obere Stadt, welche Iwan Ogareff trotz mehrerer stuermischer Angriffe, die immer standhaft abgewiesen worden waren, in seine Gewalt noch nicht hatte bringen koennen. Von den in Vertheidigungszustand gesetzten Gebaeuden flatterten noch immer die Fahnen mit den russischen Farben. Nicht ohne einen gewiss berechtigten Stolz begruessten Michael Strogoff's und seines Fuehrers Wuensche das wehende Banner. Michael Strogoff kannte die Stadt Omsk natuerlich vollstaendig. Waehrend er scheinbar seinem Fuehrer folgte, wusste er doch geschickt die lebhaftesten Strassen zu vermeiden. Das geschah nicht aus Besorgniss erkannt zu werden. In dieser Stadt haette nur seine alte Mutter ihn bei seinem wahren Namen rufen koennen; aber er hatte geschworen, sie nicht zu sehen, er war entschlossen, an diesem Versprechen zu halten. Uebrigens war diese vielleicht - was er von ganzem Herzen wuenschte, - nach irgend einem ruhigeren Theil der Steppe entflohen. Zum Glueck kannte der Mujik persoenlich einen Postmeister, der es seiner Annahme nach fuer gute Bezahlung nicht ausschlagen wuerde, einen Wagen und Pferde entweder zu verleihen oder zu verkaufen. Dann blieb nur noch die Schwierigkeit uebrig, die Stadt selbst zu verlassen, wobei die zahlreichen Breschen in der Umwallung freilich Michael Strogoff's Entkommen einigermassen erleichtern mussten. Der Mujik fuehrte seinen Gast also geraden Weges nach dem Relais, als Michael Strogoff ploetzlich in einer engen Strasse stehen blieb und sich hinter einem Mauervorsprunge verbarg. "Was ist Dir? fragte der Bauer, erstaunt ueber dieses unerklaerliche Benehmen. -- Still, still!" fluesterte ihm Michael Strogoff hastig zu, indem er noch den Finger auf seine Lippen legte. Eben schwenkte eine Abtheilung Tartaren von dem Hauptplatze ab und bog in dieselbe Gasse ein, welche Michael Strogoff und sein Begleiter ganz kurz vorher betreten hatten. An der Spitze der aus etwa zwanzig Berittenen bestehenden Schaar trabte ein Officier in sehr einfacher Uniform. Obwohl seine Augen immer von einer Seite zur andern schweiften, konnte er Michael Strogoff, der seinen Rueckzug ebenso schnell als geschickt bewerkstelligte, unmoeglich gesehen haben. Das Detachement zog in scharfem Trabe durch die enge Strasse. Weder der Officier noch seine Leute achteten besonders auf die Bewohner. Die Ungluecklichen gewannen kaum Zeit, der Reiterabtheilung genuegenden Platz zu machen. Da und dort wurde auch ein halb erstickter Schrei mit einem ruecksichtslosen Lanzenstosse beantwortet und der Weg auf diese Weise in kuerzester Zeit gesaeubert. "Wer war dieser Officier?" fragte Michael Strogoff, als die Abtheilung vorueber getrabt war, den Bauer, dem er sich jetzt wieder anschloss. Schon als er diese Frage stellte, ward sein Gesicht so bleich, wie das einer Leiche. "Das war Iwan Ogareff, antwortete der Sibirier mit leiser Stimme, aus der man einen verhaltenen Hass heraushoerte. -- Er!" rief Michael Strogoff, dem dieses Wort mit einem Accente des Zornes entfuhr, den er nicht zu bemeistern vermochte. Er hatte in dem Officier jenen Reisenden wieder erkannt, der ihn auf dem Relais zu Ischim geschlagen hatte. Und gleichzeitig, so als ob ihm ploetzlich ein Licht aufging, erinnerte ihn dieser Reisende, trotzdem er ihn nur ganz kurze Zeit gesehen hatte, an den alten Zigeuner, von dem er jene Worte auf der Messe in Nischnij-Nowgorod vernommen hatte. Michael Strogoff taeuschte sich nicht. Diese beiden Erscheinungen gehoerten nur einer Person an. In der Verkleidung als Zigeuner hatte Iwan Ogareff unter der Truppe der alten Sangarre die Provinz Nischnij-Nowgorod zu verlassen gewusst, wo er unter den zahllosen Fremden, welche die Messe nach jener Stadt aus Centralasien heranzieht, Spiessgesellen zur Ausfuehrung seines fluchwuerdigen Vorhabens gesucht haben mochte. Sangarre nebst der ganzen uebrigen Gesellschaft standen nur als Spione in seinem Sold und waren ihm auf Leben und Tod ergeben. Er war es gewesen, der in der Nacht auf dem Messplatze jene auffallenden Worte gesprochen hatte, deren Sinn Michael Strogoff jetzt erst ordentlich verstand; er reiste damals mit der ganzen Zigeunerbande auf dem Dampfer "Kaukasus"; er ueberschritt den Ural jedenfalls auf einem andern Wege von Kasan nach Ischim und erreichte endlich Omsk, das jetzt unter seinem Befehle seufzte. Iwan Ogareff war selbst vor kaum drei Tagen erst in Omsk eingetroffen und ohne jenes unangenehme Zusammentreffen in Ischim und dem beklagenswerthen Vorfalle, der ihn drei Tage lang am Ufer des Irtysch festhielt, haette Michael Strogoff Jenen auf dem Wege nach Irkutsk gewiss weit ueberholt. Und wer weiss, wie viel Unglueck in der naechsten Zeit dadurch vermieden worden waere! Jedenfalls, ja, mehr als je vorher musste Michael Strogoff Iwan Ogareff ausweichen, um von Letzterem nicht gesehen zu werden. Kam einst der Zeitpunkt, ihm Auge in Auge gegenueber zu treten, so wuerde er ihn wieder zu finden wissen, wenn Jener sich auch zum Herrn von ganz Sibirien aufgeworfen haette. Der Mujik und er nahmen also ihren Weg durch die Stadt wieder auf und gelangten unbelaestigt nach dem Posthause. Nach Einbruch der Nacht konnte es nicht allzu schwierig sein, Omsk durch eine der Breschen zu verlassen. Dagegen stellte sich die Unmoeglichkeit heraus, an Stelle des Tarantass ein anderes Fuhrwerk zu erhalten. Es fand sich weder ein Wagen zu miethen, noch zu kaufen. Aber bedurfte denn Michael Strogoff jetzt wirklich eines Wagens? War er fuer den uebrigen Theil der Reise nicht allein? Ihm musste auch schon ein Reitpferd genuegen, und ein solches war gluecklicher Weise zu beschaffen. Er bekam ein tuechtiges, zum Ertragen schwerer Strapazen offenbar geeignetes Thier, von dem sich Michael Strogoff, ein gewandter, ausdauernder Reiter, den groessten Nutzen versprach. Das Pferd kostete eine bedeutende Summe; nach einigen Minuten schon stand es zum Aufbruch bereit. Es war jetzt etwa um vier Uhr Nachmittags. Da Michael Strogoff die Nacht abwarten musste, um die Umwallung zu passiren, sich in den Strassen von Omsk aber doch nicht zeigen wollte, so blieb er gleich im Posthause und liess sich daselbst einige Staerkungsmittel besorgen. In dem oeffentlichen Wartesaale des Hauses ging es sehr lebhaft zu. So wie wir es von den russischen Bahnhoefen kennen gelernt haben, liefen die aengstlichen Einwohner hier zusammen, um neue Nachrichten zu erhaschen. Man sprach von der bevorstehenden Ankunft eines Corps russischer Truppen, zwar nicht in Omsk, aber in Tomsk, - eines Corps, das diese Stadt den Tartaren Feofar-Khan's wieder entreissen sollte. Michael Strogoff lauschte gespannt auf jedes in seiner Umgebung gesprochene Wort, vermied es aber, sich selbst in ein Gespraech einzulassen. Ploetzlich machte ein Aufschrei ihn erzittern, ein Schrei, der hinabdrang bis zum Grunde seiner Seele, und an sein Ohr schlugen die beiden Worte: "Mein Sohn! Mein Sohn!" Seine Mutter, die alte Marfa, stand vor ihm. Sie laechelte und sie zitterte doch vor Freude und streckte ihm sehnsuechtig die Arme entgegen. Michael Strogoff erhob sich. Er wollte ihr entgegenfliegen .... Da hielt ihn der Gedanke an seine Pflicht, an die ernsthafte Gefahr fuer seine Mutter und ihn bei dieser bedauerlichen Begegnung ploetzlich zurueck, und er gewann so viel Herrschaft ueber sich, dass auch nicht ein Muskel seines Gerichtes zuckte. Zwanzig Personen fuellten jetzt den Wartesaal. Unter ihnen konnten recht wohl einige Spione sein, und wusste man denn nicht auch, dass Marfa Strogoff's Sohn zu dem Specialcorps der Couriere des Czaaren gehoerte? Michael Strogoff sprach kein Wort. "Michael! rief seine Mutter. -- Wer sind Sie, geehrte Dame? fragte Michael Strogoff, der die Worte mehr hervorstammelte als aussprach. -- Wer ich bin? Das fragst Du? Mein Kind, erkennst Du Deine Mutter nicht mehr wieder? -- Sie taeuschen sich! ... antwortete Michael Strogoff kalt, eine Aehnlichkeit fuehrt Sie irre ...." Die alte Marfa ging gerade auf ihn zu und stellte sich ihm Aug' in Auge gegenueber. "Du bist nicht Peter und Marfa Strogoff's Sohn?" sagte sie. Michael Strogoff haette sein Leben darum gegeben, seine Mutter offen in die Arme schliessen zu duerfen, aber wenn er nachgab, war es nicht nur um ihn, sondern auch um sie, um seinen Auftrag, um seinen Eid geschehen! Er bezwang sich nach Kraeften, er schloss die Augen, um nicht die angsterregten Zuege in dem Antlitz der kindlich verehrten Mutter sehen zu muessen; er zog seine Haende zurueck, um nicht unwillkuerlich den zitternden Haenden, die nach ihm verlangten, zu begegnen. "Ich weiss in der That nicht, liebe Frau, was ich aus Ihren Worten machen soll, antwortete er, einige Schritte zurueckweichend. -- Michael! rief noch einmal die bejahrte Mutter. -- Ich heisse nicht Michael! Ich bin nie Ihr Sohn gewesen. Ich bin Nicolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk!..." Hastig verliess er den Wartesaal, in dem noch einmal die Worte wiedertoenten: "Mein Sohn! Mein Sohn!" Michael Strogoff war abgereist, so schwer es ihm wurde. Er sah seine alte Mutter, welche bewusstlos auf einer Bank zusammen gebrochen war, fuer jetzt nicht mehr. Gerade als der Postmeister ihr zu Hilfe eilen wollte, erhob sich die alte Frau selbst schon wieder. In ihrem Geiste war es ploetzlich hell geworden. Sie, - verleugnet von ihrem leiblichen Sohne, - das war unmoeglich! Ebenso unmoeglich erschien es ihr aber, sich getaeuscht und einen Anderen fuer ihn gehalten zu haben. Ohne Zweifel war es ihr Sohn gewesen, den sie eben gesehen hatte, und wenn Dieser sie nicht wieder erkannte, so wollte er es nicht, so durfte er sie nicht erkennen, so hatte er triftige, zwingende Gruende, so zu handeln. Dann unterdrueckte sie allen Mutterschmerz in ihrer Brust und peinigte sich mit dem einzigen Gedanken: "Sollte ich ihn wider Willen in's Verderben gestuerzt haben?" "Ich bin eine Thoerin! antwortete sie Allen, die sie fragten. Meine Augen haben mich betrogen! Dieser junge Mann ist mein Kind nicht! Er hatte ja gar nicht dessen Stimme! Lassen wir es. Zuletzt werde ich meinen Sohn noch in Jedermann zu sehen glauben." Kaum zehn Minuten spaeter erschien ein Tartarenofficier im Posthause. "Marfa Strogoff? fragte er laut. -- Das bin ich, antwortete die betagte Frau so ruhig im Ton und im Antlitz, dass die Zeugen der vorigen Scene sie kaum wieder erkannten. -- Komm mit mir!" sagte der Officier. Mit sicherem Schritte folgte Marfa Strogoff dem tartarischen Officier und verliess das Posthaus. Wenige Minuten spaeter befand sich Marfa Strogoff mitten in dem Truppenlager des Hauptplatzes und gegenueber dem gefuerchteten Iwan Ogareff, dem alle Einzelheiten der oben erzaehlten Scene unverweilt berichtet worden waren. Iwan Ogareff muthmasste ebenfalls den wahren Sachverhalt und hatte die alte Sibirierin selbst darueber befragen wollen. "Dein Name? leitete er das Verhoer in strengem Tone ein. -- Marfa Strogoff. -- Du hast einen Sohn? -- Ja. -- Er ist Courier des Czaaren? -- Ja. -- Wo befindet er sich? -- In Moskau. -- Du bist von ihm ohne Nachrichten? -- Ohne jede Nachricht. -- Seit wie lange? -- Seit zwei Monaten. -- Wer ist aber der junge Mann, den Du noch vor wenig Augenblicken im Posthause Deinen Sohn nanntest? -- Ein junger Sibirier, den ich fuer ihn hielt, antwortete Marfa Strogoff. Das ist der Zehnte, in dem ich meinen Sohn zu finden glaubte, seit die Stadt voller Fremden ist. Ich glaube ihn eben ueberall zu erkennen. -- Jener junge Mann war demnach Michael Strogoff nicht? -- Er war es leider nicht. -- Weisst Du, alte Frau, dass ich Dich foltern lassen kann, bis Du die Wahrheit eingestehst? -- Ich spreche die Wahrheit, und keine Folter wuerde meine Aussage abzuaendern vermoegen. -- Jener Sibirier war Michael Strogoff wirklich nicht? fragte zum zweiten Male und eindringlicher Iwan Ogareff. -- Nein! Er war es nicht! antwortete Marfa Strogoff zum zweiten Male. Glaubt Ihr, ich wuerde um Alles in der Welt einen solchen Sohn, wie mir ihn Gott gegeben hat, verleugnen?" Mit boshaftem Auge fixirte Iwan Ogareff die Frau, die ihm in's Gesicht zu trotzen wagte. Er zweifelte keinen Augenblick, dass sie in dem jungen Sibirier ihren Sohn wirklich erkannt habe. Und wenn dennoch der Sohn zuerst die Mutter verleugnet hatte, wie es die Mutter jetzt ihrerseits that, so mussten dem unzweifelhaft sehr ernste Ursachen zu Grunde liegen. Iwan Ogareff galt es als unbestreitbare Thatsache, dass der angebliche Nicolaus Korpanoff kein Anderer sei, als Michael Strogoff, der Courier des Czaaren, der sich unter einem falschen Namen verbarg und der einen Auftrag haben musste, dessen Kenntniss fuer ihn von der weitgehendsten Bedeutung sein konnte. Er gab also sofort Befehl, Jenen zu verfolgen. Dann wendete er sich gegen Marfa Strogoff zurueck und sagte: "Diese Frau soll sofort nach Tomsk uebergefuehrt werden!" Und waehrend die Soldaten Jene roh und grausam fortdraengten, murmelte er zwischen den Zaehnen: "Zur passenden Zeit werde ich ihr schon die Zunge zu loesen wissen, der alten Hexe!" Fuenfzehntes Capitel. Der Barabinen-Sumpf. Es war Michael Strogoff's Glueck gewesen, dass er das Posthaus so schnell als moeglich verliess. Auf Iwan Ogareff's Befehl wurden sofort alle Ausgaenge der Stadt scharf bewacht und sein Signalement allen Postmeistern mitgetheilt, um sein Entkommen aus Omsk zu verhindern. Als das aber geschah, hatte er schon eine Bresche des Erdwalls hinter sich, sein Pferd jagte durch die Steppe, und da er keine unmittelbaren Verfolger hinter sich sah, durfte er auf das Gelingen seiner Flucht wohl hoffen. Am 29. Juli, Abends gegen acht Uhr, hatte Michael Strogoff Omsk verlassen. Diese Stadt liegt ungefaehr in der Mitte des Weges von Moskau nach Irkutsk, woselbst er vor Ablauf von zehn Tagen eintreffen musste, wenn er die tartarischen Horden hinter sich lassen wollte. Offenbar hatte der beklagenswerte Zufall, welcher ihn seiner Mutter vor Augen fuehrte, sein Incognito verrathen. Iwan Ogareff konnte nicht mehr darueber im Unklaren sein, dass ein Courier des Czaaren auf dem Wege nach Irkutsk durch Omsk gekommen sei. Die Depeschen dieses Eilboten mussten von besonderer Wichtigkeit sein. Michael Strogoff ahnte also auch, dass man Alles daran setzen werde, sich seiner Person zu bemaechtigen. Was er aber nicht wusste, was er nicht wissen konnte, war, dass Marfa Strogoff sich in Iwan Ogareff's Gewalt befand, dass sie buessen, vielleicht mit ihrem Leben bezahlen sollte fuer die Erregung ihres Mutterherzens, die sie bei dem unerwarteten Anblick ihres Sohnes nicht zu unterdruecken im Stande gewesen war. Ein Glueck fuer ihn, dass er davon nichts wusste! Haette er dieser neuen Pruefung widerstehen koennen? Michael Strogoff trieb sein Ross an, er floesste ihm gleichsam dieselbe fieberhafte Ungeduld ein, die ihn verzehrte; er verlangte nur das Eine von dem Thiere, ihn so schnell als moeglich nach dem naechsten Relais zu tragen, wo er es gegen ein noch schnelleres Befoerderungsmittel einzutauschen hoffte. Um Mitternacht hatte er siebzig Werst zurueckgelegt und machte bei der Station Kulikowo Halt. Doch auch hier fand er, eine Bestaetigung seiner Besorgniss, weder Pferde noch Wagen. Einzelne Abtheilungen Tartaren waren schon auf der Hauptstrasse durch die Steppe dahin gezogen. In den Doerfern und den Postrelais hatte man Alles requirirt oder geradezu gestohlen. Michael Strogoff konnte kaum einige Nahrung fuer sich und etwas Futter fuer sein Pferd erhalten. Er musste dieses Pferd, fuer das sich kein Ersatz mehr zu bieten schien, etwas schonender behandeln. Da er aber zwischen sich und den ihm von Iwan Ogareff jedenfalls nachgesendeten Reitern den groesstmoeglichen Zwischenraum sehen wollte, beschloss er, moeglichst schnell weiter zu eilen. Nach einer nur einstuendigen Ruhe schlug er also den Weg durch die Steppe schon wieder ein. Bisher hatten die Witterungsverhaeltnisse die Reise des Czaarencouriers auffallend beguenstigt. Die Lufttemperatur hielt sich in ertraeglichen Grenzen. Die zu dieser Jahreszeit kurze, aber von den durch einen leichten Wolkenschleier dringenden Mondstrahlen mit einem angenehmen Daemmerlichte gemilderte Nacht machte die Strasse leidlich gangbar. Michael Strogoff zog uebrigens, als ein seines Weges kundiger Mann, sicher, ohne Zweifel, ohne Zoegern dahin. Trotz der schmerzlichen Gedanken, die ihn hartnaeckig verfolgten, hatte er sich doch eine ausserordentliche Klarheit des Geistes bewahrt und steuerte auf sein Ziel zu, als ob dieses Ziel schon am Horizonte sichtbar sei. Hielt er, vielleicht bei einer Biegung des Weges, einen Augenblick an, so geschah es, um sein Pferd etwas Athem schoepfen zu lassen. Dann stieg er, zur Erleichterung des Thieres, einmal ab, drueckte das Ohr auf den Erdboden und lauschte, ob sich der Schall von galopirenden Pferden an der Oberflaeche der Steppe fortleitete. Hatte er nichts Verdachterweckendes wahrgenommen, so setzte er seinen Weg wieder fort. O, breitete sich jetzt doch die Polarnacht ueber diese weite sibirische Ebene, diese mehrere Monate andauernde Nacht! Es waere viel leichter gewesen, jene sicher zu durchreisen. Am 30. Juli, gegen neun Uhr Morgens, passirte Michael Strogoff die Station Turumoff und begab sich von hier aus nun in die Sumpfdistricte der Barabinen-Steppe. Auf einem Gebiete von 300 Werst Laenge konnten hier schon die natuerlichen Hindernisse allein grosse Schwierigkeiten verursachen. Der Courier wusste das, aber er wusste auch, dass er alle siegreich ueberwinden werde. Die ausgedehnten, von Norden nach Sueden zwischen dem 60. und 52. Breitengrade liegenden Barabinen-Suempfe bilden das grosse Sammelbassin derjenigen atmosphaerischen Niederschlaege, welche weder durch den Obi noch durch den Irtysch einen Abfluss finden. Der Boden dieser ungeheuren Tiefebene besteht aus fast ganz undurchlaessigem Lehm, so dass das Wasser darueber stehen bleibt und eine waehrend der warmen Jahreszeit schwer zu passirende Gegend darstellt. Gerade durch diesen Landstrich fuehrt aber die Strasse nach Irkutsk, mitten durch die zahlreichen Suempfe, Teiche, Seen, deren gesundheitsgefaehrliche Ausduenstungen bei der heissen Sommersonne den Reisenden mindestens mit schweren Muehseligkeiten, wenn nicht gar mit tueckischer Gefahr bedrohen. Im Winter freilich, wenn der Frost Alles, was sonst fluessig war, erstarren liess, wenn der dichte Schnee den Boden geebnet und geglaettet, die schaedlichen Miasmen condensirt und unter sich begraben hat, dann fliegen die leichten Schlitten gefahrlos ueber die erhaertete Kruste der Barabinen-Steppe. Dann durchziehen fleissig die Jaeger die wildreichen Gruende und verfolgen die Marder, die Zobel und die kostbaren Fuechse, deren Felle so gesucht sind. Waehrend des Sommers dagegen wird diese Sumpfgegend kothig, bruetet gefaehrliche Krankheiten aus und ist bei einigermassen hohem Wasserstande ueberhaupt gar nicht zu passiren. Michael Strogoff lenkte sein Pferd quer durch einen Torfmoor, der nicht mehr mit jenem kurzen, glatten Rasen bedeckt erschien, von welchem sich die zahllosen sibirischen Heerden sonst fast ausschliesslich ernaehren. Hier dehnte sich nicht mehr eine Wiese ohne Grenzen vor seinen Blicken aus, sondern eine Art ungeheurer Haide mit baumartigem Gestraeuch. Der Rasen stieg hier bis fuenf und sechs Fuss Hoehe auf. Das feine Gras hatte den Platz geraeumt vor ueppigen Sumpfpflanzen, denen die andauernde Feuchtigkeit im Verein mit der brennenden Hitze des Sommers wahrhaft gigantische Formen verlieh. Vorzugsweise waren es Binsen und Schilf, welche ein unentwirrbares Netz, ein undurchdringliches Gitter bildeten, geschmueckt mit Tausenden von Blumen von ungemein lebhaften Farben, darunter vor Allem Lilien und Irisarten, deren Wohlgerueche sich mit den warmen, dem Boden entsteigenden Duensten mischten. Michael Strogoff galopirte zwischen den hohen Binsen dahin, wobei ihn von den die Strasse begleitenden Suempfen aus Niemand mehr sehen konnte. Die grossen Stengel ueberragten ihn sammt dem Pferde, und nur das Aufflattern unzaehliger Wasservoegel, die sich neben seinem Pferde erhoben und in schreienden Gruppen in der Luft zertheilten, verrieth, dass sich Etwas in jenem Dickicht bewege. Die Strasse selbst war uebrigens in leidlichem Zustande. Hier schnitt sie in gerader Linie durch das dichte Gewirr der Sumpfpflanzen, dort wand sie sich um das gekruemmte Ufer ausgedehnter Teiche, von denen einige bei einer Laenge von mehreren Wersten und ebenso grosser Breite schon den Namen von Seen verdient haetten. An anderen Stellen endlich hatte man einzelne stehende Gewaesser nicht umgehen koennen; fuer Ueberschreitung derselben dienten aber keine Bruecken in unserem gewohnten Sinne, sondern eine Art Plateform mit uebergelegten Bohlen, welche ebenso leicht schwankten, wie ein zu duenner ueber einen Graben gelegter Steg. Einige dieser primitiven Strassenbruecken dehnten sich bis auf zwei- und dreihundert Schritte Laenge aus, und man erzaehlt sich, dass Reisende, mindestens reisende Damen beim Fahren ueber einen solchen schwankenden Weg nicht gar so selten eine Art Seekrankheit bekommen haetten. Michael Strogoff jagte, ob er nun festen oder schwankenden Boden unter sich hatte, immer mit derselben Schnelligkeit dahin und setzte in kuehnem Sprunge ueber die Luecken hinweg, welche die halb verfaulten Planken an manchen Stellen zwischen sich liessen; so schnell aber Ross und Reiter auch dahin flogen, so konnten sie doch den belaestigenden Stichen der zweifluegeligen Insecten nicht entfliehen, die in jenen sumpfreichen Gegenden zur wahren Landplage werden. Sind Reisende gezwungen, im Sommer durch die Barabinen-Steppe zu fahren, so versehen sie sich mit Masken aus Pferdehaar, an welche sich ein Stueck feinmaschiges Panzerhemd zum Schutze der Schultern anschliesst. Doch trotz dieser Vorsichtsmassregeln kommen nur Wenige wieder, ohne zahllose rothe Tuepfel im Gesicht, auf dem Hals und den Haenden davon getragen zu haben, aus diesem Sumpfdistricte heraus. Die ganze Atmosphaere erscheint dort wie erfuellt mit haarfeinen Nadeln, und man wird zu dem Glauben verfuehrt, dass kaum eine complete Ritterruestung zum Schutz gegen die Stacheln dieser Zweifluegler hinreichen koenne. Hier ist eine traurige Gegend, die der Mensch den Muecken, Schnaken und Stechfliegen nur mit Aufwand vieler Mittel streitig macht, - ganz zu schweigen von den Milliarden mikroskopischer Insecten, welche man mit unbewaffnetem Auge ueberhaupt nicht wahrzunehmen im Stande ist; doch wenn man sie auch nicht sieht, so fuehlt man sie desto mehr wegen ihrer unertraeglich quaelenden feinen Stiche, gegen welche auch hartgesottene sibirische Jaeger niemals gleichgiltig werden. Michael Strogoff's Pferd sprang, von den giftigen Dipteren ueberfallen, haeufig auf, als wuerden ihm tausend Sporen auf einmal in die Flanke gedrueckt. Dann jagte es, raste und flog es in toller Wuth Werst fuer Werst mit der Schnelligkeit eines Eilzuges dahin, peitschte die Seiten mit dem Schweife und suchte in der Flucht eine Linderung seiner Qualen. Es gehoerte ein so sattelfester Reiter wie Michael Strogoff dazu, um durch die unerwarteten Bewegungen des Pferdes, durch dessen Aufbaeumen und Spruenge, zu denen die unausgesetzten Fliegenstiche es reizten, nicht abgeworfen zu werden. Fast unempfindlich geworden gegen physischen Schmerz, nur beseelt von dem einen Verlangen, um jeden Preis sein Ziel zu erreichen, sah er in dieser sinnlosen Jagd nichts weiter, als dass er seinen Weg mit gluecklicher Eile zuruecklegte. Wer wuerde nun glauben, dass diese in der heissen Jahreszeit so ungesunde Barabinen-Steppe doch noch einer Anzahl Menschen Asyl boete? Und doch ist es an dem. In grossen Zwischenraeumen tauchen da und dort sibirische Weiler auf zwischen den gigantischen Binsen. Maenner, Frauen, Kinder und Greise, in Thierfelle gekleidet und das Gesicht mit einer pechueberzogenen Maske bedeckt, fuehren ihre duerftigen Heerden zur Weide; um die Thiere aber vor den Angriffen der Insecten zu schuetzen, halten sie dieselben stets unter dem Winde in der Naehe von Feuern aus gruenem Holze, die sie Tag und Nacht unterhalten und deren beissende Rauchsaeulen sich schwerfaellig ueber die morastige Niederung ausbreiten. Als Michael Strogoff bemerkte, dass sein Pferd auf dem Punkte stand, vor Erschoepfung zusammen zu brechen, machte er in einem jener elenden Doerfchen halt, und rieb, seine eigene Ermuedung vergessend, die vielen Stiche des armen Thieres nach sibirischer Sitte mit warmem Fett ein; dann gab er ihm eine tuechtige Ration Futter, und erst als er es den Umstaenden nach bestmoeglich untergebracht und mit Allem versorgt hatte, dachte er an seine Person, verzehrte zur Wiederherstellung seiner Kraefte etwas Brod und Fleisch und trank einige Glaeser Kwass dazu. Nach einer, hoechstens zwei Stunden der Ruhe begab er sich wieder auf seinen endlosen Weg nach dem fernen Irkutsk. Von Turumoff aus hatte er auf diese Weise neunzig Werst zurueck gelegt und kam am 30. Juli, gegen vier Uhr Nachmittags, unempfindlich fuer jede Anstrengung, in Elamsk an. Daselbst musste er seinem Pferde eine Nacht Ruhe goennen. Das muthige Thier haette jetzt die Reise unmoeglich fortzusetzen vermocht. In Elamsk fand sich ebenso wenig als anderswo ein bequemeres Befoerderungsmittel. Aus den naemlichen Gruenden, wie in den andern kleinen Staedten und Flecken, fehlte es auch hier vollkommen an Wagen oder Pferden. Elamsk, eine kleine Stadt, in welche die Tartaren noch nicht eingedrungen waren, erwies sich fast ganz entvoelkert, denn es konnte von Sueden her sehr leicht ueberfallen, aber von Norden her nur sehr schwierig beschuetzt werden. Auf hoeheren Befehl waren das Posthaus, das Polizeiamt, das Regierungsgebaeude ebenfalls verlassen, und Beamte ebenso wie Einwohner nach dem noerdlicher gelegenen Kamsk, in der Mitte der Barabinen-Steppe, ausgewandert. Michael Strogoff musste sich also darauf beschraenken, in Elamsk die Nacht zuzubringen und seinem Pferde zwoelf Stunden Ruhe zu goennen. Er erinnerte sich der ihm in Moskau an's Herz gelegten Instructionen, Sibirien unerkannt zu durchreisen, auf jeden Fall und sobald als moeglich Irkutsk zu erreichen, aber, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze, den Erfolg seiner Fahrt nicht der Schnelligkeit wegen auf's Spiel zu setzen, - in Anbetracht dieser Umstaende hatte er die Verpflichtung, das einzige ihm noch verbliebene Befoerderungsmittel, das Reitpferd, vernuenftig zu schonen. Am folgenden Tage verliess Michael Strogoff Elamsk wieder, eben als man das Erscheinen tartarischer Plaenkler, auf der Strasse durch die Barabinen-Steppe, etwa zehn Werst jenseit der Stadt, anmeldete, und trabte wieder in die sumpfige Niederung hinaus. Die Strasse lief zwar ganz eben hin, wodurch das Fortkommen erleichtert, aber in vielfachen Windungen, wodurch der Weg sehr verlaengert wurde. Uebrigens verboten es die Bodenverhaeltnisse unbedingt, etwa die Einhaltung einer geraden Linie quer durch diese Tuempel und Teiche zu versuchen. Am darauf folgenden Tage, am 1. August, erreichte Michael Strogoff gegen Mittag den 120 Werst weiter gelegenen Flecken Spaskoe, und um zwei Uhr hielt er bei der darauf folgenden kleinen Ortschaft, Pokrowskoe, zum ersten Male wieder an. Sein durch den langen Ritt von Elamsk bis hierher ueber Gebuehr angestrengtes Ross haette auch keinen Schritt mehr vorwaerts thun koennen. Bei dieser ihm aufgezwungenen Ruhe verlor Michael Strogoff zwar den Rest des Tages und die darauf folgende Nacht, aber er gelangte am naechsten Tage, dem 2. August, nach einem 75 Werst langen Wege durch das halb unter Wasser stehende Gebiet doch bis zu dem Staedtchen Kamsk. Hier bot die Landschaft ein wesentlich anderes Bild. Der kleine Flecken Kamsk liegt wie eine wohnliche, gesunde Insel mitten in diesem unheilvollen Gebiete. Er nimmt gerade den Mittelpunkt der Barabinen-Steppe ein. Dort haben sich, eine heilsame Folge der Kanalisirung des Tom, eines bei Kamsk vorbeiziehenden Nebenflusses des Irtysch, die pestaushauchenden Suempfe in ueppige, fette Weiden verwandelt. Dennoch vermochten diese Bodenmeliorationen noch nicht voellig jene Fieber zu besiegen, welche den Aufenthalt in dieser Stadt waehrend des Herbstes noch einigermassen gefaehrden. Immerhin fluechten sich hierher die wenigen Bewohner der Barabinen-Steppe, wenn die verderblichen Sumpfmiasmen sie aus den uebrigen Theilen der Provinz vertreiben. Die durch die Tartaren-Invasion verursachte allgemeine Auswanderung hatte Kamsk doch noch nicht entvoelkert. Die Bewohner glaubten sich in der Mitte ihres fuer groessere Truppenmassen so schwer zugaenglichen Landes verhaeltnissmaessig sicher, mindestens waren sie der Ansicht, zur Flucht noch immer Zeit zu haben, wenn sie unmittelbar bedroht wuerden. Michael Strogoff konnte hier, so sehr er es auch wuenschte, keinerlei neuere Nachrichten erhalten. Jedenfalls haette sich der Gouverneur vielmehr an ihn gewendet, waere ihm der wirkliche Charakter dieses angeblichen Kaufmanns aus Irkutsk bekannt gewesen. Kamsk schien in Folge seiner besonders guenstigen Lage der uebrigen sibirischen Welt in der That nicht anzugehoeren und gaenzlich ausserhalb der ernsten Ereignisse zu stehen, die jene erschuetterten. Uebrigens zeigte sich Michael Strogoff moeglichst wenig oder gar nicht. Ihm genuegte es nicht, jedes Aufsehen zu vermeiden, er wuenschte ueberhaupt gar nicht gesehen zu werden. Die Erfahrungen der juengsten Vergangenheit verdoppelten seine Vorsicht in der Gegenwart wie fuer die Zukunft. So hielt er sich denn ganz zurueckgezogen, trug gar kein Verlangen, die wenigen Strassen des Staedtchens zu durchlaufen, und wollte das Gasthaus, in dem er abgestiegen war, ueberhaupt nicht verlassen. In Kamsk haette Michael Strogoff wohl einen Wagen kaufen und das Reitpferd, welches ihn von Omsk bis hierher getragen, durch ein bequemeres Befoerderungsmittel ersetzen koennen. Nach reiflicher Ueberlegung sagte er sich aber, dass das Einhandeln eines Tarantass doch die Aufmerksamkeit mehr, als ihm lieb war, auf ihn lenken musste, und da er die von den Tartaren besetzte Linie noch nicht ueberschritten hatte, eine Linie, welche etwa mit dem Irtyschstrome abschnitt, so wollte er es nicht wagen, irgend welchen Verdacht zu erwecken. Um uebrigens diese Barabinen-Steppe zu durcheilen, durch diese Sumpfniederung zu fliehen, im Fall ihn eine directere Gefahr bedrohen sollte, um den zu seiner Verfolgung entsendeten Reitern einen Vorsprung abzugewinnen, um sich im Nothfall auch durch das dichteste Binsenmeer hindurchzuschlagen, war ein Pferd offenbar mehr werth, als ein Wagen. Spaeter, vielleicht jenseit Tomsk oder gar hinter Krasnojarsk, hoffte Michael Strogoff in irgend einer bedeutenderen Stadt Sibiriens passendere Gelegenheit zu finden, sich mehr Bequemlichkeit zu verschaffen. Sein jetziges Reitpferd aber gegen ein anderes umzutauschen, dieser Gedanke kam ihm gar nicht in den Sinn. Er hatte sich an dieses ausdauernde Thier schon gewoehnt; er wusste, was er von ihm verlangen konnte. Als er es in Omsk erkaufte, hatte er eine glueckliche Hand gehabt, und dankbar pries er noch immer jenen Mujik, der ihn dort zu dem betreffenden Posthalter fuehrte. Doch nicht nur Michael Strogoff fuehlte eine gewisse Anhaenglichkeit seinem Pferde gegenueber, auch dieses schien sich allgemach an die Strapazen einer solchen Parforce-Reise zu gewoehnen, und wenn ihm nur je einige Stunden Ruhe gegoennt wurden, konnte sein Reiter wohl hoffen, bis ueber die ueberfallenen Provinzen hinaus zu gelangen. Waehrend dieses Abends und der Nacht vom 2. zum 3. August verhielt sich Michael Strogoff also in seinem Gasthause am Eingange des Staedtchens, einem wenig besuchten Gasthause ohne zudringliche und neugierige Gaeste. Von Ermuedung uebermannt, legte er sich zwar bald, aber doch nicht eher nieder, als bis er wusste, dass es seinem Pferde an nichts fehle; trotzdem vermochte er nur einen haeufig unterbrochenen Schlummer zu finden. Zu viele Erinnerungen, zu viele Sorgen fuer die Zukunft regten sich in ihm. Die Bilder seiner betagten Mutter und seiner schutzlos verlassenen, muthigen, jungen Gefaehrtin zogen abwechselnd vor seinem Geiste auf oder verschmolzen in ihm wohl auch zu einem einzigen sorgenden Gedanken. Dann erinnerte er sich wieder seiner Sendung, an deren Ausfuehrung ein Eid ihn band. Was er seit seinem Aufbruche von Moskau selbst gesehen, liess ihn immer mehr die Wichtigkeit derselben erkennen. Fielen dann seine Blicke einmal auf den mit dem kaiserlichen Siegel verschlossenen Brief, diesen Brief, der ohne Zweifel das Heilmittel gegen so zahllose Uebel des von einem wilden, blutigen Kriege zerrissenen Landes enthielt, - dann bemaechtigte sich Michael Strogoff's fast unbesiegbares Verlangen, sofort wieder durch die Steppe weiter zu jagen, mit der Hast eines Vogels die Strecke zu ueberfliegen, die ihn noch von Irkutsk trennte, ein Adler zu sein, um alle Hindernisse ueberwinden zu koennen, ein Orkan, um mit der Schnelligkeit von hundert Werst die Stunde ueber der Erde dahin zu rasen und endlich vor den Grossfuersten zu treten und ihm zuzurufen: "Kaiserliche Hoheit, von Seiner Majestaet dem Czaaren!" Am andern Morgen um sechs Uhr frueh ritt Michael Strogoff wieder mit der Absicht weiter, an diesem Tage die 84 Werst (= 89 Kilometer) von Kamsk bis Ubinsk zurueckzulegen. Jenseit eines Kreises von etwa 20 Werst fand er ganz die sumpfige Barabinen-Steppe wieder, welche hier kein Ableitungsgraben mehr trocken legte, so dass der Erdboden manchmal einen Fuss hoch unter Wasser stand. Dann war die Strasse nur schwierig zu erkennen, aber er legte diesen Wegtheil, Dank seiner umsichtigen Aufmerksamkeit, doch ohne Unfall zurueck. In Ubinsk angelangt liess Michael Strogoff sein Pferd die ganze Nacht ueber rasten, denn er wollte am folgenden Tag die 100 Werst betragende Entfernung zwischen Ubinsk und Ikulskoe durchmessen. Er brach also mit der Morgenroethe auf, aber leider gestaltete sich die Strasse durch diesen Theil der Barabinen-Steppe immer unwegsamer. Zwischen Ubinsk und Kamakowa hatten sich naemlich die reichlichen Regenniederschlaege der letztvergangenen Wochen wie in einer undurchlaessigen Schuessel in der verhaeltnissmaessig engen Bodensenkung angesammelt. Das unentwirrbare Netz von Suempfen, Teichen und Seen hing fast ohne Unterbrechung zusammen. Einen dieser Seen, - uebrigens einer von solcher Groesse, dass er in der geographischen Nomenclatur wohl einen Platz verdient haette, - den Tschang (ein von den Chinesen ihm beigelegter Name), musste Michael Strogoff auf einer Strecke von 20 Werst laengs seines Ufers unter den groessten Schwierigkeiten umreiten, was nothwendiger Weise einige Verzoegerungen veranlasste, die er trotz seiner Ungeduld doch nicht zu vermeiden vermochte. Er sah recht deutlich ein, wie gut er daran gethan, sich in Kamsk nicht einen Wagen zu nehmen, denn sein Pferd kam hier unter Verhaeltnissen noch vorwaerts, die jeden Wagen unbedingt aufgehalten haetten. Abends gegen neun Uhr in Ikulskoe angekommen, verweilte Michael Strogoff daselbst die ganze Nacht. In diesem in der Barabinen-Steppe verlorenen Flecken fehlten die Nachrichten vom Kriegsschauplatze natuerlich gaenzlich. Dieser Theil der Provinz war durch seine natuerliche Lage, mitten in der Gabel, welche die tartarischen Heerestheile durch ihr verschiedenseitiges Abschwenken einerseits nach Omsk, andrerseits nach Tomsk zu, bildeten, von den Schrecken des Einfalls noch gaenzlich verschont geblieben. Bald mussten sich nun auch die natuerlichen Schwierigkeiten des Weges vermindern, denn im Fall er keine Verzoegerung erlitt, hoffte Michael Strogoff am naechsten Tage ueber die Barabinen-Steppe hinauszukommen. Spaeter bot sich ihm wieder ein weit besserer Weg, wenn er die 125 Werst, die ihn noch von Kolywan trennten, zurueckgelegt hatte. Von diesem etwas bedeutenderen Staedtchen aus rechnete man bis Tomsk nur noch die gleiche Entfernung. Dann musste er eine weitere Entscheidung treffen, die hoechst wahrscheinlich in dem Sinne ausfiel, letztere von Feofar-Khan schon besetzte Stadt ganz zu umgehen. Wenn sich aber diese kleinen Staedtchen, wie Ikulskoe, Karguinsk u. a., in Folge ihrer Lage mitten in der sumpfigen Steppe, die der Entwickelung der tartarischen Streitkraefte unueberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzte, noch einer gluecklichen Ruhe erfreuten, lag da nicht die Befuerchtung nahe, dass Michael Strogoff von den reichen, fruchtbaren Ufern des Obi an an Stelle der natuerlichen Hindernisse allerlei Schwierigkeiten und Gefahren von Seiten der Menschen zu erwarten haben werde? Jedenfalls durfte er keinen Anstand nehmen, in dieser Gegend von der Strasse nach Irkutsk abzuweichen. Bei einem Ritte durch die einsame Steppe lief er freilich Gefahr, sich von allen Hilfsmitteln zu entbloessen. Dort fand sich naemlich keine weitere Strasse, keine Stadt, kein Dorf mehr. Nur ganz einzeln traf man auf isolirte Farmen, oder vielmehr auf Huetten aermlicher Leute, bei denen trotz ihrer unzweifelhaften Gastfreundlichkeit sich doch kaum das Nothwendigste finden mochte. Und dennoch, er durfte nicht zaudern! Endlich gegen halb vier Uhr Nachmittags verliess Michael Strogoff, nachdem er noch durch die kleine Station Kargatsk gekommen war, die letzte Niederung der Barabinen-Steppe und der Hufschlag seines Pferdes verrieth durch den Schall wieder den harten, trockenen Boden des sibirischen Landes. Er hatte Moskau am 15. Juli verlassen. Unter Einrechnung der am Ufer des Irtysch verlorenen zweiundsiebzig Stunden ergab das bis heute, den 5. August, eine Reisedauer von einundzwanzig Tagen. Fuenfzehnhundert Werst trennten ihn nun noch von Irkutsk. Sechzehntes Capitel. Eine letzte Anstrengung. Michael Strogoff hatte ganz Recht, in den Ebenen, welche sich oestlich an die Barabinen-Steppe anschliessen, ein unliebsames Zusammentreffen zu fuerchten. Die von Pferdehufen zertretenen Felder bewiesen, dass die Tartaren hier vorueber gekommen waren, und auf diese Barbaren passen auch die zuerst auf die Tuerken angewendeten Worte: "Auf dem Boden, den der Tuerke betrat, waechst kein Grashalm wieder!" Bei seinem Zuge durch diese Gegend musste Michael Strogoff also die groesste Vorsicht beachten. Einige am fernen Horizonte lagernde Rauchwolken sagten ihm, dass hier die Weiler und Flecken angesteckt worden waren. Ruehrten diese Feuersbruenste nun von den Vortruppen her oder marschirte die ganze Armee des Emir schon nach den aeussersten Grenzen der Provinz? Befand sich Feofar-Khan selbst in dem Gouvernement von Jeniseisk? Michael Strogoff wusste hierueber nichts und konnte, bevor er nicht weitere Nachrichten erhielt, nach keiner Seite eine Entscheidung treffen. Sollte das Land so menschenleer geworden sein, dass er keinen einzigen Sibirier mehr faende, um von ihm Auskunft zu erlangen? Michael Strogoff ritt auf der ganz leeren Strasse etwa zwei Werst weiter. Nach rechts und links schweiften seine Augen und suchten ein noch nicht verlassenes Haus, aber alle, alle fand er oede und leer. Eine einzelne Huette, welche er zwischen einer Gruppe Baeume entdeckte, rauchte noch. Als er sich naeherte, fand er wenige Schritte von den Truemmern seines Hauses einen Greis von weinenden Kindern umringt. Eine noch ziemlich junge Frau, offenbar die Tochter jenes Mannes und die Mutter der Kinder, lag knieend auf dem Boden, den verzweifelten Blick starr auf diese Scene der Verwuestung geheftet. Ein zarter Saeugling von wenigen Monaten ruhte noch an ihrer Brust. Alles rings um diese Aermsten war Ruine und Zerstoerung! Michael Strogoff ging auf den Greis zu. "Bist Du im Stande, mir zu antworten? fragte er mit ernster Stimme. -- Rede, erwiderte der alte Mann. -- Sind die Tartaren hier vorueber gekommen? -- Gewiss, sonst staende mein Haus nicht in Flammen. -- Ein ganzes Heer oder nur eine Abtheilung? -- Ein ganzes Heer, denn so weit der Blick reicht, sind unsere Felder verwuestet! -- Commandirt von dem Emir?... -- Von ihm, denn das Wasser des Obi faerbte sich roth. -- Und Feofar-Khan ist in Tomsk eingezogen? -- Gewiss. -- Weisst Du, ob die Tartaren sich schon der Stadt Kolywan bemaechtigt haben? -- Nein, denn Kolywan steht noch nicht in Flammen. -- Ich danke, Freund. - Kann ich Etwas fuer Dich und die Deinen thun? -- Nichts. -- Auf Wiedersehen! -- Leb' wohl!" Nachdem Michael Strogoff noch fuenfundzwanzig Rubel niedergelegt hatte vor dem ungluecklichen Weibe, welches nicht einmal im Stande war, ihm zu danken, gab er seinem Pferde die Sporen und setzte den einen Augenblick unterbrochenen Weg fort. Er wusste nun Eines: dass er es um jeden Preis zu vermeiden habe, Tomsk zu passiren. Eher schien es moeglich, nach Kolywan zu gehen, wo die Tartaren noch nicht herrschten. Auch in dieser Stadt hatte er nichts Anderes zu thun, als sich zu staerken und mit dem Noethigsten fuer eine sehr lange Tagereise zu versehen. Dann musste er die Strasse nach Irkutsk verlassen, um nach Ueberschreitung des Obi Tomsk zu umgehen, - einen anderen Ausweg sah er nicht vor sich. Nach Feststellung dieses neuen Reiseplans durfte Michael Strogoff nicht einen Augenblick zoegern. Er zoegerte auch nicht, sondern trieb sein Pferd zu einer noch schnelleren Gangart an und folgte dem directen Wege, der an das linke Ufer des Stromes fuehrte und bis zu dem noch eine Strecke von 40 Werst zurueckzulegen war. Wuerde er eine Faehre finden, um dort ueberzusetzen, oder sollte das Tartarenheer alle Fahrzeuge zerstoert, weggeschleppt haben und er gezwungen sein, schwimmend den Strom zu ueberschreiten? Die Zukunft musste diese Fragen bald beantworten. Was sein nun auf's Aeusserste erschoepftes Pferd betraf, so wollte es Michael Strogoff, nach Vollendung der bevorstehenden langen und hoechst anstrengenden Tagereise, in Kolywan womoeglich gegen ein anderes vertauschen. Er fuehlte wohl, dass das arme Thier binnen Kurzem unter ihm zusammenbrechen musste. Kolywan bildete also fuer ihn gleichsam einen neuen Ausgangspunkt, da er von dieser Stadt aus seine Reise unter sehr veraenderten Verhaeltnissen fortzusetzen hatte. So lange sein Weg ihn durch die von den Eindringlingen besetzten Gebiete fuehrte, mussten die Schwierigkeiten offenbar grosse sein; nach gluecklicher Umgehung von Tomsk aber konnte er die Strasse nach Irkutsk wieder benutzen, und da die Provinz Jeniseisk den Verwuestungen der Feinde noch entzogen geblieben war, durfte er wohl hoffen, sein Ziel in wenigen Tagen zu erreichen. Nach einem recht warmen Tage senkte sich die Nacht herab. Um Mitternacht huellte tiefe Finsterniss die weite Steppe ein. Der Wind, der sich mit Sonnenuntergang gelegt hatte, hinterliess in der Atmosphaere eine vollkommene Stille. Nur den Hufschlag des Pferdes hoerte man auf der verlassenen Strasse, und dann und wann einige Worte, mit denen der Reiter es aufzumuntern suchte. Mitten in dieser Finsterniss bedurfte es der aeussersten Vorsicht, um nicht von dem Wege abzukommen; denn immer begleiteten diesen einzelne Teiche oder kleine Nebenarme des Obi. Michael Strogoff trabte also moeglichst schnell, aber immer mit groesster Aufmerksamkeit weiter. Er verliess sich dabei nicht allein auf die grosse Schaerfe seiner Augen, die auch die Finsterniss durchdrangen, sondern daneben auch auf die Klugheit seines Pferdes, dessen scharfen Spuersinn er kannte. Eben war Michael Strogoff einmal abgestiegen, um sich ueber die genaue Richtung der Strasse zu vergewissern, als er von Westen her ein verworrenes Geraeusch zu vernehmen glaubte. Es klang wie entferntes Pferdegetrappel auf der trockenen Erde. Ohne Zweifel; ein bis zwei Werst weiter rueckwaerts hoerte er die regelmaessigen Hufschlaege von Pferden. Michael Strogoff lauschte, das Ohr auf dem Boden, mit gespanntester Aufmerksamkeit. "Das ist eine Reiterabtheilung, sagte er sich, welche auf der Strasse von Omsk daherkommt. Sie scheint sich schnell zu bewegen, denn das Geraeusch nimmt merkbar zu. Sind das nun Russen oder Tartaren?" Michael Strogoff lauschte noch immer. "Ja, ja, sprach er halblaut fuer sich, sie naehern sich in scharfem Trabe! Vor Ablauf von zehn Minuten muessen sie hier sein. Mein Pferd wird schwerlich mit ihnen Schritt halten koennen. Sind es Russen, so wuerde ich mich ihnen anschliessen. Sind es Tartaren, so muss ich ihnen entweichen. Aber wie? Wo koennt' ich mich verbergen in dieser Steppe?" Michael Strogoff sah sich forschend um, und sein scharfes Auge entdeckte eine bei der herrschenden Finsterniss kaum erkennbare dunklere Masse etwa hundert Schritt vor sich zur Linken der Strasse. "Da ist ein kleines Gehoelz, sagte er. Wenn ich mich darin verberge, laufe ich zwar Gefahr, den Reitern in die Haende zu fallen, wenn sie es durchsuchen sollten. Indess, ich habe keine Wahl. Da, in der Ferne kommen sie schon!" Wenige Minuten spaeter erreichte Michael Strogoff, sein Pferd am Zuegel fuehrend, ein kleines Gehoelz von Laerchenbaeumen, das einen Zugang von der Strasse aus hatte. Vor und hinter demselben zog sie sich ganz frei von Baeumen zwischen den Loechern und Tuempeln hin, welche aus Stechginster und Haidekraut bestehende Gruppen von Zwergbaeumen trennten. Zu beiden Seiten war das Terrain also voellig ungangbar und die Reiterschaar musste zweifellos an dem kleinen Gehoelz vorueber kommen, da sie offenbar der Hauptstrasse nach Irkutsk folgte. Michael Strogoff wand sich also zwischen diese Laerchenbaeume hinein, bis er sich etwa nach vierzig Schritten von einem Wasserlauf aufgehalten sah, der den Hain im Halbkreise begrenzte. Die Dunkelheit war hier aber eine so tiefe, dass Michael Strogoff nicht im Geringsten Gefahr lief entdeckt zu werden, wenn das Gehoelz nicht ganz peinlich durchsucht wurde. Er fuehrte sein Pferd also bis an jenes Wasser, band es daselbst an einen Baum und schlich sich selbst wieder an den Rand des Dickichts, um bestimmen zu koennen, wie er sich zu verhalten habe. Kaum hatte er hinter einigen buschartigen Laerchen Platz genommen, als ihm ein Lichtschein in's Auge fiel, aus dem da und dort einige glaenzende Punkte in lebhafter Bewegung aufleuchteten. "Wie? Fackeln!" murmelte er. Schnell wich er wieder weiter zurueck und schluepfte wie ein Wilder geraeuschlos in das Gebuesch, wo es am dichtesten war. Bei ihrer Annaeherung an das Gehoelz nahmen die Pferde einen langsameren Schritt an. Recognoscirten die Reiter etwa die Strasse, um sie in allen Einzelheiten genau kennen zu lernen? Michael Strogoff musste das befuerchten und begab sich wenigstens bis nach dem steilen Uferrand jenes Wasserlaufs zurueck, entschlossen, sich im Nothfalle auch hinein zu stuerzen. Als die Reiterschaar bei dem Gehoelz ankam, machte sie Halt. Die Maenner stiegen ab. Es mochten gegen fuenfzig sein. Mehrere derselben trugen Fackeln, welche die Strasse in weitem Umkreise beleuchteten. An gewissen Vorbereitungen bemerkte Michael Strogoff zu seinem Gluecke, dass es keineswegs in der Absicht der Berittenen liege, das Gehoelz zu durchsuchen, sondern nur an dessen Rande zu bivouakiren, den Pferden einige Ruhe zu goennen und den Mannschaften etwas Nahrung zu sich nehmen zu lassen. Die abgezaeumten Pferde begannen bald das saftige Gras abzuweiden, das hier den Boden bedeckte. Die Reiter selbst liessen sich laengs der Strasse nieder und vertheilten die Rationen aus ihren Fouragetaschen. Michael Strogoff hatte seine vollkommene Kaltbluetigkeit bewahrt. Er schlich wieder naeher, erst um Etwas zu sehen, dann um womoeglich einige Worte zu vernehmen. Die hier gelagerte Reiterabtheilung kam von Omsk her. Sie bestand aus usbeckischen Soldaten, einer in der Tartarei vorherrschenden Race, deren Typus auf ihre Verwandtschaft mit den Mongolen hinweist. Diese wohlgebauten, alle ueber mittelgrossen Maenner mit rohem, wildem Gesichtsausdrucke trugen auf dem Kopfe einen "Talpak", eine Art Muetze aus schwarzem Schafpelz, und gelbe, hochschaftige Stiefeln, deren vordere Spitze aufgebogen war, wie man das an den Schuhen aus gewissen Perioden des Mittelalters zu sehen gewoehnt ist. Ihren Rock aus mit grobem Baumwollenstoffe gefuettertem Kattun umschloss ein Lederguertel mit rother Stickerei. Als Vertheidigungswaffe fuehrten sie einen Schild, als Angriffswaffen einen krummen Saebel, ein langes Dolchmesser und ein am Sattelknopfe haengendes Steinschlossgewehr. Ihre Schultern bedeckte noch ein Filzmantel in grellen Farben. Die in voller Freiheit am Saume des Gehoelzes grasenden Pferde waren von usbeckischer Race, ebenso wie ihre Reiter. Bei dem Scheine der Fackeln, die ein lebhaftes Licht durch die Aeste der Laerchen verbreiteten, konnte man das recht gut erkennen. Etwas kleiner als die Pferde der turkomanischen Race, aber ungemein kraeftig und ausdauernd, sind diese doch als echte Vollblutthiere anzusehen, die eine andere Gangart als scharfen Trab oder Galop gar nicht zu kennen scheinen. Die Abtheilung selbst fuehrte ein "Pendja-Baschi", d. h. ein Befehlshaber ueber fuenfzig Mann, dem noch ein "Deh-Baschi", ein Anfuehrer von einer Rotte zu zehn Mann, untergeordnet war. Diese Officiere trugen Panzerhauben und Waffenroecke; ausserdem bildeten kleine, am Sattelknopfe haengende Trompeten ihre verschiedene Gradauszeichnung. Der Pendja-Baschi wollte seine von einem weiten Ritte ermuedeten Mannschaften etwas ausruhen lassen. Plaudernd und den "Beng" (d. i. ein Hanfblatt, der Hauptbestandtheil des "Haschich", von dem die Asiaten einen so ausgedehnten Gebrauch machen), rauchend, gingen die beiden Officiere am Rande des Gehoelzes so auf und ab, dass Michael Strogoff ihre Unterhaltung hoeren und auch die Worte verstehen konnte, da sie sich der tartarischen Sprache bedienten. Schon die ersten Worte ihres Gespraechs erregten die Aufmerksamkeit Michael Strogoff's im hoechsten Grade. Zu seinem Erstaunen war von ihm selbst die Rede. "Jener Courier kann einen so grossen Vorsprung vor uns unmoeglich haben, sagte der Pendja-Baschi, und ausserdem konnte er bestimmt keinen andern Weg einschlagen, als die Strasse durch die Barabinen-Steppe. -- Wer weiss, ob er Omsk ueberhaupt verlassen hat? erwiderte der Deh-Baschi. Vielleicht haelt er sich noch jetzt in irgend einem Hause der Stadt versteckt. -- Wahrlich, das waere nur zu wuenschen! Dann brauchte der Oberst Ogareff nicht zu fuerchten, dass die Depeschen, deren Traeger der Courier doch ohne Zweifel ist, an ihren Bestimmungsort gelangten! -- Man behauptet, Jener solle ein Landeskind, ein Sibirier sein, fuhr der Deh-Baschi fort. Als solchen muss ihm wohl die Provinz bekannt sein und er konnte recht wohl von der Landstrasse nach Irkutsk abweichen in der Rechnung, sie erst spaeter wieder aufzusuchen. -- Dann waeren wir ihm aber voraus, antwortete der Pendja-Baschi, denn wir haben Omsk kaum eine Stunde nach seiner Abreise aus der Stadt ebenfalls verlassen und sind bei der groessten Schnelligkeit der Pferde dem kuerzesten Wege gefolgt. Ob er also in Omsk ganz zurueck geblieben oder wir vor ihm in Tomsk ankommen, um ihm den Weg zu verlegen, jedenfalls wird er Irkutsk nicht zu erreichen vermoegen. -- Eine derbe Frau uebrigens, jene alte Sibirierin, die offenbar seine Mutter ist!" bemerkte der Deh-Baschi. Bei diesen Worten klopfte Michael Strogoff's Herz, als wollte es springen. "Ja wohl, erwiderte der Pendja-Baschi, sie versuchte es zwar abzuleugnen, dass dieser vermeintliche Kaufmann ihr Sohn sei, aber es gelang ihr nicht. Der Oberst Ogareff hat sich dadurch nicht taeuschen lassen, denn er sprach es wenigstens aus, er werde die alte Hexe zur passenden Zeit schon zum Gestaendniss der Wahrheit zu bringen wissen." So viele Worte, so viele Dolchstiche waren das fuer Michael Strogoff. Er war also sicher als Courier des Czaar erkannt. Eine zu seiner Verfolgung ausgesendete Reiterabtheilung musste ihm unfehlbar den Weg verlegen! Dazu befand sich, zu seinem tiefsten Schmerze, seine Mutter in der Gewalt der Tartaren, und der grausame Ogareff ruehmte sich, er werde sie zum Sprechen zu bringen wissen, wenn es ihm beliebte. Michael Strogoff wusste recht gut, dass die energische Sibirierin Nichts aussagen und dass ihr diese Weigerung jedenfalls das Leben kosten werde!... Michael Strogoff glaubte zwar, dass er Iwan Ogareff niemals mehr zu hassen im Stande sei, als er ihn bis jetzt gehasst habe, und doch drang ihm auf's Neue ein bitteres Gefuehl des Hasses in's Herz. Der Schurke, der sein Vaterland verrieth, drohte nun auch noch seine alte Mutter zu foltern! Das Gespraech der beiden Officiere dauerte noch laenger fort, und Michael Strogoff glaubte zu verstehen, dass in der Umgebung von Kolywan ein Zusammenstoss zwischen den von Norden herabziehenden russischen Truppen und den Tartarenhorden zu erwarten sei. Ein schwaches russisches Corps von 2000 Mann naeherte sich, den vom unteren Obi eingegangenen Nachrichten zufolge, in Eilmaerschen der Stadt Tomsk. Wenn sich das bestaetigte, so musste jenes Corps, welches von der Hauptmacht des Heeres unter Feofar-Khan aufgefangen wurde, ohne Zweifel vernichtet werden, und dann gehoerte die Strasse nach Irkutsk unbestritten den frechen Feinden. Seine eigene Person betreffend entnahm Michael Strogoff aus einigen Aeusserungen des Pendja-Baschi, dass auf seinen Kopf ein Preis gesetzt und Befehl ergangen sei, ihn lebend oder todt einzuliefern. Daraus ergab sich aber die Nothwendigkeit, den usbeckischen Reitern zuvor zu kommen und auf der Strasse nach Irkutsk den Obi zwischen den Courier und seine Verfolger zu bringen. Zur Erreichung dieser Absicht musste er aber vor Aufhebung des Bivouaks zu entkommen suchen. Michael Strogoff bereitete sich sofort, diesen Entschluss auszufuehren. Die Rast konnte unmoeglich lange waehren, und dem Pendja-Baschi durfte es kaum beikommen, seinen Leuten mehr als eine Stunde Ruhe zu goennen, obwohl ihre seit dem Aufbruche aus Omsk sicherlich nicht gegen frische verwechselten Pferde gewiss in demselben Masse und aus denselben Gruenden erschoepft sein mussten, wie das Reitpferd Michael Strogoff's. Er hatte also keinen Augenblick zu verlieren. Es war jetzt um ein Uhr Morgens. Er musste sich die Dunkelheit, welche bald der Morgenroethe zu weichen drohte, zu Nutze machen, um das kleine Gehoelz wieder zu verlassen und die Strasse zu gewinnen; doch trotz der Beguenstigung durch die dunkle Nacht erschien der Erfolg einer solchen Flucht doch im hoechsten Grade unsicher. Um Nichts vom blinden Zufall abhaengig zu machen, nahm sich Michael Strogoff Zeit zu ueberlegen und erwog sorgsam die Aussichten fuer und wider, um einen Entschluss zu fassen, der ihm noch die besten bot. Aus den oertlichen Verhaeltnissen ergab sich Folgendes: An der der Strasse entgegen gesetzten Seite des Gehoelzes vermochte er nicht zu entweichen, denn um die Bogenlinie der Laerchenbaeume, deren Sehne eben die Landstrasse darstellte, lief jener nicht nur tiefe, sondern auch breite und schlammige Wasserarm. Grosse Stechginstern machten ein Passiren desselben fast zur Unmoeglichkeit. Unter der schaeumenden Wasserflaeche befand sich offenbar eine steile Vertiefung, in der der Fuss keinen Stuetzpunkt finden wuerde. Ausserdem erschien das Land jenseit des Wasserlaufs mit seinen zerstreuten Gebueschen fuer eine eilige Flucht auch mehr als ungeeignet. Erweckte er einmal die Aufmerksamkeit, so wurde Michael Strogoff gewiss mit Aufwendung aller Mittel und Kraefte verfolgt, eingeschlossen und zuletzt von den tartarischen Reitern gefangen. Es gab fuer ihn also nur einen einzigen benutzbaren Weg, einen einzigen, die grosse Landstrasse. Diese zu erreichen, indem er am Rande des Hoelzchens hinschlich, und ohne die Aufmerksamkeit seiner Feinde zu erwecken, wenigstens eine Viertelwerft Vorsprung zu gewinnen, den letzten Rest der Kraft und Schnelligkeit seines Pferdes zu benutzen, und sollte es am Ufer des Obi auch todt zusammenbrechen, diesen bedeutenden Strom mittels eines Bootes zu ueberfahren, oder wenn es an jederlei Transportmittel mangeln sollte, zu durchschwimmen, - das war es, was Michael Strogoff versuchen und wagen musste. Seine Thatkraft, sein Muth verzehnfachte sich im Angesicht der Gefahr. Es handelte sich um sein Leben, um seinen Auftrag, um die Ehre seines Landes, vielleicht um das Wohl seiner Mutter. Er konnte nicht zoegern, er ging an's Werk. Er hatte nun keinen Augenblick mehr zu verlieren. Schon entstand wieder einige Bewegung unter den Mannschaften der Abtheilung. Einige Reiter gingen auf der Strasse, an dem Saume des Waeldchens hin und her. Die Andern lagen noch am Fusse der Baeume ausgestreckt, aber ihre Pferde fanden sich nach und nach wieder zusammen. Erst kam Michael Strogoff der Gedanke, sich eines dieser Pferde zu bemaechtigen, aber er sagte sich doch, dass diese nicht minder erschoepft sein muessten, als das seinige. Es schien ihm also gerathener, sich dem Thiere anzuvertrauen, dessen er sicher war und das ihm bis hierher so vortreffliche Dienste geleistet hatte. Das muthige Thier entging, verdeckt von hohem Haidekraute, gluecklich den Blicken der Tartaren. Diese selbst drangen ja auch gar nicht in die Tiefe des Hoelzchens ein. Auf dem Boden hinkriechend, naeherte sich Michael Strogoff seinem Pferde, das sich gelagert hatte. Er streichelte es mit der Hand, sprach ihm leise freundlich zu und brachte es geraeuschlos wieder auf die Fuesse. Eben jetzt verloeschten zu Michael Strogoff's Glueck die voellig niedergebrannten Fackeln, und es herrschte, mindestens unter den Gipfeln der Laerchenbaeume, die dichteste Finsterniss. Nachdem Michael Strogoff das Gebiss wieder eingelegt, den Sattelgurt festgeschnallt und die Riemen der Steigbuegel geprueft hatte, begann er sein Pferd langsam am Zuegel fortzuziehen. Uebrigens folgte das intelligente Thier, so als verstaende es, was man von ihm wolle, willig seinem Herrn, ohne nur ein einziges Mal zu wiehern. Dennoch hoben einige usbeckische Pferde neugierig die Koepfe und wandten sich dem Rande des Gehoelzes zu. In der rechten Hand hielt Michael Strogoff seinen Revolver, bereit, dem ersten tartarischen Reiter, der sich naehern wuerde, den Kopf zu zerschmettern. Gluecklicher Weise hoerte er aber keinen Weckruf und konnte den rechts auslaufenden Winkel des Waeldchens, da wo dieser an die Strasse herantrat, erreichen. Um womoeglich nicht gesehen zu werden, beabsichtigte Michael Strogoff sich erst so spaet als moeglich in den Sattel zu schwingen, und jedenfalls erst, nachdem er ueber eine Wendung des Weges, die sich etwa 200 Schritte jenseit des Gehoelzes befand, hinter sich haben wuerde. Zum Unglueck aber witterte ihn, als Michael Strogoff eben den Waldrand ueberschritt, das Ross eines Usbeck, wieherte und trabte auf ihn zu. Sein Reiter lief ihm nach, es zurueck zu fuehren, als er aber beim ersten schwachen Tagesgrauen ein unerwartetes Schattenbild bemerkte, rief er laut: "Achtung!" Auf diesen Ruf erhob sich die ganze Mannschaft des Bivouaks und stuerzte hervor auf die Strasse. Michael Strogoff hatte sich nur in den Sattel zu schwingen und im Galop davon zu jagen. Die beiden Officiere des Detachements hatten sich an die Spitze ihrer Leute gestellt und trieben diese an, sich schnell fertig zu machen. Jetzt sass Michael Strogoff schon auf dem Pferde. Da krachte ein Schuss und eine Kugel durchloecherte den Mantel des Couriers. Ohne den Kopf zu wenden und ohne den Angriff zu erwidern, gab er beide Sporen, erreichte mit einem kuehnen Sprunge vom Waldrande aus die Strasse und jagte mit verhaengtem Zuegel in der Richtung nach dem Obi davon. Die usbeckischen Pferde waren abgezaeumt worden, er musste also vor den Reitern des Detachements einigen Vorsprung gewinnen koennen; freilich beeilten auch diese sich, ihm nachzusetzen, und wirklich hoerte er, kaum zwei Minuten nachdem er das Hoelzchen verlassen, die schnellen Tritte mehrerer Pferde, welche ihm nach und nach naeher kamen. Schon begann es im Osten zu tagen und deutlicher traten in einem weiteren Umkreise alle Gegenstaende hervor. Michael Strogoff sah, als er sich einmal umwendete, dass ein Reiter ihn besonders schnell einzuholen drohte. Es war der Deh-Baschi. Dieser vorzueglich berittene Officier sprengte der ganzen Abtheilung voraus und musste den Fluechtling bald erreichen. Ohne anzuhalten schlug Michael Strogoff mit gewohnter sicherer Hand den Revolver auf ihn an, zielte einen Augenblick, und mitten in die Brust getroffen sank der Officier vom Pferde. Aber die andern Reiter folgten ihm auf dem Fusse nach, und ohne sich wegen ihres gefallenen Fuehrers aufzuhalten, sausten sie unter wildem Rachegeschrei, die Sporen fest in die Flanken der Pferde gedrueckt, weiter, und mehr und mehr verminderte sich die Distanz zwischen ihnen und Michael Strogoff. Etwa eine halbe Stunde lang vermochte sich Letzterer ausserhalb der Tragweite ihrer Schiesswaffen zu halten, aber er bemerkte leider, dass die Kraefte seines Pferdes nun zu Ende gingen, und fuerchtete mit Recht, dass dieses, wenn es gegen irgend ein Hinderniss stiesse, stuerzen wuerde, um nicht wieder aufzustehen. Jetzt war es schon ziemlich tageshell geworden, wenn auch die Sonne noch nicht ueber dem Horizonte stand. In einer Entfernung von etwa zwei Werst schlaengelte sich eine durch Baeume begrenzte hellere Linie hin. Das war der Obi, der fast im gleichen Niveau mit dem Erdboden von Suedwesten nach Nordosten dahinfloss und als dessen Thalbett man fueglich die ganze umgebende Steppe ansehen musste. Wiederholt knatterten die Gewehre hinter Michael Strogoff her, ohne dass eine Kugel ihn verletzte, und mehrmals musste auch er gegen Reiter, die ihm zu gefaehrlich nahe kamen, von seinem Revolver Gebrauch machen. Jedesmal rollte ein Usbeck, unter dem Wuthgeheul seiner Kameraden, schwerverwundet in den Sand. Trotz alledem konnte diese Hetzjagd endlich nur zum Nachtheil Michael Strogoff's ausfallen. Sein Pferd keuchte athemlos und bis zum Tode erschoepft, doch gelang es ihm noch, dasselbe bis an das Flussufer zu treiben. Die Abtheilung Usbecks befand sich jetzt kaum noch fuenfzig Schritte hinter ihm. Auf dem vollstaendig verlassenen Obi erblickte er weder eine Faehre, noch ein Fahrzeug, die zum Uebersetzen ueber den Strom haetten dienen koennen. "Jetzt Muth, mein wackres Ross! rief Michael Strogoff. Vorwaerts! Jetzt gilt's die letzte Anstrengung!" Er stuerzte sich in den Fluss, dessen Breite hier wohl eine halbe Werst betragen mochte. Gegen die rasche Stroemung war nur schwer anzukaempfen. Michael Strogoff's Pferd konnte nirgends Fuss fassen. Ohne jeden Stuetzpunkt musste es die brausend schnell dahinziehenden Wellen also nur durchschwimmen. Ein Wunder von Muth gehoerte fuer Michael Strogoff dazu, diesem Wasserschwalle zu trotzen. Die Reiter hatten am Ufer des Stromes Halt gemacht; sie zauderten, sich ebenfalls in denselben nachzustuerzen. In diesem Augenblick aber ergriff der Pendja-Baschi sein Gewehr und zielte sorgfaeltig auf den Fluechtling, der sich schon in der Mitte der Stroemung befand. Der Schuss krachte, und toedtlich in der Flanke getroffen versank das Pferd Michael Strogoff's unter seinem Reiter. Noch zeitig genug befreite sich dieser aus den Steigbuegeln, eben als sein treues Thier unter den Wellen des Flusses verschwand. Endlich gelangte er unter fortwaehrendem Niedertauchen und nur auf Augenblicke an der Oberflaeche Athem schoepfend trotz des nachgesendeten Kugelregens gluecklich an das rechte Flussufer und verschwand hinter den Gebueschen, die sich laengs des Obirandes hinzogen. Siebenzehntes Capitel. Bibelsprueche und Liederverse. Michael Strogoff befand sich einigermassen in Sicherheit; immerhin war seine Lage noch eine schreckliche. Jetzt, da das treue Thier, das ihm bis hierher so muthig gedient, in den Wellen des Stromes den Tod gefunden hatte, wie sollte er seine Reise fortsetzen koennen? Er war zu Fuss, ohne Lebensmittel, in einem durch die Empoerung verwuesteten, durch die Plaenkler des Emir schon ausgesaugten Lande und dabei noch eine grosse Strecke von dem Ziele, das er erreichen musste, entfernt. "Bei Gott, ich komme doch noch dahin! rief er wie als Antwort auf alle Einwaende der Ohnmacht, die in seinem Geiste einen Augenblick aufstiegen. Der Herr schuetzt das heilige Russland!" Michael Strogoff befand sich jetzt ausserhalb des Bereichs der usbeckischen Reiter. Diese hatten nicht gewagt, ihn durch den Fluss weiter zu verfolgen, und mussten auch annehmen, dass er ertrunken sei, da sie ihn nach dem letzten Verschwinden unter dem Wasser am rechten Ufer des Obi nicht wieder auftauchen sahen. Aber Michael Strogoff erreichte, unter dem mannshohen Schilfe des Ufers hinschluepfend eine hoehere Stelle des Abhanges, wenn auch nur mit grosser Muehe, da ein tiefer, von dem Austreten des Stromes zurueckgebliebener Schlamm seinen Weg sehr schluepfrig machte. Als er festen Grund und Boden unter sich fuehlte, hielt Michael Strogoff an und ueberlegte, was nun zu thun sei. Vor Allem war er mit sich darueber einig, Tomsk, das von tartarischen Truppen besetzt war, bestimmt zu vermeiden. Dennoch musste er einen bewohnten Ort, mindestens ein Postrelais zu treffen suchen, um sich daselbst wieder ein paar Pferde zu verschaffen. Mit diesen wollte er sich ausserhalb der besetzten Wege halten und die Strasse nach Irkutsk erst in der Gegend von Krasnojarsk wieder einschlagen. Wenn er sich beeilte, durfte er hoffen, den Weg noch frei zu finden, so dass er nach dem Suedosten der Provinzen am Baikalsee herabgelangen konnte. Zunaechst begann Michael Strogoff sich zu orientiren. Zwei Werst vor ihm laengs des Obi erhob sich eine kleine Stadt in pittoresken Stufen auf einem leichten Landruecken. Einige Kirchen mit byzantinischen, gruen und goldig verzierten Kuppeln zeichneten sich am grauen Himmelsgrunde ab. Das war Kolywan, wohin die niederen und hoeheren Beamten aus Kamsk und anderen Staedten sich zu wenden pflegen, um dem ungesunden Klima der Barabinen-Steppe zu entfliehen. Kolywan konnte nach den letzten Berichten, die der Courier des Czaar vernommen hatte, noch nicht in den Haenden der Eindringlinge sein. Die in zwei Colonnen einherziehenden Tartarenhaufen hatten sich links nach Omsk, rechts nach Tomsk gewendet, das Land in der Mitte aber frei liegen lassen. Das einfache und logische Project, das Michael Strogoff entwarf, bestand darin, Kolywan vor den usbeckischen Reitern, die dem linken Ufer des Flusses folgten, zu erreichen. Dort wollte er sich, und waere es auch um den zehnfachen Preis, Kleider und ein Pferd verschaffen und den Weg nach Irkutsk durch die innere Steppe wieder einschlagen. Es war drei Uhr Morgens. Die zur Zeit noch ganz ruhigen Umgebungen von Kolywan schienen vollkommen verlassen. Offenbar hatte sich die Landbevoelkerung auf der Flucht vor dem Einfall, dem sie keinen Widerstand entgegen zu setzen vermochte, mehr nach Norden in das Gouvernement Jeniseisk zurueckgezogen. Michael Strogoff wandte sich demnach raschen Schrittes nach Kolywan, als entfernte Detonationen an sein Ohr schlugen. Er stand still und unterschied deutlich ein dumpfes Rollen, welches die Luftschichten erschuetterte, und dazu ein trockenes Knattern, ueber dessen Natur er sich nicht taeuschen konnte. "Das ist Kanonendonner! Das ist Gewehrfeuer! sprach er fuer sich. Das kleine russische Corps ist also mit der Tartarenarmee zusammengetroffen! O gebe der Himmel, dass ich vor ihnen in Kolywan ankomme!" Michael Strogoff taeuschte sich nicht. Bald wurden die Detonationen deutlicher, und weiter rueckwaerts, links von Kolywan, lagerten sich weisse Daempfe unten am Horizonte, keine Rauchwolken, sondern jene dichten, scharf abgegrenzten Dampfwolken, wie sie das Feuer der Artillerie erzeugt. Am linken Ufer des Obi hatten die usbeckischen Reiter Halt gemacht, um den Ausgang der Schlacht abzuwarten. Von dieser Seite hatte Michael Strogoff also nichts zu fuerchten und beeilte deshalb seinen Marsch nach der Stadt. Inzwischen wurde der Kanonendonner staerker und naeherte sich merklich. Es war kein verschwimmendes Rollen mehr, sondern eine Folge deutlich unterscheidbarer Donnerschlaege. Gleichzeitig erhob sich der vom Winde entfuehrte Dampf in die Luft, und man erkannte, dass die Kaempfer im Sueden offenbar an Terrain gewannen. Kolywan war somit einem Angriff von der Westseite ausgesetzt. Vertheidigten es aber die Russen gegen die Tartarenhorden oder suchten sie es den Soldaten des Feofar-Khan wieder zu entreissen? Das liess sich fuer jetzt unmoeglich erkennen und setzte Michael Strogoff in nicht geringe Verlegenheit. Nur eine halbe Werst von Kolywan befand er sich, als ein hoher Feuerstrahl mitten aus den Haeusern der Stadt aufleuchtete und der Thurm einer Kirche unter einem Wirbel von Staub und Flammen zusammenbrach. Tobte der Streit schon in Kolywan? Michael Strogoff musste es wohl glauben; in diesem Falle kaempften die Russen und Tartaren also in den Strassen der Stadt. Bot sie ihm jetzt noch eine Zuflucht? Lief Michael Strogoff nicht Gefahr, daselbst gefangen zu werden, und durfte er hoffen, dass es ihm gelingen werde, aus Kolywan ebenso gluecklich zu entfliehen, wie vorher aus Omsk? Alle diese Gedanken flogen durch seinen Kopf. Er zauderte; er stand einen Augenblick still. Erschien es nicht besser, sich zu Fuss nach Sueden oder Osten, bis zu irgend einem Flecken, vielleicht nach Diachinsk oder einem andern, durchzuschlagen, und sich dort um jeden Preis ein Pferd zu verschaffen? Jedenfalls war das der einzige Ausweg, und sofort wandte sich Michael Strogoff, indem er das Ufer des Obi verliess, nach der rechten Seite von Kolywan. Gerade jetzt krachten die Geschuetze lauter als je. Bald zuengelten Flammen an der rechten Seite der Stadt in die Hoehe; die Feuersbrunst ergriff ein ganzes Stadtviertel von Kolywan. Michael Strogoff lief, was er laufen konnte, quer durch die Steppe und suchte den Schutz einiger Baeume zu erlangen, welche da und dort verstreut standen, als eine Abtheilung tartarischer Cavallerie auf dem rechten Stromufer erschien. Michael Strogoff konnte seine Flucht in der vorigen Richtung nicht mehr fortsetzen; die Reiter sprengten auf die Stadt zu, und es waere ihm schwer geworden, ihnen zu entgehen. Da bemerkte er neben einem kleinen, aber dichten Gebuesch ein isolirtes Haeuschen, das er wohl zu erreichen hoffen durfte, bevor jene ihn sahen. Michael Strogoff hatte nichts Anderes zu thun, als dort hin zu eilen, sich daselbst zu verstecken, um Etwas zu bitten, noethigenfalls sich anzueignen, womit er seine Kraefte wieder herstellen koennte, denn er war nun wirklich erschoepft von Hunger und Strapazen. Er stuerzte also auf dieses hoechstens eine halbe Werst entfernte Haeuschen zu. Naeher gekommen sah er erst, dass dieses Gebaeude ein Telegraphenbureau war. Zwei Draehte liefen davon nach Osten und Westen aus und ein dritter Draht war in der Richtung nach Kolywan gespannt. Wohl haette man voraussetzen koennen, dass dieses Bureau unter den jetzigen Verhaeltnissen verlassen sei, doch mochte dem sein wie ihm wollte, Michael Strogoff konnte dahin fliehen, im Nothfalle die Nacht abwarten und sich dann wieder in die Steppe hinaus wagen, welche die tartarischen Plaenkler durchirrten. Michael Strogoff eilte geraden Wegs auf die Thuer des Hauses zu und stiess sie schnell und heftig auf. Eine einzige Person befand sich in dem Zimmer, in dem die Telegraphenleitungen zusammenliefen. Es war ein Beamter, der in seiner Ruhe, in seinem Phlegma sich nicht um das Geringste kuemmerte, was in der Aussenwelt vorging. Treu auf seinem Posten ausharrend, wartete er, dass das Publicum seine Dienste in Anspruch nehme. Michael Strogoff rannte auf ihn zu und fragte mit vor Erschoepfung gebrochener Stimme: "Was wissen Sie Neues? -- Ei nichts, erwiderte der Beamte laechelnd. -- Es sind doch Russen und Tartaren handgemein geworden? -- Man sagt es. -- Aber wer ist Sieger? -- Das weiss ich selbst nicht." So viel Gemuetlichkeit unter so schrecklichen Verhaeltnissen, so viel Indifferenz erschien doch kaum glaublich. "Und der Draht ist noch nicht zerschnitten? fragte Michael Strogoff. -- Zwischen Kolywan und Krasnojarsk ist die Leitung zerstoert, sie functionirt aber noch zwischen Kolywan und der russischen Grenze. -- Fuer die Regierung? -- Fuer die Regierung, wenn sie es fuer noethig erachtet, fuer das Publicum, wenn dasselbe zahlt. Das Wort kostet zehn Kopeken. Wenn es Ihnen beliebt, mein Herr?" Michael Strogoff wollte eben diesem Beamten ohne Gleichen antworten, dass er keine Depesche abzusenden habe, sondern nur gekommen sei, um etwas Brod und Wasser zu erbitten, als die Thuer des Hauses wieder hastig aufgerissen wurde. Michael Strogoff bereitete sich schon, in dem Glauben, das Haus sei von Tartaren ueberfallen, zu einem Sprunge durch das Fenster, als er noch sah, dass nur zwei einzelne Maenner in den Raum eintraten, die tartarischen Soldaten nicht im Geringsten aehnelten. Mit einem leicht erklaerlichen Erstaunen erkannte Michael Strogoff in diesen zwei Maennern zwei Persoenlichkeiten wieder, an die er jetzt nicht im Entferntesten dachte und die er ueberhaupt niemals wieder zu sehen geglaubt hatte. Es waren die beiden Berichterstatter Harry Blount und Alcide Jolivet, jetzt keine Reisegefaehrten mehr, sondern Rivalen, ja Feinde, seitdem sie ihre Thaetigkeit auf dem Kriegsschauplatze begannen. Ischim verliessen sie seiner Zeit nur wenige Stunden nach Michael Strogoff's Weiterreise, und wenn sie auf derselben Strasse Kolywan vor ihm erreichten, ja, ihn selbst unterwegs ueberholten, so kam das daher, dass Michael Strogoff am Ufer des Irtysch drei Tage eingebuesst hatte. Jetzt, nach Beobachtung des Kampfes zwischen den russischen und tartarischen Truppen dicht vor der Stadt, hatten sie Kolywan in dem Augenblicke verlassen, als der Streit sich in die Strassen der Stadt hinein fortsetzte, waren nach der Telegraphenstation gelaufen, um ihre rivalisirenden Depeschen nach Europa abzulassen und Einer dem Andern die erste Meldung der Tagesereignisse streitig zu machen. Michael Strogoff trat etwas bei Seite an eine dunklere Stelle und konnte von hier aus, ohne selbst gesehen zu werden, Alles sehen und hoeren. Jedenfalls durfte er auf wichtige Neuigkeiten hoffen, um aus diesen abnehmen zu koennen, ob er sich nach Kolywan hinein wagen duerfe oder nicht. Harry Blount, der sich noch mehr beeilte, als sein College, hatte den Platz am Schalter eingenommen, waehrend Alcide Jolivet ganz gegen seine Gewohnheit ungeduldig mit den Fuessen stampfte. "Jedes Wort kostet zehn Kopeken", sagte der Beamte, die Depesche entgegen nehmend. Harry Blount stapelte auf einer Zaehltafel eine kleine Saeule Rubel auf, die sein College mit einer gewissen Verwunderung betrachtete. "Schoen, schoen", sagte der Beamte. Und mit der unerschuetterlichsten Kaltbluetigkeit der Welt begann er folgende Depesche abzutelegraphiren: _"Daily-Telegraph, London._ _"Aus Kolywan, Gouvernement Omsk in Sibirien, am 6. August._ _"Gefecht zwischen russischen Truppen und Tartaren ..."_ Da die Worte laut vorgelesen wurden, hoerte Michael Strogoff auch Alles, was der englische Correspondent seinem Journale mittheilte. _"Die russischen Truppen mit grossen Verlusten zurueckgedraengt. Tartaren an demselben Tage in Kolywan eingezogen ..."_ Diese Worte beendigten die Depesche. "Nun ist die Reihe an mir, rief Alcide Jolivet, der eine an seine Cousine im Faubourg Montmartre adressirte Depesche aufgeben wollte. Das wollte aber dem englischen Reporter keineswegs passen; denn dieser dachte gar nicht daran, den Schalter zu verlassen, um alle Ereignisse, die er von hier aus etwa noch beobachten konnte, sofort nach Hause berichten zu koennen. Er machte also seinem Gefaehrten nicht Platz. "Sie sind aber doch fertig! ... rief Alcide Jolivet. -- Ich bin noch nicht zu Ende", antwortete einfach Harry Blount. Er schrieb sofort eine Reihe Worte auf, die er dem Beamten uebergab, welcher sie mit stets gleichmaessig ruhiger Stimme durchlas: _"Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde!..."_ Es waren die ersten Verse aus der Bibel, welche Harry Blount telegraphirte, um die Zeit auszufuellen und seinem Collegen gegenueber den einmal eingenommenen Platz zu behaupten. Dieser Ausweg kostete seinem Journal vielleicht einige tausend Rubel, aber es erhielt dafuer auch die allerersten Berichte. Frankreich konnte warten! Man begreift wohl den Aerger und die Wuth Alcide Jolivet's. Unter allen anderen Verhaeltnissen haette er zwar begriffen, dass dieses Verfahren ein gesetzlich vollkommen begruendetes war, jetzt suchte er aber den Beamten womoeglich zu noethigen, dass er seiner Depesche vor der Fortsetzung der seines Collegen den Vorzug gebe. "Der Herr ist in seinem Recht", bedeutete ihn ruhig der Beamte, indem er auf Harry Blount wies und ihm liebenswuerdig zulaechelte. Und er fuhr pflichtgetreu fort, an den Daily-Telegraph den ersten Vers der heiligen Schrift zu telegraphiren. Waehrend der Manipulationen an den Apparaten begab sich Harry Blount ruhig an's Fenster und beobachtete mit einem Fernglase, was etwa um Kolywan vorging, um seine Berichte zu vervollstaendigen. Einige Augenblicke spaeter nahm er seinen Platz am Schalter wieder ein und fuegte seinem Telegramm hinzu: _"Zwei Kirchen stehen in Flammen. Die Feuersbrunst scheint sich nach dem rechten Flussufer zu auszubreiten. Und die Erde __war wueste und leer und es war finster auf der Tiefe ..."_ In Alcide Jolivet stieg eine hoellische Lust auf, den ehrenwerthen Correspondenten des Daily-Telegraph einfach zu erwuergen. Wiederholt interpellierte er den Beamten, der ihm stets mit der naemlichen Ruhe die Antwort gab: "Der Herr ist in seinem Recht, vollkommen in seinem Recht ... Das Wort kostet zehn Kopeken." Und unverdrossen telegraphirte er die folgende Neuigkeit, die ihm Harry Blount brachte. _"Russische Fluechtlinge draengen sich aus der Stadt. Und Gott sprach, es werde Licht und es ward Licht!..."_ Alcide Jolivet wollte buchstaeblich vor Wuth bersten. Inzwischen war Harry Blount wieder zum Fenster zurueckgekehrt, zog aber seine Beobachtung, wahrscheinlich gefesselt von Interesse an dem Schauspiel, das sich vor seinen Augen abspielte, etwas zu sehr in die Laenge. Sobald der Telegraphist also den dritten Vers der Bibel abgesendet hatte, nahm Alcide Jolivet geraeuschlos am Schalter Platz und uebergab, nach Deponirung einiger recht anstaendiger Rubelrollen, seine Depesche dem Beamten, der sie wiederum mit lauter Stimme verlas: _"Madeleine Jolivet,_ _"10, Faubourg Montmartre (Paris)._ _"Aus Kolywan, Gouvernement Omsk in Sibirien, am 6. August._ _"Fluechtlinge entweichen aus der Stadt. Die Russen geschlagen. Heftige Verfolgung durch die tartarische Cavallerie ..."_ Und als Harry Blount nach dem Schalter zurueckkehrte, vernahm er nur, wie Alcide Jolivet sein Telegramm in halb singendem, lustigem Tone vervollstaendigte: _"Es ist ein kleines Maennchen,_ _Gekleidet ganz in Grau,_ _In Paris!..."_ Da er es fuer unpassend hielt, Profanes und Heiliges unter einander zu mengen, so benutzte er den Refrain eines lustigen Liedes Beranger's an Stelle der Bibelverse. "Oha! platzte Harry Blount heraus. -- Ja ja, so geht's", erwiderte lachend Alcide Jolivet. Inzwischen gestalteten sich die Verhaeltnisse in den Umgebungen Kolywans immer bedrohlicher. Die Schlacht waelzte sich naeher heran, der Geschuetzdonner krachte immer entsetzlicher. Da erzitterte ploetzlich das ganze Telegraphenamt in allen Fugen. Eine Granate hatte die Mauer durchschlagen und eine dichte Staubwolke erfuellte den ganzen Raum. Alcide Jolivet schrieb erst noch folgende Zeilen vollends nieder: _"Bausbaeckig, wie ein Apfel,_ _Doch ohn' ein'n Heller Geld ..."_ Dann hielt er inne, stuerzte auf die Granate zu, erfasste sie noch vor der Explosion derselben mit beiden Haenden, warf sie zum Fenster hinaus und trat wieder an den Schalter - Alles das Werk eines Augenblicks. Fuenf Secunden spaeter zersprang die Granate vor dem Hause in tausend Stuecke. Alcide Jolivet liess sich im weiteren Aufsetzen seines Telegramms gar nicht stoeren und fuegte dem voellig ruhig und kaltbluetig hinzu: _"Eine sechspfuendige Granate schlug soeben durch die Mauer des Telegraphenamtes. In Erwartung noch weiterer von gleichem Kaliber ..."_ Michael Strogoff schwand jeder Zweifel, dass die Russen aus Kolywan vertrieben seien. Sein einziger Ausweg blieb es also, sich durch die suedliche Steppe zu wagen. Da knatterte eine furchtbare Gewehrsalve nahe dem Telegraphenamte und ein Hagelschauer von Kugeln zersplitterte die Fensterscheiben. An der Schulter getroffen fiel Harry Blount zur Erde. Alcide Jolivet eilte, seiner Depesche noch einen Anhang hinzuzufuegen. _"Harry Blount, Correspondent des Daily-Telegraph, an meiner Seite von einer Kugel getroffen ..."_ Da unterbrach ihn der kaltbluetige Beamte und sagte mit seiner unerschuetterlichen Ruhe: "Mein Herr, die Leitung ist unterbrochen." Den Schalter schliessend griff er ganz ruhig nach seinem Hute, buerstete ihn sorgfaeltig mit dem Ellbogen und verliess, immer laechelnd, das Haus durch eine kleine Nebenthuer, welche Michael Strogoff bis dahin entgangen war. Das Gebaeude ward unmittelbar darauf von tartarischen Truppen besetzt, so dass weder Michael Strogoff noch die beiden Journalisten ihren Rueckzug zu bewerkstelligen vermochten. Mit seiner nun zwecklosen Depesche in der Hand eilte Alcide Jolivet zu dem auf dem Boden liegenden Harry Blount und gab sich Muehe, letzteren auf die Schultern zu nehmen in der Absicht, mit ihm zu entkommen ... Zu spaet! Beide wurden gefangen und gleichzeitig mit ihnen fiel Michael Strogoff, als er sich eben anschickte, zu einem Fenster hinaus zu springen, in die Haende der Tartaren! Ende des ersten Bandes. Collection Verne. Band 23. *Der Courier des Czaar.* (Michael Strogoff.) Von *Julius Verne.* _Autorisirte Ausgabe_ Zweiter Band. *Vierte Auflage.* Wien. Pest. Leipzig. _A. Hartleben's Verlag._ Alle Rechte vorbehalten. K. u. K. Hofbuchdruckerei Carl Fromme in Wien. MICHAEL STROGOFF. Zweiter Theil. Erstes Capitel. Ein tartarisches Feldlager. Eine Tagereise von Kolyvan und einige Werst jenseit des Fleckens Diachinsk breitet sich eine grosse Ebene aus, auf der sich einige hohe Baeume, vorzueglich Tannen und Cedern, erheben. Waehrend der warmen Jahreszeit wird dieser Theil der Steppe gewoehnlich von sibirischen Hirten besucht und gewaehrt auch den zahlreichen Heerden derselben hinlaengliche Nahrung. Jetzt haette man wohl vergeblich nach einem dieser nomadisirenden Bewohner gesucht. Nicht dass diese fruchtbare Ebene verlassen und oede gewesen waere, - im Gegentheil, sie zeigte ein ganz aussergewoehnliches Leben. Hier erhoben sich naemlich die Zelte der Tartaren, hier lagerte Feofar-Khan, der grausame Emir von Bukhara, und eben an diesem Morgen, am 7. August, wurden die bei Kolyvan nach der Zersprengung des kleinen russischen Corps gemachten Gefangenen hierher eingebracht. Von jenen 2000 Mann, welche sich zwischen die zwei auf Omsk und Tomsk gestuetzten, feindlichen Heersaeulen gewagt hatten, waren nur noch einige hundert Soldaten davon gekommen. Der Verlauf der Ereignisse war also kein guenstiger, und die kaiserliche Regierung erschien jenseit des Ural ernstlich bedraengt, - mindestens fuer den Augenblick, denn frueher oder spaeter musste es den Russen ja wohl gelingen, die Eindringlinge zu Paaren zu treiben. Jedenfalls hatten die raeuberischen Horden das Herz Sibiriens erreicht und drohte der feindliche Einfall sich ueber das empoerte Land entweder nach den Provinzen im Westen, oder nach denen im Osten zu verbreiten. Irkutsk war jetzt von aller Verbindung mit Europa abgeschnitten. Wenn die Truppen vom Amur und aus der Provinz Jakutsk nicht rechtzeitig eintrafen, um diese Hauptstadt Sibiriens zu besetzen, so musste sie wohl, bei den mangelhaften Kraeften zu ihrer Vertheidigung, den Tartaren in die Haende fallen, und bevor es dann moeglich wurde, sie diesen wiederum zu entreissen, blieb der Grossfuerst, der Bruder des Kaisers, den Rachegeluesten Iwan Ogareff's preis gegeben. Was war nun mit Michael Strogoff geschehen? Beugte er sich unter der Last so vieler Pruefungen? Betrachtete er sich als besiegt durch so viel Hindernisse, die ihn seit dem Unfalle von Ichim unausgesetzt verfolgten? Gab er seine Partie verloren, sah er seine Sendung fuer verfehlt, die Ueberlieferung seines Mandats fuer unmoeglich an? Michael Strogoff gehoerte zu den Menschen, die sich erst dann nicht mehr regen, wenn sie todt zusammengebrochen sind. Jetzt lebte er noch, war sogar ganz unverwundet geblieben, das kaiserliche Handschreiben verwahrte er noch immer, sein Incognito war noch unverletzt. Gewiss befand er sich unter den zahlreichen Gefangenen, welche die Tartaren wie eine Heerde Vieh daher trieben; aber mit der Annaeherung an Tomsk kam er auch Irkutsk naeher, und jedenfalls blieb Iwan Ogareff immer hinter ihm zurueck. "Ich werde noch ankommen!" wiederholte er sich immer wieder. Seit jener Affaire bei Kolyvan draengte sich seine ganze Lebenskraft zusammen in dem einen Gedanken, seine Freiheit zu erlangen. Wie er den Soldaten des Emirs entrinnen wuerde? - Das wollte er sehen, wenn der passende Zeitpunkt da waere. Feofar's Feldlager bot einen praechtigen Anblick. Zahllose Zelte aus Thierfellen, Filz oder Seidenstoffen schillerten in den Strahlen der Sonne. Lange, reiche Troddeln auf ihren schlank zulaufenden Spitzen wiegten sich zwischen buntfarbigen Fahnen, Standarten und Feldzeichen hin und her. Die am reichsten ausgestatteten Zelte gehoerten den Seids und den Khodjas, den vornehmsten Maennern des Khanates, an. Eine besondere Flagge, mit einem Pferdeschweif als Schmuck, deren Lanzenschaft sich aus einem kunstvoll geordneten Buendel rother und weisser Staebe erhob, bezeichnete den hohen Rang dieser Tartarenhaeuptlinge. Weit ueber Sehweite hinaus erstreckten sich endlich die Reihen jener turkomanischen Zelte, "Karaoys" genannt, die auf dem Ruecken der Kameele mitgefuehrt wurden. Das ganze Lager zaehlte mindestens 150,000 Mann Soldaten, sowohl Fussvolk als auch Reiterei. Unter diesen sah man, als die Urtypen von Turkestan, zuerst die Tadjiks mit ihren schoenen, regelmaessigen Zuegen, weisser Hautfarbe, schwarzen Augen und Haaren und dem hohen, maechtigen Wuchse, - die Hauptmacht der Tartarenarmee, zu der die Khanate von Khokhand und Kunduz nahezu ein gleich grosses Contingent wie Bukhara geliefert hatten. Neben diesen Tadjiks fanden sich die Vertreter anderer Staemme, welche entweder in Turkestan sesshaft waren oder deren Heimat doch an jene Gebiete grenzte. Da sah man Usbecks von kleiner Gestalt und mit brennend rothem Barte, ganz aehnlich denen, welche zur Verfolgung Michael Strogoff's ausgesendet worden waren. Ferner Kirghisen mit abgeplattetem, dem der Kalmuecken aehnlichen Gesicht, in Panzerhemden gekleidet, von denen ein Theil Lanzen, Bogen und Pfeile asiatischer Herkunft fuehrte, ein anderer mit dem Saebel, einem Luntengewehre und dem "Tschakane", d. i. eine kurz gestielte Axt, welche leicht toedtliche Wunden verursacht, ausgeruestet erschien. Dazu mittelgrosse Mongolen mit schwarzem, langem Haar, das in einen Zopf geflochten auf den Ruecken hinabfiel, mit rundlichem, sonnenverbranntem Gesicht, dunklen, lebhaften Augen und mangelndem oder sehr spaerlichem Barte, gekleidet in blaue, mit schwarzem Pelz verbraemte Nankingstoffe, geschmueckt mit Lederguerteln, mit Silberschnallen, Schnuerstiefeln und seidenen, wiederum mit Pelz garnirten Muetzen, von denen nach rueckwaerts drei Baender hinausflatterten. Endlich sah man auch tiefdunkle Afghanen; Araber, wahre Musterbilder der schoenen semitischen Racen und Turkomanen mit engen gedrueckten Augen, an denen die Lider ganz zu fehlen schienen, - Alle vereinigt unter der Kriegsfahne des Emirs, einer Fahne von Mordbrennern und zerstoerungssuechtigen Horden. Neben diesen freien Soldaten fand sich auch noch eine gewisse Anzahl Sklavenhaufen, vorzueglich Perser, welche von eingeborenen Anfuehrern befehligt und in der Armee Feofar-Khans keineswegs gering geschaetzt wurden. Rechne man hierzu noch die als Diener fungirenden Juden in ihrem mittels eines Strickes zusammengehaltenen langen Rocke, den Kopf, an Stelle des ihnen verbotenen Turbans, bedeckt mit einem dunkelfarbigen Tuchkaeppchen, und endlich darunter gemischt noch Hunderte "Kalender", eine Art religioeser Bettler in zerfetzter, mit einem Leopardenfelle nothduerftig bedeckter Kleidung, so wird man zu einer nahezu vollstaendigen Vorstellung des fast unuebersehbaren Gemisches der verschiedenen Voelker und Staemme gelangen, welche die Tartarenarmee bildeten. Fuenfzigtausend Soldaten der Armee waren beritten und die Pferde derselben nicht minder verschieden, als die Mannschaften. Unter den Thieren, die zu je zehn an zwei parallelen Stricken angebunden und deren Schweife in Knoten geknuepft, deren Ruecken aber mit einem seidenen Netze bedeckt waren, unterschied man die feingebauten, grossen Turkomanen mit glaenzendem Haar und stolzer Haltung; die ausdauernden, kraeftigen Usbecks; die Khokhandiner, welche ausser ihrem Reiter noch zwei Zelte und eine ganze Kuecheneinrichtung tragen; die hellfarbigen Kirghisenrosse, die von den Ufern des Emba-Flusses herstammen, wo man sie mittels "Arkan", d. i. der Lasso der Tartaren, einfaengt, und endlich viele andere Abkoemmlinge gekreuzter Racen von geringerem Werthe. Lastthiere zaehlten hier ebenfalls nach Tausenden. Hier fanden sich kleinere, aber wohlgebaute Kameele mit langer Behaarung, deren dichte Maehne ihren Hals verhuellte, gelehrige und leichter als die Dromedare zaehmbare Thiere; ferner einhoeckerige "Nars" mit rothgelbem, gelocktem Felle; endlich eine Menge Esel, welche unverdrossen ihre Arbeit leisten und deren sehr geschaetztes Fleisch zum nicht geringen Theile die Nahrung der Tartaren ausmacht. Ueber diese ganze Masse von Menschen und Thieren, ueber diese ungeheuren Haufen von Zelten verbreiteten in groesseren Gruppen zusammen stehende Cedern und Fichten einen angenehmen, erfrischenden Schatten, der da und dort durch einige besonnte Stellen unterbrochen wurde. Das Bild bot einen hoechst pittoresken Anblick, zu dessen Wiedergabe ein Maler wohl alle Farben seiner Palette haette erschoepfen muessen. Als die bei Kolyvan gemachten Gefangenen vor den Zelten Feofar's und der Grosswuerdentraeger des Khanates anlangten, wirbelten die Trommeln und schmetterten die Trompeten. Zu dem entsetzlichen Getoese mischte sich aber auch noch das Knattern von Gewehrfeuer und der Donner vier- und sechspfuendiger Geschuetze, welche die Artillerie des Emirs bildeten. Feofar lebte hier unter rein militaerischer Umgebung und Lebensweise. Seine Haushaltung und sein Harem befanden sich, ebenso wie die seiner Bundesgenossen, jetzt in Tomsk, das in den Haenden der Tartaren war. Nach Aufhebung des Lagers sollte der Sitz des Emirs ebendahin verlegt werden, bis er diese Residenz endlich mit der Hauptstadt von Ostsibirien endgiltig zu vertauschen hoffte. Feofar's Fuerstenzelt ueberragte die Zelte seiner Nachbarn. Errichtet aus breiten Stuecken eines prachtvollen Seidenstoffes, den Schnuren mit goldenen Fransen zusammenhielten, ueberragt von dichten Troddeln, welche der Luftzug faecherartig hin und her wiegte, nahm es den Mittelpunkt einer weiten Lichtung ein, die im Vordergrunde durch praechtige Birken und gigantische Fichten abgeschlossen war. Vor diesem Zelte lag auf einem glaenzenden, feinen, mit Edelsteinen ausgelegten Tische geoeffnet der heilige Koran, dessen Blaetter aus ganz duennen, fein gravirten Goldplaettchen bestanden. Darueber flatterte die tartarische Fahne. Am Umfange der Lichtung erhoben sich im Halbkreise die Zelte der hoechsten Beamten von Bukhara. Da wohnten der Grossstallmeister, dem das Recht zusteht, dem Emir bis in den Hof seines Palastes zu Pferde zu folgen; der Gross-Falkenier, der "Housch-Begui", d. i. der Siegelbewahrer des Herrschers, der "Toptschi-Baschi", d. i. der Oberbefehlshaber der Artillerie, der "Khodja" oder Vorsitzende des Grossen Rathes, der von dem Fuersten gekuesst wird und sich vor ihm mit offenem Guertel zeigen darf, der "Scheik-ul-Islam", der Erste der Ulemas und Vertreter der Priesterkaste, der "Cazi-Askev", der in Abwesenheit des Emirs ueber alle Streitfragen zwischen Militaers zu entscheiden hat, und endlich der Chef der Astrologen, deren Hauptgeschaeft es ist, die Sterne zu befragen, sobald der Khan beabsichtigt, seinen Aufenthalt zu wechseln. Der Emir befand sich, als die Gefangenen in das Lager getrieben wurden, gluecklicher Weise in seinem Zelte. Eine Handbewegung, ein Wort von ihm haette wohl hingereicht, ein blutiges Strafgericht in Scene zu setzen. Er hielt sich aber zurueck in jener Isolirtheit, welche zum Theil die Majestaet der orientalischen Fuersten erhaelt. Man bewundert Den, der sich nicht zeigt, und fuerchtet ihn mehr. Die Gefangenen selbst wurden in einer Umzaeunung eingepfercht, wo sie misshandelt, nur nothduerftig ernaehrt und allen verderblichen Einfluessen des Klimas ausgesetzt, der Entscheidung Feofar's entgegen harrten. Der gelehrigste von Allen, wenn auch nicht der geduldigste, war gewiss Michael Strogoff. Er liess sich gern fuehren, denn man fuehrte ihn dahin, wohin er selbst wollte, und das in verhaeltnissmaessiger Sicherheit, die er, frei und allein reisend, auf dem Wege von Kolyvan nach Tomsk nie haette finden koennen. Eine Flucht vor Erreichung letzterer Stadt haette ihn unzweifelhaft in die Haende der Plaenkler zurueck geliefert, welche die umgebende Steppe durchschwaermten. Die oestlichste, von den Schaaren der Meuterer zur Zeit besetzte Linie lag nicht ueber dem zweiundachtzigsten Meridian, welcher Tomsk durchschneidet, hinaus. Nach Ueberschreitung dieses Meridianes durfte Michael Strogoff darauf rechnen, sich ausserhalb des von Feinden ueberschwemmten Gebietes zu befinden, den Yenisei gefahrlos zu passiren und Krasnojarsk zu erreichen, bevor Feofar-Khan auch diese Provinz besetzte. "Einmal in Tomsk, wiederholte er sich manchmal, um einige Regung seiner Ungeduld, deren er nicht voellig Meister werden konnte, zu unterdruecken, werde ich binnen wenigen Minuten ueber die Vorpostenkette hinaus sein, und zwoelf Stunden vor Feofar, zwoelf Stunden nur vor Ogareff voraus zu sein, das genuegt mir, um ihnen nach Irkutsk zuvor zu kommen!" Was Michael Strogoff am meisten fuerchtete und wohl auch fuerchten musste, das war die Anwesenheit Iwan Ogareff's in dem tartarischen Lager. Abgesehen von der Gefahr, erkannt zu werden, verrieth ihm ein gewisser Instinct, dass es fuer ihn von besonderer Wichtigkeit sei, gerade diesem Verraether zuvor zu kommen. Er sah auch recht wohl ein, dass durch die Vereinigung der Heeresabtheilungen Iwan Ogareff's und Feofar-Khan's die feindliche Armee nun vollzaehlig wurde und mit aller Macht nach der ostsibirischen Hauptstadt zu aufbrechen werde. Eben diese Aussicht erregte in ihm aber die schwersten Befuerchtungen, und aufmerksam lauschte er auf jeden schmetternden Trompetenstoss, ob dieser etwa das Eintreffen jenes Unterbefehlshabers des Emirs verkuende. An solche Gedanken reihten sich dann noch die Erinnerungen an seine Mutter und an Nadia, deren Erstere in Omsk zurueck geblieben, die Andere auf den Barken des Irtysch weggeschleppt worden war. Unzweifelhaft seufzte diese ebenso wie Marfa Strogoff in harter Gefangenschaft. Und er vermochte Nichts fuer sie zu thun! Wuerde er jene Zwei ueberhaupt wiedersehen? Krampfhaft zuckte ihm das Herz bei dieser Frage, welche er sich nicht zu beantworten wagte. Gleichzeitig mit Michael Strogoff und vielen anderen Gefangenen waren auch Harry Blount und Alcide Jolivet in das Tartarenfeldlager transportirt worden. Ihr frueherer Reisegefaehrte wusste zwar, dass Jene in derselben dicht mit Wachtposten besetzten Umzaeunung untergebracht waren, er hatte sich ihnen aber nicht zu naehern gesucht. Nur wenig kuemmerte es ihn jedoch, was sie ueber ihn bezueglich des Auftrittes im Posthofe zu Ichim denken moechten; er wollte vielmehr allein sein, um im gegebenen Fall schneller allein handeln zu koennen. Deshalb hielt er sich stets mehr bei Seite. Alcide Jolivet hatte seit dem Augenblick, da sein College an seiner Seite fiel, diesem die groesste Sorgfalt gewidmet. Von Kolyvan bis nach dem Lager, daher auf einem Wege von mehreren Stunden, konnte Harry Blount dadurch, dass er sich auf den Arm seines Rivalen stuetzte, dem Gefangenenzuge folgen. Erst wollte er sich in seiner Eigenschaft als Englaender legitimiren, das haette ihm aber gegenueber diesen Barbaren, welche nur mit Lanzenstoessen und Saebelhieben antworteten, nicht im mindesten genuetzt. Der ehrenwerthe Correspondent des Daily-Telegraph theilte also zunaechst das Schicksal aller Uebrigen, und blieb es ihm ueberlassen, spaeter zu reclamiren und Satisfaction fuer die erlittene Behandlung zu verlangen. Diesen Weg legte er aber seiner Wunde wegen nur mit der groessten, schmerzlichen Anstrengung zurueck, und ohne Alcide Jolivet's Hilfe waere er wohl kaum im Stande gewesen, das Lager zu erreichen. Alcide Jolivet, den seine praktische Philosophie niemals im Stiche liess, hatte seinen Genossen physisch und moralisch durch alle ihm zu Gebote stehenden Mittel moeglichst gestaerkt. Als er sich unabwendbar in jene Huerde eingeschlossen sah, eilte er zunaechst, Harry Blount's Wunde zu untersuchen. Es gelang ihm recht gut, Jenen zu entkleiden, und er ueberzeugte sich, dass dessen Schulter nur von dem Sprengstueck einer Kugel gestreift worden war. "O, es ist nichts! sagte er. Eine ganz einfache Schramme. Nach zwei oder drei kuehlen Aufschlaegen ist die ganze Sache vorueber. -- Aber diese nothwendigen Umschlaege?... fragte Harry Blount. -- Die mache ich Ihnen selbst. -- Sie sind also ein wenig Arzt? -- Alle Franzosen sind halbe Aerzte!" Nach dieser dreisten Versicherung zerriss Alcide Jolivet sein Taschentuch, zupfte aus einem Stuecke desselben Charpie, legte ein anderes zu einem Tampon zusammen, holte aus einem in der Mitte des Platzes gelegenen Ziehbrunnen Wasser, wusch die gluecklicher Weise nur leichte Wunde sorgfaeltig aus und legte mit grosser Geschicklichkeit die feuchten Leinenstuecke auf Harry Blount's Schulter. "Ich behandle Sie mit Wasser, sagte er. Diese Fluessigkeit ist das wirksamste Sedativum, das man bei der Behandlung von Verwundungen kennt, und wird jetzt auch ganz allgemein angewendet. Die Aerzte haben nur 6000 Jahre gebraucht, um das zu entdecken! Ja, in runder Zahl so gegen 6000 Jahre! -- Ich danke Ihnen, Herr Jolivet, erwiderte Harry Blount, indem er sich auf ein Lager von duerren Blaettern hinstreckte, das sein Begleiter ihm im Schatten einer Birke zurecht gemacht hatte. -- Ei, das ist ja nicht der Rede werth. Sie haetten an meiner Stelle dasselbe gethan. -- Ja, ich weiss nicht ... antwortete Harry Blount ziemlich naiv. -- Sie Spassvogel! Alle Englaender sind edelmuethig! -- Gewiss, aber die Franzosen ...? -- Nun ja, die Franzosen sind gut, vielleicht sogar etwas einfaeltig; aber was das wieder gut macht, ist, dass sie eben Franzosen sind. Doch sprechen wir nicht mehr davon, oder noch besser, sprechen wir jetzt lieber gar nicht mehr. Sie brauchen nun vor allen Dingen Ruhe." Harry Blount hatte aber verzweifelt wenig Lust zu schweigen. Wenn er als Verwundeter vernuenftiger Weise daran denken konnte, zu schlafen, so war das doch mit ihm als Correspondenten des Daily-Telegraph keineswegs der Fall. "Herr Jolivet, begann er, glauben Sie, dass unsere letzten Depeschen noch ueber die russische Grenze befoerdert worden sind? -- Wie kommen Sie darauf? antwortete Alcide Jolivet. Um die jetzige Stunde wird meine glueckselige Cousine schon wissen, was von dem Treffen bei Kolyvan zu halten ist. -- Wie viele Exemplare dieser Depeschen druckt Ihre Cousine? forschte Harry Blount, der diese Frage zum ersten Male unumwunden an seinen Collegen richtete. -- Sehr gut! erwiderte lachend Alcide Jolivet. Meine Cousine ist eine ungemein discrete Person, die nicht gern von sich reden hoert und ungluecklich sein wuerde, wenn sie Ihnen den so nothwendigen Schlummer stoerte. -- Ich mag nicht schlafen, versetzte der Englaender. -- Was urtheilt Ihre Cousine wohl ueber die Sachlage? -- Nun, dass es mit den Russen augenblicklich nicht am besten steht. Doch, was da! die moskowitische Regierung ist maechtig, sie braucht sich wegen eines Barbareneinfalls nicht ernstlich zu beunruhigen, und Sibirien wird und kann ihr nicht verloren gehen. -- Ueberhebung hat schon die groessten Reiche gestuerzt! antwortete Harry Blount, der von einer gewissen "englischen" Eifersuechtelei wegen der russischen Praetensionen in Centralasien nicht ganz frei war. -- O bitte, nur keine Politik treiben, rief Alcide Jolivet. Das ist von der Facultaet untersagt! Fuer Schulterwunden giebt es gar nichts Gefaehrlicheres! ... Sie muessten denn dadurch einschlummern wollen! -- So sprechen wir davon, was uns zu thun uebrig bleibt, lenkte Harry Blount ein. Ich, Herr Jolivet, verspuere nicht die mindeste Lust, hier unbedingt Gefangener der Tartaren zu bleiben. -- Ich bei Gott auch nicht! -- Wir werden uns bei erster bester Gelegenheit davon zu machen suchen. -- Ja, wenn's zur Wiedererlangung unserer Freiheit kein anderes Mittel giebt. -- Wissen Sie ein anderes? fragte Harry Blount und sah seinen Begleiter erwartungsvoll an. -- Gewiss! Wir sind keine Combattanten, wir sind neutral und werden reclamiren. -- Bei Feofar-Khan? Bei diesem wilden Thiere? -- Nein, er verstaende das nicht, erwiderte Alcide Jolivet; aber bei Iwan Ogareff, seinem Untergeneral. -- Der ist ein Schurke! -- Zugegeben; aber dieser Schurke ist wenigstens ein Russe. Er weiss, dass er mit dem Voelkerrecht nicht spielen darf, und hat auch kein Interesse, uns zurueckzuhalten. Von dem Herrn etwas zu verlangen, das soll mir nicht schwer werden. -- Dieser Herr befindet sich aber nicht im Lager, mindestens habe ich ihn noch nicht bemerkt, aeusserte Harry Blount. -- Er wird hierher kommen. Das kann nicht fehlen. Er muss sich hier dem Emir anschliessen. Jetzt ist Sibirien in zwei Kriegstheater getheilt, und offenbar erwartet ihn nur Feofar's Armee, um nach Irkutsk abzumarschiren. -- Und was thun wir, wenn wir frei sind? -- Ei nun, wir setzen ebenfalls unsern Feldzug fort und folgen den Tartaren, bis sich Gelegenheit bietet, in das Lager der Gegner ueberzugehen. Zum Teufel, man darf doch nicht fahnenfluechtig werden! Wir stehen ja erst im Anfang. Sie, Herr College, haben schon das Glueck gehabt, im Dienste des Daily-Telegraph eine Wunde davon zu tragen, aber ich, - ich habe im Dienste meiner Cousine noch gar nichts geleistet. Vorwaerts! Vorwaerts! - Ach, schoen, fuhr Alcide Jolivet leiser fort, er schlummert ein. Einige Stunden Schlaf und ein Paar Compressen mit frischem Wasser, mehr bedarf es nicht, um einen Englaender wieder auf die Beine zu bringen. Diese Leute sind aus Eisenblech construirt!" Und waehrend Harry Blount der Ruhe genoss, wachte Alcide Jolivet an seiner Seite, nachdem er ein Taschenbuch hervor geholt hatte, das er mit Notizen bedeckte, gleichzeitig fest entschlossen, diese mit seinem Begleiter, gewiss zur groessten Befriedigung der Abonnenten des Daily-Telegraph, ehrlich zu theilen. Der Gang der Ereignisse hatte die beiden Maenner an einander geknuepft und sie weiterer Eifersuechtelei enthoben. Was also Michael Strogoff vor Allem fuerchtete, gerade das wuenschten die beiden Journalisten sehnsuechtig herbei. Das Erscheinen Iwan Ogareff's musste fuer diese offenbar von Vortheil sein, denn sobald ihre Eigenschaft eines englischen und franzoesischen Correspondenten erst festgestellt war, mussten sie hoechst wahrscheinlich sofort in Freiheit gesetzt werden. Der Stellvertreter des Emirs wuerde Feofar schon zu belehren wissen, wenn es dessen Charakter auch entsprochen haette, die Gefangenen einfach als Spione abzuurtheilen. Das Interesse Alcide Jolivet's und Harry Blount's lief also dem Michael Strogoff's direct entgegen, und darin lag ein weiterer, zu den frueheren noch hinzutretender Grund, der ihn jede Annaeherung an die alten Reisegefaehrten sorgfaeltig vermeiden liess. Er richtete sich also moeglichst so ein, dass Jene ihn nicht zu Gesicht bekommen konnten. Vier Tage verstrichen ohne irgend welche Veraenderung der Sachlage. Von der Aufhebung des Lagers hoerten die Gefangenen kein Wort sprechen. Sie wurden strengstens ueberwacht. Es waere thatsaechlich unmoeglich gewesen, den Cordon von Fussvolk und Reitern, der sich um die Huerde schloss, zu durchbrechen. Die ihnen gebotene Nahrung schuetzte eben nur vor dem Verhungern. Zweimal binnen vierundzwanzig Stunden erhielt Jeder ein Stueck auf Kohlen geroestetes Ziegenfleisch gereicht, oder eine Ration von jenem "Krut" genannten Kaese, der aus saurer Schafmilch gewonnen wird und in Stutenmilch geweicht die gewoehnlich "Kumiss" genannte Speise der Kirghisen darstellt. Das war Alles. Hierzu kam, dass die Witterung wahrhaft abscheulich wurde. Heftige Stoerungen in der Atmosphaere fuehrten stuermische Winde mit Regenschauern herbei. Schutzlos mussten die Ungluecklichen diesen ungesunden Witterungswechsel aushalten, ohne dass man ihre Leiden irgendwie zu mindern gesucht haette. Einige Verwundete, mehrere Frauen und Kinder starben dabei, deren Leichen die Gefangenen selbst einscharren mussten, da ihre Peiniger jenen sogar ein Grab verweigerten. Waehrend dieser harten Pruefungen machten sich Alcide Jolivet und Harry Blount, jeder auf seine Weise, doppelt nuetzlich und waren zu jedem Dienste bereit, den sie nur irgend zu leisten vermochten. Da sie frueher keinen harten Entbehrungen ausgesetzt und demnach gesund und kraeftig waren, so widerstanden sie auch den jetzigen ueblen Einfluessen besser und konnten sich durch ihren Rath und ihre sorgende Pflege Denen nuetzlich erweisen, welche jetzt empfindlicher litten und der Verzweiflung verfielen. Sollte dieser Jammerzustand laenger andauern? Wollte Feofar-Khan, befriedigt durch die ersten gluecklichen Erfolge, einige Zeit rasten, bevor er auf Irkutsk marschirte? Man haette das wohl befuerchten koennen, es kam indess anders. Das von Alcide Jolivet und Harry Blount so herbeigesehnte, von Michael Strogoff so gefuerchtete Ereigniss trat am Morgen des 12. August wirklich ein. An diesem Tage schmetterten die Trompeten, wirbelten die Trommeln und knatterten die Musketen. Eine ungeheure Staubwolke waelzte sich langsam ueber der Strasse von Kolyvan dahin. Iwan Ogareff hielt, gefolgt von vielen Tausend Mann, seinen Einzug in das Lager der Tartaren. Zweites Capitel. Alcide Jolivet's Haltung. Es war ein ganzes Armeecorps, das Iwan Ogareff dem Emir zufuehrte. Diese Reiter und Fusssoldaten bildeten einen Theil der Heeresabtheilung, welche sich der Stadt Omsk bemaechtigt hatte. Da Iwan Ogareff nicht im Stande gewesen war, die obere Stadt einzunehmen, in welche sich, wie erzaehlt, der Gouverneur zurueckgezogen hatte, so entschloss er sich, weiter zu ziehen, um die Operationen, welche im oestlichen Sibirien geplant waren, nicht aufzuhalten. So liess er nur eine hinreichende Garnison in Omsk zurueck. Dann sammelte er seine Horden, verstaerkte sich unterwegs durch die Sieger von Kolyvan und stellte seine Verbindung mit der Armee Feofar's her. Die Truppen Iwan Ogareff's hielten vor den Aussenposten des Lagers. Sie erhielten keinen Befehl zum Bivouaquiren. Die Absicht ihrer Fuehrer ging offenbar dahin, sich gar nicht aufzuhalten, sondern sofort weiter zu dringen und in kuerzester Zeit Tomsk, die bedeutendere Stadt, in ihre Gewalt zu bringen, welche von Natur zum Centrum der zukuenftigen Operationen bestimmt schien. Gleichzeitig mit den Soldaten brachte Iwan Ogareff auch einen Transport russischer und sibirischer Gefangener, die bei Omsk oder Kolyvan in Feindeshand gefallen waren. Diese Ungluecklichen wurden gar nicht erst in die Umzaeunung gefuehrt, welche ohnedies schon zu klein fuer alle die erschien, welche darin schmachteten, sondern hielten bei den Vorposten, ohne jeden Schutz, fast ohne Nahrung. Welches Loos stand diesen wohl durch Feofar-Khan bevor? Wuerde er sie in Tomsk einkerkern oder sollte sie vielleicht eine blutige Execution, das gewoehnliche Verfahren der Tartarenhaeuptlinge, decimiren? Noch blieb das ein Geheimniss des launischen Emirs. Dieses Armeecorps war nicht von Omsk und Kolyvan abgezogen, ohne einen grossen Haufen Bettler, Marodeurs und Zigeuner mitzubringen, welche gewoehnlich den Nachtrab einer Armee auf dem Marsche zu bilden pflegen. Diese ganze Volksmenge lebte auf Kosten der durchzogenen Landschaften und liess wenig zu pluendern hinter sich zurueck. Schon hieraus ergab sich die Nothwendigkeit, weiter vorzudringen, und geschehe es nur, um fuer die Expeditions-Colonnen den noethigen Proviant zu verschaffen. Der ganze Landstrich zwischen dem Laufe des Ichim und des Obi war schon verwuestet und bot keinerlei Hilfsquellen mehr. Hinter sich liessen die Tartaren eine Wueste, welche die Russen gewiss nur mit groesster Schwierigkeit zu durchziehen im Stande sein konnten. Unter den Zigeunerschaaren, welche von Westen her mitgekommen waren, befand sich auch jene Truppe, die Michael Strogoff bis Perm begleitet hatte. Sangarre zaehlte auch noch zu dieser. Diese wilde Spionin, der boese Geist Iwan Ogareff's, verliess ihren Herrn und Meister niemals. Wir haben sie schon beide gesehen, wie sie, noch in Russland selbst, im Gouvernement von Nishny-Nowgorod, ihre Plaene schmiedeten. Nach Ueberschreitung des Ural hatten sie sich nur auf einige Tage getrennt. Iwan Ogareff suchte damals Ichim so schnell als moeglich zu erreichen, waehrend Sangarre und ihre Gesellschaft durch den Sueden der Provinz auf Omsk zu zogen. Man wird leicht begreifen, welche Hilfe dieses Weib Iwan Ogareff leistete. Durch ihre Tsiganen drang sie ueberall ein, hoerte und beobachtete Alles. Iwan Ogareff wurde von jedem Vorfalle in den besetzten Gebietstheilen auf dem Laufenden erhalten. Hundert Augen, hundert Ohren waren stets in seinem Dienst geoeffnet. Uebrigens gewaehrte er fuer diese Spionendienste, deren Vortheil ihm genuegend einleuchtete, gern einen hohen Lohn. Als Sangarre frueher einmal in eine sehr bedenkliche Sache verwickelt gewesen war, hatte sie der russische Offizier gerettet. Nie vergass sie, was sie ihm schuldete, und verschrieb sich ihm mit Leib und Seele. Als Iwan Ogareff dann den Verbrecherpfad des Verraethers beschritt, erkannte er recht gut, welchen Nutzen er aus der Ergebenheit dieser Frau ziehen konnte. Er mochte einen Befehl geben, welchen er wollte, - Sangarre fuehrte ihn aus; ein wahrhaft aussergewoehnlicher Instinct, noch maechtiger entwickelt als selbst das Gefuehl ihrer Dankbarkeit, hatte sie fast gedraengt, sich dem Verraether als Sklavin zu ergeben, an den sie sich seit den ersten Tagen seiner Verbannung nach Sibirien anschloss. Geschmeichelt durch sein Vertrauen, gefiel sich die vaterlandslose Sangarre darin, ihr Vagabundenleben den Empoerern zu widmen, welche Iwan Ogareff nach Sibirien fuehrte. Mit der natuerlichen Arglist ihrer Race verband sie eine wilde Energie, welche keine Vergebung und kein Mitleid kannte. Sie war eine Wilde, wuerdig die Huette eines Apachen oder den Wigwam eines Andamiers zu theilen. Seit seiner Ankunft in Omsk, wo sie sich ihm mit ihren Zigeunern wieder anschloss, hatte Sangarre Iwan Ogareff nicht mehr verlassen. Der Zufall, welcher Michael und Marfa Strogoff zusammengefuehrt hatte, war ihr bekannt. Die Befuerchtungen Iwan Ogareff's wegen des Durchzugs eines Couriers des Czaaren wusste und theilte sie. Fuer die gefangene Marfa Strogoff waere sie die geeignete Furie gewesen, diese mit der Bosheit einer Rothhaut zu peinigen, um ihr ihr Geheimniss zu entreissen. Noch war aber die Stunde nicht gekommen, da Iwan Ogareff die alte Sibirerin zum Reden zwingen wollte. Sangarre musste warten, und sie wartete, ohne Diejenige aus den Augen zu verlieren, welche sie wider ihr Wissen belauschte, deren geringste Geste, deren unschuldigstes Wort sie beobachtete, die sie Tag und Nacht bewachte, um das Wort "Sohn" einmal ihren Lippen entschluepfen zu hoeren, waehrend Marfa Strogoff's ausserordentliche Kaltbluetigkeit vorlaeufig noch alle diese Bemuehungen vereitelte. Inzwischen hatten sich bei dem Schmettern der Fanfaren der Oberbefehlshaber der Artillerie und der Grossstallmeister des Emirs, begleitet von einer glaenzenden Escorte, zum Empfange Iwan Ogareff's vor das Feldlager hinaus begeben. Als sie diesem nahe kamen, erwiesen sie ihm die hoechsten Ehrenbezeigungen und luden ihn ein, ihnen nach dem Zelte Feofar-Khan's zu folgen. Ruhig und gemessen wie immer erwiderte Iwan Ogareff nur sehr kuehl die Hoeflichkeiten der zu seinem Empfange entgegengesendeten hohen Staatsbeamten. Er war nur sehr einfach gekleidet, trug aber, - fast erschien es wie ein Ausdruck etwas prahlerischer Frechheit, - noch russische Uniform. Gerade als er die Zuegel seines Rosses fasste, um in den Kreis des Lagers zu reiten, draengte sich Sangarre durch die Reiter der Escorte, naeherte sich ihm und blieb unbeweglich stehen. "Nichts? fragte Iwan Ogareff. -- Nichts. -- Sei geduldig. -- Naehert sich die Stunde noch nicht, wo Du die alte Frau zum Reden zwingen wirst? -- Sie kommt, Sangarre. -- Wann wird das Weib sprechen sollen? -- Sobald wir in Tomsk sind. -- Und dahin kommen wir ...? -- Binnen drei Tagen." Wie ein Blitz leuchtete es auf in Sangarre's grossen, schwarzen Augen, dann zog sie sich still und geschmeidig zurueck. Iwan Ogareff gab seinem Pferde die Sporen und wendete sich, mit seinem Generalstabe im Gefolge, nach dem Zelte des Fuersten. Feofar-Khan war ein hochgewachsener Mann von vierzig Jahren, mit einem bleichen Gesicht, drohenden Augen und wilder Physiognomie. Der schwarze Bart wallte in kleinen Ringeln bis auf seine Brust herab. In seiner Kriegerkleidung, dem gold- und silbermaschigen Panzerhemd, dem von edeln Steinen glitzernden Degengehaenge, mit dem krummen, einem Yatagan aehnlichen Saebel, dessen Scheide mit praechtigen Gemmen eingelegt war, den schnurenbesetzten Sporenstiefeln und der asiatischen Muetze, an der eine Aigrette feuerstrahlender Diamanten funkelte, bot Feofar-Khan mehr das fremdartige, als ehrfurchtgebietende Bild eines tartarischen Sardanapal, eines unumschraenkten Herrschers, der ueber Leib und Blut seiner Unterthanen ganz nach Gutduenken verfuegt, dessen persoenliche Macht ohne Grenzen ist, und dem man, nach der in Bukhara lange herrschenden Sitte, ausschliesslich den Namen "Emir" beilegte. Als Iwan Ogareff erschien, blieben die Grosswuerdentraeger auf ihren goldbetressten Kissen ruhig sitzen; Feofar-Khan dagegen erhob sich von dem reichen Divan im Hintergrunde des Zeltes, dessen Fussboden der weiche Sammet eines bukharischen Teppichs verhuellte. Der Emir naeherte sich Iwan Ogareff und gab ihm einen Kuss; ein Zeichen, dessen Bedeutung Jener sehr wohl kannte. Dieser Kuss erhob den Unterbefehlshaber zum Vorsitzenden des Raths und stellte ihn zeitweilig ueber den Khodja. Hierauf wendete sich Feofar-Khan zu Iwan Ogareff. "Ich habe Dich nichts zu fragen, begann er, sprich Du selbst, Iwan, Du wirst hier nur Ohren finden, welche bereit sind, Deine Reden zu hoeren. -- Takhsir(4), erwiderte Iwan Ogareff, so hoere, was ich zu sagen habe." Iwan Ogareff sprach tartarisch und drueckte sich mit dem emphatischen Schwunge aus, der die Sprache der Orientalen auszeichnet. "Takhsir, die Zeit ist unnuetzen Worten nicht hold! Du weisst, was ich an der Spitze Deiner Truppen gethan habe. Die Linien des Ichim und Irtysch sind in unserer Macht und die Turkomanenreiter koennen ihre Pferde in dem nun tartarisch gewordenen Strome traenken. Die Kirghisenhorden erheben sich auf den Ruf Feofar-Khan's, und Dein ist die Hauptstrasse Sibiriens vom Ichim bis nach Tomsk. Du kannst von hier aus Deine Heersaeulen ebenso wohl nach dem Osten entsenden, wo die Sonne aufgeht, als hinaus nach dem Westen, wo sie sich niederlegt. -- Und wenn ich mit der Sonne marschire? fragte der Emir, ohne dass ein Zug des Gesichts die Gedanken seines Innern verrieth. -- Wenn Du mit der Sonne gehst, antwortete Iwan Ogareff, so wirst Du nach Europa zu gelangen und in schnellem Siegeslaufe die sibirischen Provinzen von Tobolsk bis nach den Bergen des Ural gewinnen. -- Und wenn ich der Fackel des Himmels entgegen ziehe? -- So wirst Du mit Irkutsk die reichen Gebiete des mittleren Asiens der tartarischen Herrschaft unterwerfen. -- Doch die Armeen des Sultans von Petersburg? fragte Feofar-Khan, der mit diesem sonderbaren Titel den Kaiser von Russland bezeichnete. -- Von ihnen hast Du nichts zu fuerchten, weder nach Sonnenaufgang, noch nach Sonnenuntergang zu, entgegnete Iwan Ogareff. Unser Einfall erfolgte zu ploetzlich, und bevor die russische Armee im Stande ist, ihnen Hilfe zu leisten, werden Irkutsk oder Tobolsk in Deine Haende gefallen sein. Die Truppen des Czaaren sind bei Kolyvan aufgerieben worden, wie es ueberall geschehen wird, wo die Deinen gegen jene veraechtlichen Heerhaufen des Occidentes streiten werden. -- Und welchen Rath giebt Dir Deine Ergebenheit fuer die Sache der Tartaren ein? fragte der Emir nach einer kurzen Pause. -- Mein Rath, entgegnete Iwan Ogareff lebhaft und schnell, geht dahin, der Sonne entgegen zu ziehen! Das Gras der oestlichen Steppen sollen die Rosse der Turkomanen abweiden. Jetzt gilt es, Irkutsk einzunehmen, die Hauptstadt der Provinz des Ostens, und mit ihr eine Geissel zu gewinnen, welche den Besitz eines grossen Landes aufwiegt. Jetzt muss, da es der Czaar nicht selbst sein kann, an seiner Stelle der Grossfuerst, sein Bruder, in Deine Haende fallen." Das war das letzte Ziel, dem Iwan Ogareff nachstrebte. Hoerte man ihn so reden, so haette man ihn wohl fuer einen Abkommen jenes grausamen Stephan Razine halten koennen, der das suedliche Russland im 18. Jahrhundert verwuestete. Sich des Grossfuersten zu bemaechtigen, ihn ohne Mitleid in Fesseln zu schlagen, nach dieser Befriedigung seines Hasses geizte er unablaessig. Die Einnahme von Irkutsk unterwarf uebrigens gleichzeitig das ganze oestliche Sibirien der Herrschaft der Tartaren. "Es geschehe, wie Du sagst, Iwan, erwiderte Feofar-Khan. -- Wie lauten Deine Befehle, Takhsir? -- Noch heute soll unser Hauptquartier nach Tomsk verlegt werden." Iwan Ogareff verneigte sich und zog sich in Begleitung des Housch-Begui zurueck, um die Befehle des Emirs auszufuehren. Eben als er zu Pferde steigen wollte, nach den Vorposten zurueckzukehren, entstand in einiger Entfernung, in dem von den Gefangenen eingenommenen Theil des Lagers, ein gewisser Tumult. Man vernahm wuestes Geschrei, dem zwei oder drei Gewehrschuesse folgten. Handelte es sich hier um den Versuch einer Revolte oder einer Massenflucht, welche summarisch zurueckgewiesen wurde? Iwan Ogareff und der Housch-Begui gingen ein wenig nach der Gegend zu und fast gleichzeitig erschienen zwei Maenner, trotz der Anstrengung der Soldaten, sie zu halten, vor den beiden Officieren. Der Housch-Begui machte ohne weitere Nachforschungen ein Zeichen mit der Hand, welches einem Todesbefehl gleichkam, der die Koepfe der Gefangenen wohl schnell haette in den Sand rollen lassen, als Iwan Ogareff einige Worte fallen liess, die dem schon ueber Jenen geschwungenen Saebel Halt geboten. Der Russe hatte schnell erkannt, dass die beiden Gefangenen Fremde waren, und befahl, sie ihm vorzufuehren. Man liess nun Harry Blount und Alcide Jolivet vortreten. Seit der Ankunft Iwan Ogareff's im Lager hatten sie schon verlangt, vor ihn gebracht zu werden. Die Soldaten schlugen ihren Wunsch einfach ab. Daraus entspann sich ein Streit, der mit einem Fluchtversuche und einigen Gewehrschuessen endigte, denen die Journalisten noch ohne Verwundung entgingen; immerhin haetten sie ohne das Dazwischentreten des Stellvertreters des Emirs ihren Widerstand gewiss bald mit dem Leben zu buessen gehabt. Letzterer examinirte die ihm vollstaendig unbekannten Gefangenen einige Augenblicke. Dieselben hatten zwar dem Auftritt im Relais zu Ichim beigewohnt, als Michael Strogoff von Iwan Ogareff geschlagen wurde. Der brutale Reisende von damals hatte indess den mit anwesenden Personen keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Harry Blount und Alcide Jolivet dagegen erkannten Jenen vollkommen wieder und Letzterer sagte halblaut: "Sieh da! Es scheint, der Oberst Ogareff und der grobe Reisende von Ichim sind ein und dieselbe Person!" Dann raunte er seinem Begleiter noch ins Ohr: "Setzen Sie ihm unsere Angelegenheit auseinander, Blount, Sie erweisen mir einen grossen Gefallen. Dieser russische Oberst in einem Tartarenlager missfaellt mir gar zu sehr, und wenn mein Kopf auch nur Dank seiner Vermittelung noch auf seinen Schultern sitzt, so wuerden sich meine Augen doch eher veraechtlich von ihm abwenden, als ihm in's Angesicht zu sehen." In Alcide Jolivet's Zuegen malte sich die vollstaendigste und hochmuethigste Gleichgiltigkeit. Empfand es Iwan Ogareff, dass diese Haltung des Gefangenen etwas Beleidigendes fuer ihn hatte? Jedenfalls liess er nichts davon bemerken. "Wer sind Sie, meine Herren? fragte er rasch mit zwar sehr kaltem, aber minder als gewoehnlich rauhem Tone. -- Zwei Correspondenten englischer und franzoesischer Journale, erwiderte Harry Blount lakonisch. -- Sie besitzen jedenfalls Papiere, ihre Identitaet nachzuweisen? -- Hier sind Schriftstuecke, welche uns in Russland bei den Kanzlern Englands und Frankreichs accreditiren." Iwan Ogareff nahm die Papiere, die ihm Harry Blount hinreichte, entgegen und las sie mit Aufmerksamkeit durch. "Sie begehren die Erlaubniss, unseren militaerischen Operationen in Sibirien zu folgen? begann er darauf. -- Wir begehren nichts als frei zu sein, entgegnete lakonisch der englische Reporter. -- Sie sind es, meine Herren, antwortete Iwan Ogareff, und ich bin sehr begierig, Ihre Berichte im Daily-Telegraph zu lesen. -- Mein Herr, versetzte Harry Blount, mit seinem nie aus dem Gleichgewicht kommenden Phlegma, die Nummer kostet sechs Pence ohne das Postporto." Dabei wendete sich Harry Blount nach seinem Begleiter zurueck, der seine Worte stillschweigend zu bestaetigen schien. Iwan Ogareff laechelte nicht, gab seinem Pferde die Sporen und verschwand an der Spitze seiner Escorte bald in einer Staubwolke. "Nun, Herr Jolivet, was meinen Sie ueber Iwan Ogareff, den Oberanfuehrer der Tartarenheere? fragte Harry Blount. -- Ich denke noch daran, lieber College, erwiderte laechelnd Alcide Jolivet, dass jener Housch-Begui eine recht huebsche Geste machte, als er den Befehl gab, uns um einen Kopf kuerzer zu machen!" Welche Empfindung Iwan Ogareff auch bei seinem Verfahren gegen die Journalisten leiten mochte, jedenfalls waren diese frei und konnten den Kriegsschauplatz nach Belieben durchwandern. Nun kam es ihnen gewiss nicht in den Sinn, die Flinte in's Korn zu werfen. Auch die Antipathie, welche sie frueher wohl gegen einander fuehlten, hatte einer innigen Freundschaft Platz gemacht. Durch die Umstaende einander genaehert, dachten sie gar nicht daran, sich zu trennen. Die leidigen Fragen einer unnuetzen Eifersucht waren fuer immer geloescht. Harry Blount konnte niemals vergessen, was er seinem Begleiter schuldete, der es jedoch vermied, ihn irgend wie daran zu erinnern; die gegenseitige Annaeherung erleichterte die Zwecke der Reportage, gewiss zum Vortheile der beiderseitigen Leser. "Und nun, begann Harry Blount, was werden wir nun mit unserer Freiheit anfangen? -- Zum Teufel, wir werden sie ausnutzen und ruhig nach Tomsk gehen, um zu sehen, was dort geschieht. -- Bis zu dem, hoffentlich nicht mehr fernen Augenblick, der es gestattet, uns einem russischen Corps anzuschliessen? - -- Ganz recht, mein lieber Blount; man darf sich nicht zu sehr tartarisiren! Die bessere Rolle spielen immer diejenigen, deren Waffen die Civilisation verbreiten, und offenbar haetten die Volksstaemme Centralasiens Alles zu verlieren und gar nichts bei diesem Einfalle der Halbwilden zu gewinnen; die Russen werden sie aber schon zu vertreiben wissen; das kann nur eine Frage der Zeit sein." Das Erscheinen Iwan Ogareff's, dem Alcide Jolivet und Harry Blount ihre Freiheit verdankten, stellte im Gegentheil aber eine grosse Gefahr fuer Michael Strogoff dar. Wenn der Zufall den Courier des Czaaren Iwan Ogareff vor Augen fuehrte, musste dieser ohne Zweifel den Reisenden wiedererkennen, den er auf dem Relais zu Ichim so brutal behandelt hatte, und wenn Michael Strogoff damals auch sich nicht, wie er es in jedem andern Falle gethan haette, gegen die ihm angethane Schmach vertheidigte, so musste er doch der Gegenstand erhoehter Aufmerksamkeit werden, - was der Erreichung seiner Ziele gewiss nicht foerderlich sein konnte. Hierin lag die bedenklichere Seite der Anwesenheit Iwan Ogareff's. Dagegen durfte es als eine glueckliche Folge seiner Ankunft betrachtet werden, dass noch an demselben Tage der Befehl zur Aufhebung des Lagers und zur Verlegung des Quartiers nach Tomsk erging. Michael Strogoff's lebhafter Wunsch ging hiermit in Erfuellung. Seine Absicht war es, wie bekannt, Tomsk inmitten der uebrigen Gefangenen zu erreichen, d. h. ohne dabei Gefahr zu laufen, Plaenklern in die Haende zu fallen, welche die Umgegend jener wichtigen Stadt in grosser Anzahl umschwaermten. In Folge der Ankunft Iwan Ogareff's aber und der Furcht, von diesem erkannt zu werden, entstand ihm doch die Frage, ob er nicht lieber auf den ersteren Vortheil verzichten und unterwegs zu entfliehen versuchen solle. Michael Strogoff haette sich wahrscheinlich noch fuer das letztere entschieden, als ihm zu Ohren kam, dass Feofar-Khan und Iwan Ogareff an der Spitze mehrerer tausend Reiter schon nach jener Stadt abgegangen seien. "Ich werde es also abwarten, sagte er sich, wenn sich nicht eine ganz ausnahmsweise guenstige Gelegenheit zur Flucht darbietet. Diesseit Tomsk ueberwiegen ja die schlechten Chancen, jenseit desselben nehmen die guten immer zu, da ich dort binnen wenig Stunden ueber die am meisten nach Osten vorgeschobenen Posten der Tartaren hinausgelangen kann. Noch drei Tage Geduld und dann stehe Gott mir bei!" In der That brauchte es nur einer Reise von drei Tagen, welche die Gefangenen unter strenger Aufsicht einer starken Abtheilung Tartaren durch die Steppe zurueckzulegen hatten. Zwischen dem Lager und der Stadt lag eine Entfernung von einhundertfuenfzig Werst. Den Soldaten des Emirs, die an nichts Mangel litten, ward dieser Weg zwar leicht genug, desto schwerer aber den ungluecklichen, durch Entbehrungen aller Art geschwaechten Gefangenen. Mehr als eine Leiche sollte ihren Zug ueber die sibirische Heerstrasse bezeichnen. Am 12. August um zwei Uhr Nachmittags, bei grosser Hitze und wolkenlosem Himmel, gab der Toptschi-Baschi Befehl zum Aufbruch. Nachdem sie sich Pferde gekauft hatten, waren Alcide Jolivet und Harry Blount schon auf dem Wege nach Tomsk, wo die Logik der Thatsachen die wichtigsten Personen dieser Geschichte voraussichtlich vereinigen musste. Unter den von Iwan Ogareff nach dem tartarischen Lager geschleppten Gefangenen befand sich auch eine bejahrte Frau, deren Schweigsamkeit sie von allen Uebrigen, welche ihr Loos theilten, auffallend unterschied. Kein Klagelaut kam ueber ihre Lippen. Man haette sie eine Bildsaeule des Schmerzes nennen koennen. Diese fast stets unbewegliche, ruhige und aufmerksamer als die Andern bewachte Frau wurde, ohne dass sie es ahnte oder sich darum zu kuemmern schien, stets von Sangarre beobachtet. Trotz ihres Alters hatte auch sie dem Gefangenentransporte zu Fusse folgen muessen, ohne dass Jemand versucht haette, ihr irgend eine Erleichterung zu gewaehren. Dagegen sendete die weise Vorsehung ein muthiges, liebenswuerdiges anderes Wesen an ihre Seite, das ganz dazu geschaffen schien, ihr Beistand zu leisten. Unter ihren Ungluecksgefaehrten befand sich ein junges, durch seine Schoenheit und Kaltbluetigkeit ausgezeichnetes Maedchen, das es sich zur Aufgabe machte, ueber sie zu wachen. Noch war zwischen den beiden Gefangenen kaum ein Wort gewechselt worden, und doch war das junge Maedchen stets zur Hand, wenn es der alten Frau nur den geringsten Dienst leisten konnte. Letztere hatte von Anfang an die stumme Sorgfalt der Unbekannten nicht ohne einiges Misstrauen gesehen. Nach und nach besiegte aber der gerade, offene Blick des Maedchens, ihre Zurueckhaltung und die geheimnissvolle Sympathie, welche die Gemeinsamkeit des Schmerzes zwischen zwei gleichmaessig Ungluecklichen so leicht hervorruft, die stolze, halb abweisende Kaelte Marfa Strogoff's. Nadia, - denn sie war es, - hatte auf diese Weise unbewusst der Mutter einen Theil der Wohlthaten zurueckzahlen koennen, die sie dem Sohne schuldete. Ihr von Natur gutes Herz hatte sie hier doppelt gut geleitet. Dadurch, dass sie Jener gern diente, erwarb sich Nadia fuer ihre Jugend und Schoenheit den Schutz der aelteren Gefangenen. Mitten in dieser Menge elender, durch ihre Leiden gereizter Leute wussten sich diese beiden schweigsamen weiblichen Wesen, deren Eine die Grossmutter, die Andere die Enkelin zu sein schien, doch immer eine Art Hochachtung zu sichern. Nadia war, nachdem sie die tartarischen Plaenkler in die Barken auf dem Irtysch geschleppt hatten, nach Omsk gebracht worden. In der Stadt gefangen gehalten, theilte sie das Loos aller derjenigen, welche die Truppen Iwan Ogareff's bis dahin eingebracht hatten, und folglich auch das Marfa Strogoff's. Ohne ihre unbeugsame Energie waere Nadia wohl dem doppelten Schlage, der sie traf, unterlegen. Die Unterbrechung ihrer Reise und der Tod Michael Strogoff's drueckten und empoerten sie zu gleicher Zeit. Vielleicht fuer immer getrennt von ihrem Vater, nach so unsaeglichen gluecklich ueberstandenen Muehen, die sie ihm genaehert hatten, und, um ihren Schmerz auf's Hoechste zu steigern, der Verlust des unerschrockenen Begleiters, den Gott selbst ihr auf den Weg gesendet zu haben schien, um sie zum Ziel zu geleiten, - Alles hatte sie mit einem Schlage verloren. Nie schwand das Bild Michael Strogoff's, der vor ihren Augen von einem Lanzenstosse getroffen in den Fluthen des Irtysch versank, aus ihren Gedanken. Musste ein solcher Mann einen so traurigen Tod finden? Fuer wen sparte Gott seine Wunder, wenn dieser Gerechte, der gewiss einem edlen Zwecke diente, so jammervoll auf seinem Wege aufgehalten werden sollte? Manchmal gewann der Zorn die Oberhand ueber ihren Schmerz. Die schmachvolle Behandlung, die ihr Begleiter auf dem Relais zu Ichim so unerwartet ruhig ueber sich ergehen liess, kam ihr wieder in den Sinn. Ihr Herzblut kochte bei dieser Erinnerung. "Wer wird wohl diesen Todten raechen, sagte sie zu sich selbst, da er es selbst nicht mehr kann?" Und dann richtete sie heimlich ihr Gebet zu Gott und rief: "Mach es, Herr, dass ich es sein darf!" Haette ihr Michael Strogoff nur noch vor seinem Tode sein Geheimniss anvertraut, wie gern haette sie, wenn auch ein Weib und noch ein halbes Kind, den Auftrag des Bruders zu erledigen versucht, eines Bruders, den Gott ihr nicht erst haette schenken sollen, wenn sie ihn so zeitig wieder verlieren sollte!... Man begreift, dass Nadia, von solchen Gedanken erfuellt, fuer die Leiden ihrer Gefangenschaft fast unempfindlich wurde. Da hatte sie der Zufall, ohne die geringste Ahnung ihrerseits, mit Marfa Strogoff zusammengefuehrt. Wie konnte sie auf den Gedanken kommen, dass diese alte Frau, ihre Mitgefangene, die Mutter ihres frueheren Begleiters sein koenne, der fuer sie ja stets der Kaufmann Nicolaus Korpanoff gewesen war. Und wie haette Marfa auf der andern Seite ahnen koennen, welches Band der Erkenntlichkeit das junge Maedchen an ihren Sohn fesselte? Was Nadia zuerst an Marfa auffiel, das war eine Art geheimer Uebereinstimmung, womit Jede von ihnen sich ihrem bedauernswerthen Loose unterwarf. Der stoische Gleichmuth der alten Frau gegenueber den Leiden und Entbehrungen ihres taeglichen Lebens, diese Verachtung aller koerperlichen Beschwerden, konnte Marfa nur aus einem geheimen Schmerze gewinnen, der dem ihrigen an Groesse gleichkam. Das waren die Gedanken Nadia's, und wir wissen, dass sie sich damit nicht taeuschte. Eine instinctive Sympathie fuer jene Schmerzen, welche Marfa Strogoff nicht zeigte, zog Nadia zuerst zu ihr hin. Diese Art und Weise, ihr Leid und Weh zu tragen, harmonirte mit der stolzen Seele des jungen Maedchens. Sie bot Jener ihre Dienste nicht erst an, sie leistete sie ihr. Marfa kam nicht dazu, diese annehmen oder abschlagen zu koennen. An beschwerlicheren Stellen des Weges war das junge Maedchen da und unterstuetzte sie mit ihren Armen. Wenn Nahrungsmittel ausgetheilt wurden, haette die alte Frau wohl nie etwas geholt, aber Nadia theilte mit ihr die eigenen kaerglichen Mahlzeiten, so dass sie Beide den qualvollen Zug durch das Land auf gleiche Weise zuruecklegten. Dank ihrer jungen Begleiterin vermochte Marfa Strogoff den Soldaten, welche den Gefangenentransport leiteten, zu folgen, ohne an einen Sattelknopf gefesselt zu werden, wie manche andere Unglueckliche, welche so auf ihrem Schmerzenswege dahin geschleppt wurden. "Gott lohne es Dir, meine Tochter, was Du fuer meine alten Tage gethan hast!" sagte einmal Marfa Strogoff, das einzige Wort, das waehrend einer langen Zeit zwischen den beiden armen Wesen gewechselt worden war. Man haette meinen sollen, dass die aeltere Frau und das junge Maedchen im Verlaufe mehrerer Tage, die ihnen wie Jahrhunderte erschienen, sich einmal ueber ihre Verhaeltnisse ausgesprochen haetten. Marfa Strogoff hatte aber aus leicht begreiflichen Gruenden, und auch das nur moeglichst kurz, von sich allein gesprochen. Sie hatte nie ihres Sohnes oder des traurigen Augenblicks erwaehnt, der sie mit ihm zusammenfuehrte. Ebenso verhielt sich Nadia lange Zeit fast stumm, vermied wenigstens jedes unnuetze Wort. Erst als sie eines Tages immer deutlicher fuehlte, dass sie eine hohe, edle Seele in ihrer Begleiterin vor sich hatte, ging ihr das Herz ueber und sie erzaehlte, ohne etwas zu verheimlichen, Alles, was ihr seit der Abreise von Wladimir bis zum Tode Nicolaus Korpanoff's begegnet war. Was sie von ihrer jungen Begleiterin hoerte, erregte die lebhafteste Theilnahme der alten Sibirerin. "Nicolaus Korpanoff, sagte sie, erzaehle mir noch mehr von diesem Nicolaus! Ich kenne nur einen Mann, nur einen einzigen unter der jetzigen Jugend, von dem mich ein solches Benehmen nicht Wunder genommen haette! Nicolaus Korpanoff? War das auch sein Name? Bist Du dessen sicher, meine Tochter? -- Warum sollte er mich hierin getaeuscht haben, erwiderte Nadia, da er in allen andern Dingen die Wahrheit sprach?" Dennoch trieb ein ungewisses Gefuehl Marfa Strogoff, an Nadia immer weitere Fragen zu stellen. "Du sagst mir er sei unerschrocken gewesen, meine Tochter; Du hast mir versichert, dass er es war, sagte sie. -- Gewiss, unerschrocken, bestaetigte Nadia. -- So waere mein Sohn auch gewesen", murmelte Marfa Strogoff halb fuer sich. Dann fuhr sie fort: "Du sagst mir auch, dass Nichts ihn aufhalten konnte, dass Nichts ihn erschreckte, dass er so mild war, bei aller Kraft, dass Du in ihm ebenso gut eine Schwester, wie einen Bruder hattest, dass er ueber Dich wachte, wie eine Mutter? -- Ja, ja, erwiderte Nadia, Bruder, Schwester, Mutter, o, er war mir Alles! -- Und auch ein Loewe, Dich zu vertheidigen? -- Wahrhaftig, ein Loewe! antwortete Nadia; ja ein Loewe, ein Held! -- Mein Sohn, mein Sohn! dachte die alte Sibirierin. Du sagst auch, dass er im Posthofe zu Ichim sich eine so unwuerdige Behandlung gefallen liess? -- Ja, er ertrug sie, meinte Nadia und senkte das Haupt. -- Er hat sie ertragen? murmelte zitternd Marfa Strogoff. -- Mutter, Mutter! rief Nadia, verdammt ihn nicht! Er trug ein Geheimniss mit sich, worueber heut nur Gott noch Richter sein kann. -- Und damals, fuhr Marfa Strogoff fort, den Kopf wieder aufrichtend und Nadia scharf ansehend, als wolle sie im tiefsten Grund ihrer Seele lesen, in jener Stunde der Erniedrigung, hast Du damals jenen Nicolaus Korpanoff verachtet? -- Ich habe ihn bewundert, ohne ihn zu verstehen! erwiderte das junge Maedchen. Ich habe niemals mehr Hochachtung fuer ihn gefuehlt." Die alte Frau schwieg einen Augenblick. "Er war gross? fragte sie hierauf. -- Sehr gross. -- Und sehr schoen, nicht wahr? Sprich nur meine Tochter. -- Er war sehr schoen, antwortete Nadia leicht erroethend. -- Das war mein Sohn! Ich sage Dir, das ist mein Sohn gewesen! rief die alte Frau ueberwaeltigt und schloss Nadia in ihre Arme. -- Dein Sohn? versetzte Nadia ganz erstaunt, Dein Sohn! -- Weiter, draengte Marfa, komme zum Ende, mein Kind. Dein Begleiter, Dein Freund, Dein Beschuetzer, er hatte doch eine Mutter. Hat er Dir niemals von seiner Mutter gesprochen? -- Von seiner Mutter? Er hat mir von seiner Mutter gesprochen, wie ich ihm von meinem Vater. O, er betete sie an, diese Mutter! -- Nadia, Nadia! Du hast mir die Geschichte meines eigenen Sohnes erzaehlt", schluchzte die alte Frau. Dann fuegte sie ruhiger hinzu: "Schien es denn gar nicht in seiner Absicht zu liegen, diese Mutter, welche er, wie Du sagst, so sehr liebte, bei seiner Durchreise in Omsk einmal zu sehen? -- Nein, erwiderte Nadia, das wollte er nicht. -- Wie, rief Marfa, Du wagst mir Nein zu sagen? -- Ja gewiss, aber ich muss wohl noch hinzufuegen, dass Nicolaus Korpanoff aus Gruenden, die ihm ueber Alles gingen und die ich auch selbst nicht kenne, gezwungen schien, das Land moeglichst unerkannt zu durchziehen. Es war fuer ihn eine Frage auf Tod und Leben, und noch mehr, eine Frage der Ehre und Gewissenspflicht. -- Eine Frage der Pflicht, der gebieterischen Pflicht, meinte die alte Sibirierin, einer solchen Pflicht, der man Alles aufopfert, fuer deren Erfuellung man alles Andere aufgiebt, sogar die Freude, sich einen Kuss, ach vielleicht den letzten, von seiner alten Mutter zu holen! Ich weiss jetzt Alles, Nadia, was Dir und mir bis zu dieser Stunde unbekannt blieb. Du hast es mir klar gemacht. Dennoch darf ich Dir das Licht, das Du mir angezuendet hast, nicht auch leuchten lassen. Da mein Sohn Dir sein Geheimniss nicht mittheilte, so muss auch ich es ihm bewahren. Verzeihe mir, Nadia, ich kann die Wohlthat, die Du mir erwiesen, nicht ebenso vergelten. -- Ich verlange keine Belohnung, Mutter", antwortete Nadia. Der alten Sibirerin war nun Alles klar geworden. Alles, bis auf das unerklaerliche Benehmen ihres Sohnes bei ihrem Anblick in dem Gasthause zu Omsk, in Gegenwart der Zeugen ihres Zusammentreffens. Sie zweifelte keinen Augenblick mehr, dass der Begleiter des jungen Maedchens Michael Strogoff gewesen sei, dass eine geheime Mission, eine wichtige Depesche, die er durch das ueberfallene Gebiet zu besorgen hatte, ihn zwang, seine Eigenschaft als Courier des Czaaren zu verheimlichen. "O mein braves Kind! dachte Marfa Strogoff; nein, ich werde dich nicht verrathen und keine Tortur soll mir das Gestaendniss ablocken, dass Du es wirklich warst, den ich in Omsk gesehen habe!" Marfa Strogoff haette Nadia mit einem Worte fuer ihre erwiesene Ergebenheit belohnen koennen. Sie konnte ihr mittheilen, dass ihr Begleiter Nicolaus Korpanoff, oder vielmehr Michael Strogoff, nicht in den Wellen des Irtysch umgekommen sei, da sie selbst ihn mehrere Tage nachher gesehen und selbst gesprochen hatte!... Sie hielt aber an sich; sie schwieg und begnuegte sich zu sagen: "Gieb die Hoffnung nicht auf, mein Kind! Das Unglueck kann Dich nicht fuer immer verfolgen. Du wirst Deinen Vater wiedersehen, ich fuehle es, und vielleicht ist auch der, der Dich Schwester nannte, noch nicht todt! Gott kann es nicht gestatten, dass Dein edler Gefaehrte umgekommen sei!... Hoffe noch immer, meine Tochter! Mach' es wie ich! Die Trauerkleidung, welche ich trage, gilt meinem Sohne noch nicht!" Drittes Capitel. Schlag fuer Schlag. In dieser Weise gestaltete sich also das Verhaeltniss Marfa Strogoff's und Nadia's zu einander. Die alte Sibirerin hatte Alles durchschaut, und wenn dem jungen Maedchen auch nicht bekannt war, dass ihr so aufrichtig betrauerter Begleiter noch lebte, so wusste sie doch, was seiner kindlich verehrten Mutter geschah, und sie dankte Gott dafuer, dass er ihr die Freude gewaehrte, der Gefangenen den verlorenen Sohn einigermassen zu ersetzen. Weder die Eine noch die Andere konnten aber wissen, dass der bei Kolyvan gefangene Michael Strogoff sich in demselben Zuge befinde und gleichzeitig mit ihnen nach Tomsk transportirt werde. Die von Iwan Ogareff weiter zugefuehrten Gefangenen wurden mit denen, welche der Emir schon in dem tartarischen Lager bewachen liess, vereinigt. Nach Tausenden zaehlten diese Ungluecklichen, Russen oder Sibirier, Militaers oder Civilpersonen, und bildeten einen Zug von mehreren Werst Laenge. Diejenigen derselben, welche man fuer die gefaehrlichsten hielt, waren mittels Handschellen an eine lange Kette geschlossen. Frauen und Kinder band oder haengte man an die Sattelknoepfe, um sie ohne Erbarmen auf der Strasse hinzuschleppen. Man trieb sie wie eine Heerde Vieh vor sich her. Die begleitenden Reiter sahen auf die Einhaltung einer gewissen Ordnung, so dass es hier keine Nachzuegler gab, ausser denjenigen, welche zusammen brachen, um nicht wieder aufzustehen. In Folge dieser Ordnung kam es, dass Michael Strogoff, der sich in den ersten Reihen befand, die das Feldlager verliessen, d. h. unter den Gefangenen von Kolyvan, nicht unter die zuletzt aus Omsk angelangten Gefangenen gemischt wurde. Er konnte also die Anwesenheit seiner Mutter und Nadia's in demselben Gefangenenzuge ebenso wenig ahnen, wie diese die seinige. Dieser Zug vom Lager bis nach Tomsk, unter der Knute der Soldaten und solch' traurigen Verhaeltnissen, wurde fuer nicht Wenige toedtlich, fuer Alle furchtbar. Man marschirte quer durch die Steppe, auf einer Strasse, die durch den mit seiner Avantgarde vorausziehenden Emir nur noch staubiger geworden war. Dazu war Befehl gegeben, moeglichst schnell nachzuruecken, so dass nur selten und dann nur kurze Zeit Halt gemacht wurde. Diese 150 Werst unter brennender Sonne zurueckzulegen schien, trotz der Schnelligkeit der Bewegung, ein endloser Weg zu sein! Es ist eine ganz unfruchtbare Gegend, die sich dort vom rechten Ufer des Obi bis zum Fusse der Vorberge erstreckt, welche zu dem von Norden nach Sueden verlaufenden Sayanskgebirge gehoeren. Kaum unterbrechen einige magere, halb verbrannte Gebuesche die Einfoermigkeit dieser grenzenlosen Ebene. Von Bodencultur ist bei dem Wassermangel hier keine Rede, und auch den von dem anstrengenden Marsche erschoepften Gefangenen fehlte es vor allen Dingen an dem erquickenden Wasser. Um einen Fluss anzutreffen, haette man sich etwa fuenfzig Werst weiter nach Osten begeben muessen, bis zu dem Fusse jenes Landrueckens, der die Wasserscheide zwischen dem Obi und Jenisei darstellt. Dort laeuft der Tom, ein kleiner Nebenfluss des Obi, der auch die Stadt Tomsk durchfliesst, bevor er sich in einer der grossen Wasseradern des Nordens verliert. Dort waere Wasser in Ueberfluss, die Steppe minder duerr, die Hitze nicht so drueckend gewesen. Die Fuehrer des Zuges hatten aber die gemessensten Befehle erhalten, auf dem kuerzesten Wege nach Tomsk zu marschiren, denn der Emir musste jede Stunde fuerchten, in der Flanke gefasst und von einer aus den noerdlichen Provinzen herab dringenden russischen Colonne abgeschnitten zu werden. Die grosse sibirische Heerstrasse beruehrte nun aber die Ufer des Tom nicht, wenigstens nicht mit dem Tracte zwischen Kolyvan und dem naechsten kleinen, Zabediero genannten Flecken, - und von der Strasse durfte nicht abgewichen werden. Wir wollen uns nicht unnuetzer Weise bei den Leiden so vieler ungluecklicher Gefangener aufhalten. Mehrere Hundert fielen auf der Steppe, wo ihre Leichen einfach liegen blieben, bis die vom Winter wieder hierher getriebenen hungrigen Woelfe den Rest ihrer Gebeine verzehrten. So wie Nadia jeden Augenblick bei der Hand war, der alten Sibirerin helfend beizuspringen, so erwies auch Michael Strogoff, da er sich frei bewegen konnte, seinen schwaechlicheren Leidensgefaehrten alle unter diesen Verhaeltnissen moeglichen Dienste. Er sprach den Einen Muth zu, unterstuetzte die Andern, schonte sich selbst nach keiner Seite, ging ab und zu, bis ihn die Lanze eines Reiters zwang, den ihm in seiner Reihe angewiesenen Platz wieder einzunehmen. Weshalb versuchte er nicht zu fliehen? - Weil jetzt sein Entschluss fest stand, sich nicht eher in die Steppe hinaus zu wagen, als bis sie ihm die nothwendige Sicherheit boete. Er hatte sich nun einmal vorgenommen, "auf Unkosten des Emirs" bis Tomsk zu gelangen, und waehlte hiermit wohl auch den besten Theil. Wenn er die zahlreichen kleinen Abtheilungen beruecksichtigte, welche die Ebene auf beiden Seiten des Zuges, bald im Sueden und bald im Norden umschwaermten, so musste er zu der Ueberzeugung gelangen, dass er gewiss kaum zwei Werst vorwaerts gekommen waere, ohne von diesen wieder aufgegriffen zu werden. Ueberall schwaermten die Tartarenreiter umher und schienen manchmal aus der Erde hervor zu kommen, wie die laestigen Insecten, welche nach einem Platzregen den Boden bedecken. Uebrigens erschien ein Fluchtversuch unter den obwaltenden Verhaeltnissen sehr schwer, wenn nicht ganz unausfuehrbar. Die escortirenden Soldaten wachten mit aeusserster Strenge, denn fuer eine erwiesene Nachlaessigkeit stand ihr eigener Kopf auf dem Spiele. Am 15. August erreichte der Zug mit sinkendem Tage endlich den kleinen Flecken Zabediero, etwa dreissig Werst von Tomsk. Hier vereinigte sich die Strasse mit dem Laufe des Tom. Gern waeren die Gefangenen zuerst nach dem Wasser des Flusses geeilt, ihre Waechter gestatteten ihnen aber nicht eher aus den Reihen zu treten, als bis ein provisorisches Lager eingerichtet war. Trotz der zu jener Zeit gerade ueberaus heftigen Stroemung des Tom haette der Fluss doch die Flucht einiger Wagehaelse oder Halbverzweifelter beguenstigen koennen, weshalb die sorgsamsten Vorsichtsmassregeln getroffen wurden. Auf den Fluss verlegte man eine Reihe aus Zabediero requirirter Boote, die eine Kette unmoeglich zu durchbrechender Hindernisse bildeten. Die Aussenlinie der an die ersten Haeuser des Staedtchens gelehnten Lagerstaette umschloss dagegen ein lueckenlos dichter Cordon von Feldwachen. Wenn Michael Strogoff auch einen Augenblick daran denken mochte, sich von hier aus in die Steppe zu fluechten, so sah er doch, nachdem er sich ueber die Sachlage unterrichtet, leicht ein, dass unter diesen Verhaeltnissen jeder Fluchtversuch unmoeglich sei, und beschloss, sich in Geduld zu fassen, um nicht Alles auf's Spiel zu setzen. Die Gefangenen lagerten die ganze Nacht ueber an den Ufern des Tom. Der Emir hatte den Befehl erlassen, seine Truppen am folgenden Tage nach Tomsk hinein zu fuehren. Dort sollte die Verlegung des Hauptquartiers nach jener wichtigen Stadt durch ein grosses militaerisches Fest gefeiert werden. Feofar-Khan residirte schon in dem Fort derselben, waehrend das Gros der Armee vor den Mauern bivouakirte, um vereint mit der nachfolgenden Abtheilung einen imposanten Einzug zu halten. Iwan Ogareff hatte den Emir in Tomsk gelassen, woselbst Beide am Tage vorher eingetroffen waren, und war nach dem Lager von Zabediero zurueck gekehrt. Von dort wollte er am folgenden Tage mit der Arrieregarde des tartarischen Heeres aufbrechen. Zu seinem Nachtquartier fand er daselbst ein eigenes Haus vorgerichtet. Mit Sonnenaufgang setzte sich die Infanterie und Cavallerie der Truppe unter seinem Befehle nach Tomsk in Bewegung, wo der Emir Alle mit dem bei den asiatischen Souveraenen gebraeuchlichen Pompe empfangen wollte. Nach Organisirung des Lagers durften die von den drei Marschtagen auf's Aeusserste erschoepften Gefangenen endlich ihren quaelenden Durst loeschen und einige Ruhe geniessen. Schon war die Sonne untergegangen und der Horizont nur noch durch ein schwaches Daemmerlicht erhellt, als Nadia, am Arme Marfa Strogoff, am Ufer des Tom anlangten. Beide hatten vorher die dichten Massen der Verschmachteten, welche das Flussufer umdraengten, nicht zu durchbrechen vermocht und kamen jetzt erst dazu, sich einen erfrischenden Trank zu erobern. Die alte Sibirerin beugte sich erschoepft ueber das Wasser; Nadia schoepfte daraus mit ihrer Hand und fuehrte diese an Marfa's Lippen. Dann erst erquickte sie sich auch selbst. Die bejahrte Frau und das junge Maedchen tranken ein neues Leben aus den wohlthaetigen Fluthen. Da wandte sich Nadia, eben als sie das Ufer wieder verlassen wollten, ploetzlich um. Ein unwillkuerlicher Aufschrei entrang sich ihren Lippen. Michael Strogoff war da, nur wenige Schritte von ihr! Ja, er war es! Das letzte Tageslicht fiel auf ihn. Michael Strogoff erzitterte wohl bei jenem Schrei ... Er gewann aber genug Herrschaft ueber sich, um nicht ein Wort hoeren zu lassen, das ihn haette compromittiren koennen. Gleichzeitig mit Nadia hatte er auch seine Mutter erkannt!... Tiefbewegt von diesem unerwarteten Zusammentreffen drueckte Michael Strogoff, um seiner Herr zu bleiben, die Hand vor die Augen und entfernte sich. Nadia wollte instinctiv auf ihn zueilen, die alte Sibirerin aber hielt sie zurueck und raunte ihr in's Ohr: "Bleib' hier, meine Tochter! -- Er ist es! entgegnete Nadia mit vor Erregung unterdrueckter Stimme. Er lebt, Mutter! Er ist es! -- Ja, es ist mein Sohn, bestaetigte Marfa Strogoff, das ist Michael Strogoff, und Du siehst, dass ich keinen Schritt zu ihm hin thue. Folge mir darin, meine Tochter!" Michael Strogoff war eine Beute der tief innerlichsten Bewegung, die wohl je ein Mann empfinden kann. Er wusste seine Mutter und Nadia hier. Diese beiden Gefangenen, welche vereint in seinem Herzen wohnten, hatte der Himmel zu gemeinschaftlichem Unglueck zusammen gefuehrt. Wusste Nadia nun, wer er war? Nein, denn er hatte Marfa Strogoff's Handbewegung bemerkt, mit der sie jene zurueckhielt, als sie auf ihn zueilen wollte. Marfa Strogoff hatte Alles durchschaut und sein Geheimniss bewahrt. Zwanzigmal waehrend dieser Nacht stand Michael Strogoff auf dem Punkte, seine Mutter aufzusuchen, aber er sah immer wieder ein, dass er dem herzinnigen Wunsche widerstehen muesse, sie in seine Arme zu pressen und die Hand seiner jungen Gefaehrtin zu druecken. Die geringste Unklugheit konnte ihn ja verderben! Er hatte zudem geschworen, seine Mutter nicht zu sehen, und freiwillig wenigstens sollte es nicht geschehen. Einmal in Tomsk angekommen, wollte er, da es in dieser Nacht unmoeglich war, hinausfluechten in die Steppe, ohne die beiden einzigen Wesen zu umarmen, an denen sein ganzes Leben hing und die er so vielen Gefahren ausgesetzt zurueck liess. Michael Strogoff durfte also hoffen, dass dieses neue Zusammentreffen im Lager zu Zabediero weder fuer seine Mutter noch fuer ihn nachtheilige Folgen haben werde. Er wusste aber nicht, dass gewisse Einzelheiten dieser Scene, trotz ihres schnellen Verlaufes, von Sangarre, der Spionin Iwan Ogareff's, beobachtet wurden. Auch die Zigeunerin befand sich naemlich am Ufer, wo sie wie immer die alte Sibirerin ohne deren Wissen argwoehnisch ueberwachte. Michael Strogoff, welcher schon verschwunden war, als sie sich umsah, konnte sie damals zwar nicht gewahr werden, die hastige Bewegung seiner Mutter aber, als sie Nadia zurueck hielt, entging ihr nicht, und ein Aufleuchten in den Augen Marfa's sagte ihr Alles. Es stand ihr nun ausser Zweifel, dass der Sohn Marfa Strogoff's, der Courier des Czaaren, sich in dieser Stunde in Zabediero, unter den Gefangenen Iwan Ogareff's befinden muesse. Sangarre kannte ihn nicht, aber sie wusste, dass er da war! Sie suchte ihn vorlaeufig also auch nicht zu entdecken, was bei der Dunkelheit und mitten in dieser zahlreichen Menschenmenge ohnehin unmoeglich schien. Auch eine weitere Beobachtung Nadia's und Marfa Strogoff's hielt sie fuer nutzlos. Offenbar wuerden die beiden Frauen aeusserst vorsichtig sein und Alles strengstens vermeiden, was den Courier des Czaaren nur irgend compromittiren koennte. Die Zigeunerin bewegte nur ein Gedanke, der, Iwan Ogareff Bericht zu erstatten. Sie verliess also sofort das Lager. Nach Verlauf einer Viertelstunde gelangte sie nach Zabediero und wurde in das von dem Oberbefehlshaber des Emirs bewohnte Haus eingelassen. Sofort empfing Iwan Ogareff die Zigeunerin. "Was willst Du von mir, Sangarre? fragte er. -- Der Sohn Marfa Strogoff's befindet sich im Lager, antwortete das Weib. -- Als Gefangener? -- Als Gefangener! -- O, rief Iwan Ogareff, so werde ich wissen ... -- Du wirst Nichts wissen, Iwan, fiel ihm die Zigeunerin in's Wort, denn Du kennst ihn ja nicht. -- Aber Du kennst ihn, Du! Du hast ihn gesehen, Sangarre! -- Nein, noch sah ich ihn nicht, aber seine Mutter verrieth sich durch eine Bewegung, die mir Alles erklaerte. -- Taeuschest Du Dich nicht? -- Ich taeusche mich nicht. -- Du weisst, welches Gewicht ich auf die Einbringung dieses Couriers lege, sagte Iwan Ogareff. Wird das ihm in Moskau jedenfalls uebergebene Cabinetsschreiben dem Grossfuersten ausgehaendigt, so wird dieser auf seiner Hut sein und ich werde mich ihm nicht zu naehern vermoegen. Jenen Brief muss ich also um jeden Preis erlangen. Nun kommst Du mit der Meldung, der Ueberbringer jener kaiserlichen Botschaft befinde sich schon in meiner Gewalt. Ich frage Dich also noch einmal, Sangarre, taeuschte Dich Deine Beobachtung nicht?" Iwan Ogareff hatte sehr lebhaft gesprochen. Seine Erregung bewies, welchen Werth er auf den Besitz jenes Briefes legte. Sangarre wurde von der bestimmten Wiederholung jener Frage keineswegs betroffen oder wankend in ihrer Ueberzeugung. "Ich taeusche mich nicht, Iwan, antwortete sie mit Nachdruck. -- Im Lager befinden sich aber mehrere Tausend Gefangene, und Du sagtest, dass Dir Michael Strogoff von Person nicht bekannt sei. -- Nein, versetzte Sangarre, in deren Augen eine wilde Freude aufblitzte, ich, ich kenne ihn nicht, aber seine Mutter kennt ihn doch. Nun, Iwan, man wird seine Mutter zum Sprechen zwingen muessen. -- Morgen soll das geschehen!" erwiderte Iwan Ogareff. Dann streckte er der Zigeunerin seine Hand hin und diese kuesste sie, ohne dass diese bei den Voelkerschaften des Nordens so gebraeuchliche Achtungsbezeugung den Anschein der dienerhaften Unterwuerfigkeit zeigte. Sangarre kehrte nach dem Lager zurueck. Sie spuerte bald die Stelle aus, an der sich Nadia und Marfa Strogoff befanden, und liess diese nun die ganze Nacht ueber nicht aus den Augen. Die bejahrte Frau und das junge Maedchen schliefen nicht, trotzdem dass die Erschoepfung sie fast uebermannte. Eine fieberhafte Unruhe hielt sie munter. Michael Strogoff war am Leben, aber Gefangener gleich ihnen. Wusste das Iwan Ogareff, und wenn nicht, wuerde er es noch erfahren? Nadia beschaeftigte sich nur mit dem einen Gedanken, dass ihr todt geglaubter Gefaehrte noch lebe. Marfa Strogoff's Blick reichte weiter in die Zukunft, und wenn sie auch um sich selbst nicht besorgt war, so hatte sie doch Grund genug, fuer ihren Sohn das Schlimmste zu befuerchten. Sangarre schlich sich im Dunkeln bis dicht an die beiden Frauen heran und verweilte so einige Stunden lang gespannt lauschend ... Vergeblich. Wie durch ein geheimes Gebot der Klugheit vermieden es Marfa Strogoff und Nadia, ueberhaupt ein Wort zu wechseln. Am folgenden Tage, dem 16. August, Morgens gegen zehn Uhr, schmetterten helle Fanfaren am Rande des Lagers. Die tartarischen Soldaten traten augenblicklich unter die Waffen. Aus Zabediero kam Iwan Ogareff, umgeben von einem zahlreichen Stabe tartarischer Officiere herangeritten. Sein Antlitz erschien noch finsterer, als gewoehnlich, und die strengen Zuege verriethen einen verhaltenen Zorn, der nur auf eine Gelegenheit zum Ausbruch harrte. Unter einer Gruppe Gefangener verloren sah Michael Strogoff seinen Feind vorueber kommen. Er hatte das unbestimmte Vorgefuehl, dass jetzt eine Katastrophe nahe sei, denn Iwan Ogareff wusste, dass Marfa Strogoff die Mutter Michael Strogoff's, des Officiers im Corps der Czaarencouriere, sei. Als Iwan Ogareff in der Mitte des Lagers anlangte, stieg er vom Pferde, und die Officiere seiner Escorte bildeten einen weiten Kreis rings um ihn. Da naeherte sich Sangarre wieder und sagte: "Ich habe Dir nichts Neues zu melden, Iwan!" Iwan Ogareff antwortete nur durch Ertheilung eines Befehles an einen der Officiere. Bald darauf draengten sich viele Soldaten mit roher Gewalt in die Reihen der Gefangenen. Von Peitschenschlaegen getrieben oder von Lanzenschaeften gestossen, mussten die Armen sich eiligst erheben und an der Umfassung des Lagers Stellung nehmen. Ein vierfacher Cordon von Fusssoldaten, und hinter diesen von Reitern, machte jedes Entweichen unmoeglich. Bald herrschte Schweigen ringsum, und auf ein Zeichen Iwan Ogareff's begab sich Sangarre nach der Gruppe, in deren Mitte Marfa Strogoff sich befand. Die alte Sibirerin sah sie herankommen. Sie errieth, was geschehen solle. Ein veraechtliches Laecheln spielte um ihre Lippen. Dann neigte sie sich zu Nadia und sagte zu ihr mit gedaempfter Stimme: "Du kennst mich nicht mehr, meine Tochter! Was auch kommen und wie hart diese Pruefung werden moege, - kein Wort! keine Bewegung! Es handelt sich hier um ihn, nicht um mich!" Da legte, nachdem sie sie einen Augenblick angesehen, Sangarre die Hand auf die Schulter der alten Sibirerin. "Was begehrst Du? fragte Marfa Strogoff. -- Komm' mit mir!" erwiderte Sangarre. Fortdraengend fuehrte sie Jene in die Mitte des freien Raumes vor Iwan Ogareff. Michael Strogoff hielt die Lider halb geschlossen, um sich nicht durch das Aufflammen seiner Augen zu verrathen. Vor Iwan Ogareff angelangt, richtete Marfa Strogoff sich hoch und stolz empor, kreuzte die Arme und wartete. "Du bist ja wohl Marfa Strogoff? fragte sie Iwan Ogareff. -- Die bin ich, antwortete ruhig die alte Sibirerin. -- Erinnerst Du Dich noch Deiner Antwort, als ich Dich vor drei Tagen in Omsk um Etwas fragte? -- Nein. -- Du weisst also nicht, dass Dein Sohn als Courier des Czaaren durch Omsk gekommen ist? -- Das weiss ich nicht. -- Und jener Mann, den Du im Posthofe als Deinen Sohn zu erkennen glaubtest, das war Dein Sohn nicht? -- Nein, das war er nicht. -- Und seitdem ist er Dir auch hier unter den Gefangenen nicht zu Gesicht gekommen? -- Nein. -- Und wenn ich Dir ihn zeigte, wuerdest Du ihn wieder erkennen? -- Nein." Bei dieser Antwort, dem Beweise des unerschuetterlichen Entschlusses, nichts zu gestehen, durchlief ein leises Murmeln die Umgebung. Iwan Ogareff konnte sich einer drohenden Bewegung nicht enthalten. "So hoere: Dein Sohn ist hier und Du wirst ihn mir sofort bezeichnen. -- Nein! -- Alle die bei Omsk und Kolyvan gefangenen Maenner werden Dir vorgefuehrt werden, und wenn Du dann Michael Strogoff nicht bezeichnest, erwarten Dich ebenso viele Knutenhiebe, als Gefangene vorueber gekommen sind." Iwan Ogareff hatte wohl eingesehen, dass er die unbeugsame Sibirerin trotz aller Drohungen und Torturen nicht werde zum Reden bringen koennen. Um den Courier des Czaaren zu entdecken, rechnete er viel weniger auf jene, als auf Michael Strogoff selbst. Er hielt es fuer unmoeglich, dass Mutter und Sohn, wenn sie einander gegenueber staenden, sich nicht durch irgend eine Bewegung verrathen sollten. Waere es ihm nur allein um das kaiserliche Schreiben zu thun gewesen, so brauchte er ja nur einfach einen Befehl zur Durchsuchung aller Gefangenen zu erlassen. Michael Strogoff konnte das Schriftstueck aber auch vernichtet haben, nachdem er seinen Inhalt durchlas; wurde er dann nicht erkannt und gelang es ihm vielleicht noch, nach Irkutsk zu fluechten, so waren Iwan Ogareff's Plaene durchkreuzt. Der Verraether musste sich also nicht nur des Briefes, sondern auch des Ueberbringers desselben versichern. Nadia hatte Alles mit angehoert; sie wusste nun, wer Michael Strogoff sei und warum er die von den Feinden ueberfallenen Provinzen Sibiriens unerkannt durchreisen wollte. Auf Iwan Ogareff's Befehl defilirten die Gefangenen Mann fuer Mann vor Marfa Strogoff, welche unbeweglich blieb, wie eine Bildsaeule, und deren Blicke die vollstaendigste Gleichgiltigkeit heuchelten. Ihr Sohn befand sich unter den Letzten, welche herzutraten. Als er vor seiner Mutter vorueber schritt, schloss Nadia die Augen, um es nicht mit anzusehen. Auch Michael Strogoff war scheinbar ruhig geblieben, aber seine hohle Hand blutete, so fest hatten sich die Naegel eingepresst. Iwan Ogareff war vorlaeufig besiegt durch die Mutter und den Sohn! Sangarre, welche neben ihm stand, aeusserte nur ein Wort. "Die Knute herbei! sagte sie. -- Ja! rief Iwan Ogareff, der sich nicht mehr bemeistern konnte, die Knute dieser alten Schurkin, bis sie den Geist aufgiebt!" Mit dem schrecklichen Zuchtinstrument in der Hand naeherte sich ein tartarischer Soldat der Marfa Strogoff. Die Knute besteht aus einer gewissen Anzahl Lederriemen, deren Enden in geflochtene Drahtstuecken auslaufen. Man nimmt an, dass eine Verurtheilung zu hundertzwanzig Knutenstreichen einem Todesurtheil gleich zu achten ist. Marfa Strogoff wusste das wohl, aber sie wusste auch, dass keine Tortur sie zum Sprechen zwingen werde, und ihr Leben wollte sie gern zum Opfer bringen. Marfa Strogoff ward von zwei Soldaten ergriffen und auf die Knie zu Boden geworfen. Man riss ihr das Kleid herunter und entbloesste den Ruecken. Nur wenige Zoll vor ihrer Brust wurde ein Saebel befestigt, so dass sie in dessen Spitze fallen musste, wenn der Schmerz sie niederbeugte. Der Tartar stand bereit. Er wartete eines Zeichens. "Thu' Deine Pflicht!" sagte Iwan Ogareff. Die Geissel pfiff durch die Luft ... Aber bevor sie niederfiel hatte eine kraeftige Faust sie der Hand des Tartaren entrissen. Michael Strogoff war am Platze, ihn hielt es nicht bei dieser entsetzlichen Scene. Wenn er sich auf dem Relais zu Ichim bezwungen hatte, als die Peitsche Iwan Ogareff's ihn selbst traf, hier, wo sie seiner Mutter zugedacht war, konnte er sich nicht bemeistern. Iwan Ogareff hatte gesiegt. "Michael Strogoff!" rief er. Dann trat er naeher. "Ah, sagte er hoehnisch, der Mann von Ichim? -- Derselbe!" schrie Michael Strogoff. Und schnell erhob er die Knute und schlug Iwan Ogareff wuethend mehrmals in's Gesicht. "Schlag fuer Schlag! rief er. -- Brav zurueckerstattet!" liess sich die Stimme eines Zuschauers vernehmen, die sich gluecklicher Weise in dem allgemeinen Tumulte verlor. Ein Haufe Soldaten stuerzte sich auf Michael Strogoff, um ihn umzubringen ... Doch Iwan Ogareff, dem ein Schrei des Schmerzes und der Wuth entfuhr, hielt sie durch eine Handbewegung zurueck. "Dieser Mann bleibe der Justiz des Emirs aufgespart, sagte er. Man durchsuche ihn!" Das Schreiben mit dem kaiserlichen Siegel ward auf der Brust Michael Strogoff's gefunden, da dieser nicht Zeit gewonnen hatte, es zu vernichten. Man reichte es Iwan Ogareff. Der Zuschauer, von dem der Ausruf: "Brav zurueckerstattet!" herruehrte, war kein Anderer, als Alcide Jolivet. Sein Gefaehrte und er wohnten, da sie sich noch in Zabediero aufhielten, dieser Scene bei. "Alle Teufel! sagte er zu Harry Blount, diese Leute aus dem Norden sind doch handfeste Maenner. Sie geben doch zu, dass wir unsrem Reisegefaehrten nun eine Ehrenerklaerung schulden. Korpanoff und Strogoff halten sich die Wage! Eine schoene Revanche fuer die Schmach in Ichim! -- Gewiss, eine gerechte Vergeltung, erwiderte Harry Blount, aber dieser Strogoff ist nun ein Mann des Todes. In seinem Interesse haette er wohl besser gethan, die Sache jetzt noch ruhen zu lassen. -- Um seine Mutter unter der Knute verenden zu sehen! -- Glauben Sie, dass er dieser und seiner Schwester durch seinen Zornesausbruch ein besseres Loos gesichert hat? -- Ich glaube gar nichts, erwiderte Alcide Jolivet, ich weiss auch nichts, als dass ich an seiner Stelle schwerlich anders gehandelt haette. O, zum Teufel, manchmal muss man wohl aufwallen im gerechten Zorn. Gott haette Wasser in unsere Adern gegossen und kein Blut, wenn er wollte, dass wir stets und allezeit unerregt blieben. -- Ein huebsches Thema fuer eine Erzaehlung! meinte Harry Blount. Nun sollte uns Iwan Ogareff nur den Inhalt jenes Briefes mittheilen!..." Nachdem er sich das Blut, das ihm ueber das Antlitz rann, abgewischt, hatte Iwan Ogareff das Siegel gebrochen. Er las den Brief lange und aufmerksam durch, so als wollte er seinem Gedaechtniss jedes Wort des Inhaltes einpraegen. Endlich gab er noch Befehl, Michael Strogoff sorgsam zu fesseln und mit den uebrigen Gefangenen nach Tomsk zu transportiren; dann uebernahm er den Befehl ueber die Truppen des Lagers von Zabediero und wendete sich, unter betaeubendem Trommelschlag und gellendem Trompetenschall, der Stadt zu, in der der Emir ihn erwartete. Viertes Capitel. Der siegreiche Einzug. Tomsk, 1604, fast im Herzen der sibirischen Provinzen gegruendet, ist eine der bedeutendsten Staedte des asiatischen Russlands. Tobolsk, das schon ueber den 60. Breitengrad, und Irkutsk, das ueber den 100. Meridian hinaus liegt, sahen Tomsk auf ihre Unkosten zunehmen und gedeihen. Dennoch ist, wie schon erwaehnt, Tomsk nicht die officielle Hauptstadt dieser wichtigen Provinz. Der Generalgouverneur derselben residirt vielmehr mit den obersten Beamten in Omsk. Dennoch erhob sich Tomsk zur hervorragendsten Stadt jenes Landestheiles, der an die Altaiberge, d. h. an die chinesische Grenze des Landes der Khalkas, angrenzt. An den Abhaengen dieses Gebirges verlaufen bis in das Thal des Tom herab ergiebige Adern von Platin, Gold, Silber, Kupfer und goldhaltigem Bleierz. Da das Land reich ist, ist es auch die Stadt, welche den Mittelpunkt der eintraeglichen Montanindustrie einnimmt. Hier kann der aeussere und innere Luxus der Gebaeude und ihrer Einrichtung, die Pracht der Equipagen wohl mit den groessten Hauptstaedten Europas in die Schranken treten. Es ist eben eine Stadt der Millionaere vom Schlaegel und der Spitzhaue, und wenn ihr die Ehre nicht zu Theil ward, den Stellvertreter des Czaaren in ihren Mauern zu beherbergen, so troestet sie sich damit, dass der erste Kaufmann der Stadt, der Hauptconcessionaer der Minen der kaiserlichen Regierung, zum ersten Range der Notabeln des Reiches zaehlt. Frueher huldigte man der Anschauung, Tomsk liege einfach am Ende der Welt. Wer sich dahin begeben wollte, wagte eine grosse Reise. Jetzt ist das, vorausgesetzt, dass keine wilden Feindeshorden die Strasse umschwaermen, durch einen einfachen Spaziergang abzumachen. Bald wird auch der Schienenweg hergestellt sein, der es mit Ueberschreitung der Uralkette mit Perm in Verbindung setzen soll. Haelt man Tomsk fuer eine schoene Stadt? Die Berichte der Reisenden stimmen in dieser Hinsicht nur wenig ueberein. Frau von Bourboulon, welche auf ihrer Reise von Shang-hai nach Moskau einige Tage daselbst verweilte, nennt es einen wenig malerischen Haeuserhaufen. Ihrer Beschreibung nach ist es eine Stadt ohne besondere Physiognomie, mit alten Gebaeuden aus Granit und Ziegelstein und engen, von den Gassen, wie man sie meist in sibirischen Staedten findet, wenig abweichenden Strassen, mit schmutzigen Quartieren, den Hauptansiedelungsstellen der Tartaren, in welchen schweigsame Betrunkene umhertaumeln, "deren Trunkenheit ebenso apathisch erscheint, wie bei allen Voelkern des Nordens". Dagegen zollt der Reisende Henry Russel-Killough Tomsk seine ungetheilte Bewunderung. Sollte das nur daher ruehren, dass er es mitten im Winter sah, wogegen Frau von Bourboulon es nur waehrend des Sommers besuchte? Das ist wohl moeglich und wuerde einen weiteren Beitrag zu der Behauptung liefern, dass man kalte Laender nur waehrend der kalten Jahreszeit, warme nur waehrend der heissen wirklich kennen und beurtheilen lernt. Wie dem auch sei, Russel-Killough sagt positiv, dass Tomsk nicht nur die schoenste Stadt Sibiriens, sondern vielleicht eine der huebschesten Staedte ueberhaupt sei. Er lobt ebenso ihre mit Saeulengaengen und Peristylen geschmueckten Haeuser, die bequemen Holztrottoirs, wie ueberhaupt die breiten, regelmaessigen Strassen, sammt den fuenfzehn praechtigen Kirchen, die sich in den Wellen des Tom, eines hier schon sehr bedeutenden Flusses, wiederspiegeln. Die Wahrheit liegt wohl auch hier in der Mitte. Tomsk breitet sich, bei einer Einwohnerzahl von 25,000 Seelen, terrassenfoermig ueber einen langgestreckten, aber steil abfallenden Huegel aus. Die huebscheste Stadt der Welt wird aber zur haesslichsten, wenn Feinde in ihr hausen. Wer haette sie jetzt auch bewundern wollen? Vertheidigt von wenigen Bataillonen Kosaken zu Fuss hatte sie dem Anprall der tartarischen Heersaeulen nicht Widerstand zu leisten vermocht. Ein gewisser Theil der Stadtbevoelkerung von verwandtem Ursprunge hatte diese Horden nicht eben ungern empfangen, und fuer den Augenblick erschien Tomsk so wenig russisch oder sibirisch, als ob es mitten in die Khanate von Khokhand oder Bukhara versetzt worden waere. In Tomsk wollte der Emir seine siegreichen Truppen empfangen. Diesen zu Ehren sollte ein Fest mit Gesaengen, Taenzen und Schaugepraenge abgehalten werden, dessen Ende wie gewoehnlich in eine laermende, wilde Orgie auslief. Der fuer diese nach asiatischem Geschmacke vorbereiteten Belustigungen ausgewaehlte Platz nahm eine geraeumige Ebene auf einem Theile des Huegels ein, der sich etwa hundert Fuss hoch ueber den Tom erhebt. Den Rahmen dieser Flaeche bildeten einerseits die langen eleganten Haeuserreihen, die vielen Kirchen mit ihren bauchigen Kuppeln, andrerseits die vielfachen Windungen des Stromes und entfernte, in warmem Dufte verschwimmende Waelder, oder in der Naehe dichte Haine von Fichten und riesigen Cedern. An der linken Seite des Festplatzes hatte man auf einer breiten Terrasse provisorisch eine blendende Decoration, die Nachahmung eines wunderlichen Palastes - wahrscheinlich eine Probe der bukharischen, halb maurischen, halb tartarischen Baudenkmaeler, - in bizarrstem Style errichtet. Ueber diesem Palaste und den Spitzen seiner zahlreichen Minarets, zwischen den hoechsten Zweigen der Baeume, die das Plateau beschatteten, schwebten zu Hunderten gezaehmte Stoerche, welche der Tartarenarmee aus Bukhara gefolgt waren. Jene Terrasse blieb reservirt fuer den Hofstaat des Emirs, fuer die verbuendeten Khans, die Grosswuerdentraeger des Reiches und fuer die Harems eines jeden der turkomanischen Fuersten. Unter den Sultaninnen, zum groessten Theile uebrigens nur auf den Maerkten von Transkaukasien und Persien gekaufte Sklavinnen, trugen Einige das Gesicht unverhuellt, waehrend Andere fast vollstaendig unter einem dichten Schleier verborgen waren. Alle erschienen in der praechtigsten Kleidung. Reizende Oberkleider, deren weite Aermel auf der Rueckseite aufgeschlagen, eine eigenthuemliche Faltenordnung zeigten, liessen ihre entbloessten Arme sehen, deren kostbare Bracelets durch Ketten von Edelsteinen verbunden erschienen, und ihre kleinen Haende, an denen die Fingernaegel mit dem Safte der "Henneh" gefaerbt waren. Bei der geringsten Bewegung dieser Kleider, welche zum Theil aus Seide, so fein wie die Faeden des Spinnengewebes, zum Theil aus wundervoll weichem "Aladja" (ein schmalgestreifter, herrlicher Baumwollstoff) bestanden, liess sich jenes vornehme Rascheln hoeren, das den Ohren der Orientalen so lieblich klingt. Unter diesem Ueberwurfe erglaenzten brocatne kurze Roeckchen ueber den seidenen Beinkleidern, welche letztere ein wenig oberhalb der feinen, grazioes geschweiften und mit echten Perlen geschmueckten Stiefeln befestigt waren. An den schleierlos erscheinenden Frauen bewunderte man die langen, schwarzen Flechten, die unter dem Turban hervorquollen, ebenso wie die schoenen Augen, die praechtigen Zaehne, den blendenden Teint, der noch mehr durch die tiefschwarzen, mittels eines feinen Striches verbundenen Augenbrauen und die mit Bleiglaette gefaerbten Lider hervorgehoben wurden. Am Fusse der mit Flaggen und Bannern bedeckten Terrasse standen die Leibgarden des Emirs Wache, mit ihren zwei gekruemmten Saebeln an der Seite, einem Dolch im Guertel und der zehn Fuss langen Lanze in der Hand. Einige dieser Tartaren trugen weisse Staebe, Andere ungeheure Hellebarden mit maechtigen Troddeln aus Gold- und Silberfaeden. Ringsumher, bis zu den aeussersten Enden dieses Plateaus, auf dem steilen Abhange, dessen Basis die Wellen des Tom badeten, draengte sich eine wahrhaft kosmopolitische Menge, zusammengewuerfelt aus allen Eingeborenen Centralasiens. Da sah man die Usbecks mit ihren ungeheuren schwarzen Schaffellmuetzen, dem rothen Bart, grauen Augen und in dem "Arkaluk", einer besondern Art nach tartarischer Mode geschnittenem Ueberwurf. Dort zeigten sich Turkomanen in ihrem Nationalcostuem, langen Beinkleidern von schreiender Farbe, Westen und Maenteln aus Kameelhaar, rothen entweder konisch oder auch oben erweiterten Muetzen, hohen juchtenen Stiefeln, Seitengewehr und Messer an Riemen um die Taille geschnallt; in der Naehe ihrer Herren erschienen auch die turkomanischen Weiber, welche ihr von Natur ueppiges Haar noch durch Schnurenschleifen aus Ziegenhaar zu verlaengern pflegen, mit unter der "Tjuba" offnem, blauem, purpurnem oder gruenem Hemd, die Beine in farbige Baender eingeschnuert, die sich bis herab ueber den Lederstiefeln kreuzten. Endlich begegnete man auch, - so als ob sich alle Voelkerschaften der russisch-chinesischen Grenze auf den Ruf des Emirs erhoben haetten, - an der Stirn und den Schlaefen rasirte Mandschus mit geflochtenem Haar, langen Ueberroecken, einem Guertel, der die Taille ueber einem seidnen Hemd umschloss, mit ovalen kirschrothen Atlasmuetzen mit gleichfarbenen Fransen; neben ihnen auch jene herrlichen Typen von Frauen aus der Mandschurei, coquett mit kuenstlichen Blumen coiffirt, welche reizende Haeubchen, durch goldene Nadeln befestigt, auf den pechschwarzen Haaren trugen. Ausser diesen Allen aber noch Mongolen, Bukharier, Perser, Chinesen aus Turkestan, welche sich unter die zu dem tartarischen Feste Geladenen mischten. Nur die Sibirier fehlten unter diesem Schwarme von Feinden. Wer von ihnen nicht hatte fliehen koennen, hielt sich im Hause auf, aus Furcht, dass Feofar-Khan noch, zum wuerdigen Schluss dieser Siegesfestlichkeit, einen Befehl zum Pluendern ergehen lassen koenne. Um vier Uhr erst hielt der Emir seinen Einzug auf den Festplatz, begleitet von lustigen Fanfaren, Tamtamschlaegen, von Kanonen- und Gewehrsalven. Feofar ritt sein Lieblingsross, an dessen Kopfe eine Aigrette von Diamanten funkelte. Er erschien in seinem Kriegeranzuge. Ihm zur Seite marschirten die Khans von Khokhand und Kunduz, die Grosswuerdentraeger des Khanates und als Gefolge ein zahlreicher Stab. Zu derselben Zeit betrat auch die erste Frau Feofar's die Terrasse, gewissermassen die Koenigin, wenn man diesen Namen den Sultaninnen der bukharischen Staaten beilegen darf. Aber ob Koenigin oder Sklavin, jedenfalls war diese Frau, eine geborne Perserin, von bewunderungswuerdiger Schoenheit. Ganz entgegen der mohamedanischen Gewohnheit und wahrscheinlich nur in Folge einer Laune des Emirs, erschien sie mit unverhuelltem Gesichte. Ihr in vier Flechten vertheiltes Haar schmiegte sich um die blendendweissen Schultern, welche nur leicht von einem golddurchwirkten Schleier bedeckt waren, der sich rueckwaerts an eine Art mit den werthvollsten Gemmen geschmueckte Haube anschloss. Unter der Tunica von blauer Seide, mit breiten, dunkleren Streifen fiel der "Zir-djameh" von Seidengaze herab und ueber den Guertel faltete sich der "Pirahn", eine Art Hemd aus demselben Stoffe, welcher nach dem Halse zu grazioes ausgeschnitten erschien. Vom Kopfe aber bis zu den persischen Pantoffeln an den Fuessen glaenzte eine solche verschwenderische Pracht von Geschmeide, goldenen Tomans an Silberschnueren, Kraenze von Tuerkisen, Achate, Smaragde, Opale und Saphire, dass ihr ganzer Leib wie von kostbaren Steinen bedeckt erschien. Die Tausende von Diamanten, die farbenpraechtig an ihrem Halse, den Armen, den Haenden, am Guertel und an den Fuessen blitzten, waeren mit Millionen von Rubeln wohl kaum bezahlt gewesen; ja, bei dem Strahlenkranze, den sie um sich verbreiteten, haette man glauben koennen, dass sie unter einander durch einen aus Sonnenstrahlen gebildeten elektrischen Bogen verbunden seien. Der Emir und die Khans stiegen von den Pferden, ebenso wie die hohen Staatsbeamten und militaerischen Wuerdentraeger des Gefolges. Alle nahmen Platz unter einem prachtvollen Zelte, das sich in der Mitte der Terrasse erhob. Vor dem Zelte lag wie gewoehnlich der geoeffnete Koran auf dem heiligen Tische. Feofar's Befehlshaber liess nicht lange auf sich warten, und noch vor fuenf Uhr meldeten Trompetenstoesse die Ankunft des Verbuendeten. Iwan Ogareff, - "mit der Schmarre", wie man ihn schon nannte - kam, jetzt in der Uniform eines Tartarenoffiziers, zu Pferde bis vor das Zelt des Emirs. Er war von einer Abtheilung Soldaten aus dem Lager von Zabediero begleitet, die sich zu beiden Seiten des Platzes aufstellten, so dass in der Mitte nur der fuer die Vorstellungen und Spiele bestimmte Raum frei blieb. Quer ueber das Gesicht des Verraethers zog sich eine blutig unterlaufene Strieme hin. Iwan Ogareff stellte dem Emir seine ersten Officiere vor, und Feofar-Khan empfing sie, wenn auch mit der seiner Wuerde entsprechenden Kaelte, doch in einer sie scheinbar zufriedenstellenden Weise. Das glaubten wenigstens Harry Blount und Alcide Jolivet, die beiden jetzt unzertrennlichen Neuigkeitsjaeger, zu bemerken. Von Zabediero aus hatten sich diese schnellstens nach Tomsk begeben. Ihre Absicht ging zwar dahin, sich sobald als moeglich aus der Gesellschaft der Tartaren wegzustehlen, sich einem russischen Truppencorps anzuschliessen und mit diesem Irkutsk zu erreichen. Was sie bis jetzt von dem feindlichen Einfalle, den Feuersbruensten, Pluenderungen, Mordthaten und dergleichen gesehen, konnte nur das Gefuehl der Entruestung in ihnen erwecken und trieb sie noch mehr, in der sibirischen Armee Aufnahme zu suchen. Alcide Jolivet machte aber seinem Begleiter begreiflich, dass er Tomsk nicht wohl eher verlassen koenne, als bis er eine Skizze des zu erwartenden Triumpheinzuges der tartarischen Truppen entworfen habe, - und waere es nur, um die Neugierde seiner Cousine zu befriedigen, - und Harry Blount hatte zugestimmt, noch einige Stunden zu verweilen; noch an demselben Abend wollten die Beiden jedoch den Weg nach Irkutsk schon wieder einschlagen, und hofften bei der Schnelligkeit ihrer guten Pferde auch den Plaenklern des Emirs zuvorzukommen. Alcide Jolivet und Harry Blount hatten sich also unter die Zuschauermenge gemischt und wandten den Festlichkeiten alle Aufmerksamkeit zu, um sich kein Detail des Bildes entgehen zu lassen, das ihnen einen huebschen Artikel fuer die Chronik ihrer Journale versprach. Sie bewunderten Feofar-Khan in seiner Herrscherpracht, seine Frauen, seine Officiere, die Garden und allen diesen orientalischen Luxus, von dem die europaeischen Ceremonien nicht die blasseste Vorstellung geben. Sie wendeten sich aber voll Abscheu ab, als Iwan Ogareff sich dem Emir nahte, und warteten nicht ohne einige Ungeduld auf den Beginn des eigentlichen Festes. "Sehen Sie, lieber Blount, sagte Alcide Jolivet, wir sind zu zeitig erschienen, so wie der brave Buerger, der fuer sein Geld auch etwas Ordentliches haben will. Das ist alles nur ein Vorspiel und es waere besser gewesen, erst zum Ballet zu kommen. -- Zu welchem Ballet? fragte Harry Blount. -- Ei nun, zu dem obligatorischen Ballet! Ah, ich glaube der Vorhang hebt sich schon." Alcide Jolivet sprach, als befinde er sich im Opernhause, zog sein Perspectiv aus dem Etui und schickte sich an, "die ersten Kraefte der Truppe Feofar-Khans" moeglichst genau kennen zu lernen. Den lustigen Taenzen sollte aber noch eine hoechst peinliche Scene vorhergehen. Der Triumph der Sieger konnte ja ohne eine qualvolle Erniedrigung der Besiegten kein vollstaendiger sein. Es wurden also einige hundert Gefangene unter den Knuten der Soldaten vorgefuehrt. Diese sollten vor Feofar-Khan und seinen Verbuendeten defiliren, bevor man sie in den Gefaengnissen der Stadt einkerkerte. In erster Reihe unter diesen Armen befand sich auch Michael Strogoff. Dem Befehle Iwan Ogareff's entsprechend war eine besondere Abtheilung Soldaten zu seiner Bewachung bestimmt. Seine Mutter und Nadia waren auch gegenwaertig. Das Gesicht der alten Sibirerin, welche stets, wenn es sich nur um sie allein handelte, eine unbeugsame Energie bewahrte, erschien ungemein bleich. Sie machte sich wohl gefasst auf eine schreckliche Scene. Ihr Sohn ward gewiss nicht ohne besondere Ursache dem Emir vorgefuehrt, und sie zitterte leise fuer ihn. Iwan Ogareff, den vor den Augen Aller die schon fuer sie erhobene Knute getroffen, war sicherlich nicht der Mann dazu, solche Schmach zu verzeihen, und seine Rache wuerde wohl ohne Grenzen sein. Gewiss drohte Michael Strogoff ein entsetzliches Gericht, wie es die Barbaren Centralasiens gern abzuhalten pflegen. Wenn ihn Iwan Ogareff damals, als seine Knechte sich ueber ihn stuerzen wollten, geschont hatte, so wusste er gewiss, was er damit that, ihn der Justiz des Emirs vorzubehalten. Seit dem traurigen Auftritt auf dem Felde zu Zabediero war es Mutter und Sohn unmoeglich gewesen, auch nur ein Wort zu wechseln. Man hatte sie unerbittlich von einander getrennt. Welch harte Erschwerung ihrer Leiden, hier, wo es ihnen ein suesser Trost gewesen waere, waehrend einiger Tage der Gefangenschaft doch vereinigt zu sein. Wie gern haette Marfa Strogoff ihren Sohn um Verzeihung wegen all' des Uebels gebeten, das sie ihm wider Willen zugefuegt hatte, denn sie klagte sich an, ihre muetterlichen Gefuehle nicht gehoerig im Zaum gehalten zu haben. Haette sie sich damals im Posthofe zu Omsk bezwungen, als sie ihm gegenueber stand, so kam Michael Strogoff unerkannt hindurch, - und wie viel Unglueck waere dann verhuetet worden! Michael Strogoff seinerseits quaelte sich mit dem Gedanken, dass man seine Mutter mit hierher schleppe, um sie fuer sein Vergehen buessen zu lassen, vielleicht dass sie dieselbe schreckliche Todesart erleiden sollte, wie er selbst. Nadia endlich fragte sich, was sie thun koenne, um den Einen oder die Andere zu retten, auf welche Weise sie der Mutter oder dem Sohne zu Hilfe kommen koenne? Sie fand zwar kein Mittel, aber sie fuehlte, dass es hier vor Allem darauf ankam, keine besondere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sondern sich mehr zu verstecken und unsichtbar zu machen. Vielleicht waere sie doch noch im Stande, die Gitter des Kaefigs ihres Loewen zu zerbrechen. Jedenfalls wollte sie, wenn sich ihr eine Gelegenheit zum Handeln boete, gewiss nicht zoegern, und noethigenfalls ihr Leben fuer den Sohn der Marfa Strogoff opfern. Inzwischen zog der groesste Theil der Gefangenen vor dem Emir vorueber, wobei jeder als Zeichen der Unterwerfung sich zu Boden beugen und den Sand mit der Stirn beruehren musste, das erniedrigende Merkmal fuer den Anfang der Sklaverei. Kruemmten die Ungluecklichen den Ruecken zu langsam, so warf sie die rauhe Hand der Garden heftig zu Boden. Alcide Jolivet und sein Begleiter vermochten einem solchen Schauspiel nicht ohne die Gefuehle der tiefsten Indignation beizuwohnen. "Dieser erbaermliche Kerl! Fort, fort von hier! sagte Alcide Jolivet. -- Nein, entgegnete Harry Blount, nun wollen wir auch Alles sehen! -- Alles sehen!... Ah, dort! rief ploetzlich Alcide Jolivet und ergriff den Arm seines Gefaehrten. -- Was haben Sie? fragte dieser. -- Sehen Sie dorthin, Blount! Da ist sie! -- Sie? - Welche sie? -- Die Schwester unseres Reisegefaehrten! Hilflos und gefangen. Wir muessen sie retten ... -- Geduld, entgegnete frostig Harry Blount. Unsere Intervention zu Gunsten des jungen Maedchens duerfte ihr eher schaedlich als nuetzlich werden." Alcide Jolivet, der sich schon zu Nadia draengen wollte, liess sich belehren, und Letztere, welche die beiden Reporter nicht gesehen hatte, ging, von ihrem reichen Haar halb verschleiert, vor dem Emir vorueber, ohne dessen besondere Aufmerksamkeit zu erwecken. Nach Nadia kam Marfa Strogoff an die Reihe, und da sie sich nicht schnell genug in den Staub warf, drueckten sie die Wachen mit rauher Faust nieder. Marfa Strogoff fiel zu Boden. Ihr Sohn schaeumte auf vor Wuth, so dass ihn die bewachenden Soldaten kaum zu baendigen vermochten. Die alte Marfa erhob sich wieder und sollte eben fortgefuehrt werden, als Iwan Ogareff das verhinderte. "Dieses Weib bleibt hier!" rief er. Nadia ward in den Haufen der Gefangenen zurueckgefuehrt. Iwan Ogareff's Blick hatte sie nicht erkannt. Jetzt wurde Michael Strogoff vor den Emir gebracht und blieb, ohne auch nur die Augen zu senken, vor diesem stehen. "Die Stirn auf die Erde! herrschte ihn Iwan Ogareff an. -- Nein", antwortete Michael Strogoff. Zwei Soldaten wollten ihn zwingen, sich zu beugen, doch die kraeftige Hand des jungen Mannes drueckte sie an seiner Statt zu Boden. Iwan Ogareff sprang auf Michael Strogoff zu. "Du verwirkst Dein Leben! rief er. -- Ich werde ruhig sterben, erwiderte stolz Michael Strogoff, aber Deine Verraetherstirn, Iwan, wird fuer immer die schmachvolle Schramme von der Knute tragen!" Iwan Ogareff erbleichte bei diesen Worten. "Wer ist dieser Gefangene? fragte der Emir, dessen ruhige Stimme nur um so drohender war. -- Ein russischer Spion", antwortete Iwan Ogareff. Als er Michael Strogoff fuer einen Spion ausgab, wusste er recht wohl, welches entsetzliche Loos ihm bevorstand. Michael Strogoff hatte sich Iwan Ogareff genaehert. Die Soldaten hielten ihn zurueck. Der Emir machte eine Handbewegung, auf welche sich die ganze grosse Menge niederbeugte. Dann zeigte er nach dem Koran, den man ihm brachte. Er oeffnete das Buch und legte einen Finger auf ein Blatt. Der Zufall, oder nach dem Glauben der Orientalen, Gott selbst, sollte das Schicksal Michael Strogoff's entscheiden. Die Voelker Centralasiens nennen dieses Gerichtsverfahren "Fal". Nach der Auslegung des von dem Finger des Richters zufaellig getroffenen Verses faellen sie das Urtheil. Der Emir liess den Finger auf der einen Seite des Koran liegen. Der Erste der Ulemas trat hinzu und verlas mit lauter Stimme einen Vers, der mit den Worten schloss: "Und er wird die Dinge der Erde nicht mehr sehen." "Spion der Russen, sagte der Emir, Du bist hierher gekommen, zu sehen, was im Tartarenlager vorgeht; nun sieh mit allen Deinen Augen, sieh' Dich um!" Fuenftes Capitel. Nun sieh' Dich um. Michael Strogoff musste mit gefesselten Haenden vor dem Thron des Emirs am Fusse der Terrasse stehen bleiben. Ueberwaeltigt von physischen und moralischen Schmerzen war seine Mutter endlich zusammengesunken und wagte weder etwas zu sehen noch zu hoeren. "Sieh' mit allen Deinen Augen, sieh' Dich um!" hatte Feofar-Khan mit einer drohenden Handbewegung gegen Michael Strogoff gesagt. Ohne Zweifel verstand Iwan Ogareff bei seiner Kenntniss der tartarischen Sitte den Sinn dieser Worte genuegend, denn um seine Lippen spielte einen Augenblick lang ein wahrhaft teuflisches Laecheln. Dann hatte er neben Feofar-Khan Platz genommen. Jetzt erklangen lustige Trompetenstoesse, das Signal zum Beginn der Festspiele. "Da kommt ja das Ballet, sagte Alcide Jolivet zu Harry Blount, diese Barbaren fuehren es aber entgegen unserer Sitte vor dem Drama auf, statt nachher." Michael Strogoff sollte sich Alles anschauen. Er that es. Eine Wolke von Taenzerinnen flog auf den Platz. Eine fremdartige Musik ertoente von den verschiedensten tartarischen Instrumenten, der "Dutare", einer langgebauten Mandoline aus dem Holze des Maulbeerbaumes, mit zwei in dem Intervall einer Quarte gestimmten Saiten aus fest gedrehter Seide; der "Kobiz", eine Art offenes Violoncell, dessen Pferdehaarsaiten mittels eines Bogens in Schwingungen versetzt wurden; die "Tschibyzga", eine lange Floete aus Rosenholz; dazu Trompeten, Tambourins, Tamtams u. dgl., und das Alles begleitet von den Kehltoenen zahlreicher Saenger. Hierzu kam noch das dann und wann hoerbare, leise Erklingen eines besonderen Concertes in der Luft, das von einem Dutzend Papierdrachen herruehrte, vor deren durchbrochenem Mitteltheile Saiten gespannt waren, welche von dem Winde gleich Aeolsharfen erklangen. Sofort begann nun der Tanz. Die Theilnehmerinnen waren Alle von persischer Abkunft, aber nicht etwa Sklavinnen, sondern trieben ihr Gewerbe freiwillig. Frueher fungirten sie officiell bei den Festen am Hofe zu Teheran, wurden aber seit der Thronbesteigung der jetzigen Herrscherfamilie entlassen und aus dem Reiche verbannt, so dass sie ihr Glueck in andern Laendern suchen mussten. Sie trugen ihr von Schmuck aller Art ueberladenes Nationalcostuem. Kleine goldene Dreiecke mit langen Gehaengen schaukelten an ihren Ohren, Spangen von Niellosilber zierten ihren Hals, um die Arme und Beine schlangen sich Bracelets mit einer doppelten Gemmenreihe, waehrend an den Enden ihrer langen Flechten eine Art Rosette von Perlen, Tuerkisen und Karneolen erglaenzte. Den Taillenguertel schloss eine Art Diamant-Agraffe, in der Form des Grosskreuzes eines europaeischen Ordens. Diese Taenzerinnen fuehrten ihre Spiele, bald einzeln, bald in Gruppen, mit vollendeter Grazie auf. Sie trugen das Gesicht unverhuellt, von Zeit zu Zeit aber zogen sie einen feinen Schleier vor das Antlitz, so dass es schien, als lege sich eine Wolke von Gaze ueber alle diese laechelnden Augen, wie eine zarte Wolke den sternbesaeeten Himmel bedeckt. Einzelne dieser Perserinnen trugen ferner als Schaerpe eine Art Wehrgehaenge aus perlengesticktem Leder, an welchem mit der Spitze nach unten eine dreikantige Tasche hing, welche sie zu bestimmter Zeit oeffneten. Aus diesen von Goldfiligran gewebten Taschen holten sie lange schmale Baender von scharlachrother Farbe hervor, auf welche Sprueche aus dem Koran gestickt waren. Sie spannten diese Baender zwischen sich aus und bildeten so einen Ring, unter welchem andere Taenzerinnen hindurchschluepften, und je nach dem Verse ueber ihnen sich entweder zur Erde warfen oder in leichten Spruengen dahinflogen, so als wollten sie unter den Houris des Himmels Mohamed's verschwinden. Auffallend erschien bei diesen Bewegungen, und vorzueglich fuehlte sich Alcide Jolivet dadurch betroffen, dass sich diese Perserinnen weit eher ruhig als wild zeigten. Es mangelte ihnen alles berauschende Feuer, und sie erinnerten ebenso durch die Art ihrer Taenze, wie durch deren Ausfuehrung, weit mehr an die stillen, decenten Bajaderen Indiens, als etwa an die leidenschaftlichen Almes (Taenzerinnen) Egyptens. Nach Schluss dieses ersten Schauspieles liess sich neben Michael Strogoff eine ernste Stimme vernehmen: "Sieh' mit allen Deinen Augen, sieh' Dich um!" Der Mann, welcher diese Worte wiederholte, ein hochgewachsener Tartar, war der Vollstrecker der peinlichen Befehle Feofar-Khan's. Er hatte hinter dem Verurtheilten Platz genommen und hielt einen langen, gekruemmten Saebel in der Faust, eine jener Damascenerklingen, wie sie die beruehmten Waffenschmiede von Karschi oder Hissar liefern. An seiner Seite hatten einige Garden ein Kohlenbecken aufgestellt, in dem, ohne irgend welchen Rauch zu verbreiten, ein Haufen Kohlen gluehte. Der leichte, empor steigende Dampf ruehrte nur von der Verbrennung einer harzigen, wohlriechenden Substanz, einer Mischung von Weihrauch und Bernstein, her, welche man zeitweilig darauf streute. Auf die Perserinnen war inzwischen eine andere von ihren Vorgaengerinnen sehr verschiedene Gruppe Taenzerinnen gefolgt, die Michael Strogoff sehr bald erkannte. Die beiden Journalisten zweifelten offenbar keinen Augenblick, wen sie vor sich haetten, denn Harry Blount sagte zu seinem Collegen: "Da, die Zigeunerinnen aus Nishny-Nowgorod! -- Wahrhaftig, bestaetigte Alcide Jolivet; ich meine aber, im Dienste als Spioninnen werden ihnen die Augen wohl mehr Geld einbringen, als hier ihre Beine!" Wenn Alcide Jolivet vermuthete, dass Jene im Solde des Emirs standen, so taeuschte er sich, wie wir wissen, nicht. In den ersten Reihen der Zigeunerinnen sah man Sangarre in einem wunderlichen, aber praechtigen Anzuge, der ihre Schoenheit vortheilhaft hervorhob. Sangarre selbst tanzte nicht, sondern setzte sich, einer Herrscherin vergleichbar, in die Mitte ihrer Balleteusen, deren phantastische Pas Reminiscenzen an alle in Europa von ihnen durchzogene Laender, an Boehmen, Italien, Spanien, sowie auch an Egypten wach riefen. Sie erregten sich gegenseitig durch den Laermen der Cymbeln an ihren Armen, und durch das Schnarren der "Daires", eine Art baskischer Trommeln, welche sie mit den Fingern schlugen. Sangarre hielt ebenfalls einen solchen Daire in der Hand, durch dessen Schall sie diese Truppe wahrhaftiger Korybanten noch mehr anfeuerte. Dann trat ein junger Zigeuner von kaum fuenfzehn Jahren vor. Er trug eine Dutare, deren Saiten er durch das Anschlagen mit den Naegeln eine leise Melodie entlockte. Er sang. Eine Taenzerin nahm neben ihm Platz und verhielt sich ruhig, so lange er einen Vers seines Liedes vortrug; nur wenn der Refrain desselben von den Lippen des jugendlichen Saengers erklang, sprang sie zum rasenden Tanze auf, schlug ihren Daire und suchte Jenen durch das Getoese ihrer Schellentrommel zu uebertoenen. Nach dem letzten Refrain umschwaermten die Zigeunerinnen alle den Saenger und verflochten ihn gleichsam in die verworrenen Falten ihres Tanzes. Als Belohnung fiel ein Regen von Goldstuecken aus den Haenden des Emirs, seiner Verbuendeten und denen der Officiere aller Grade nieder, und zu dem Klingen der Muenzen, welche die Cymbeln der Taenzerinnen trafen, mischten sich noch die letzten Toene der Dutares und der Tambourins. "Verschwenderisch, wie die Raeuber gewoehnlich!" raunte Alcide Jolivet seinem Gefaehrten in's Ohr. Und es war auch wirklich gestohlenes Geld, welches hier niederfiel, denn mit den tartarischen Tomans und Sequies regnete es auch Ducaten und russische Rubelstuecke. Dann ward es einen Augenblick still, und die Stimme des Henkers, der seine Hand auf Michael Strogoff's Schulter legte, sprach noch einmal die Worte, deren Wiederholung sie um so unheilvoller klingen liess: "Sieh' mit allen Deinen Augen, sieh' Dich um!" Diesesmal bemerkte Alcide Jolivet aber, dass der Henker nicht mehr seinen blanken Saebel in der Hand hatte. Indess sank die Sonne langsam unter den Horizont. Ein sanftes Helldunkel verhuellte schon die entfernten Theile des Platzes. Der Cedern- und Pinienwald erschien schwaerzer und die in der Ferne dunkel fluthenden Wellen des Tom verschwanden in dem Abendnebel. Die Stadt ruhte im Schatten, der auch bald das Plateau erreichen musste. Jetzt drangen ploetzlich mehrere hundert Sklavinnen mit Fackeln in den Haenden auf den Platz. Von Sangarre gefuehrt, traten die Zigeunerinnen und Perserinnen wieder vor dem Throne des Emirs auf und suchten durch den Contrast gegen ihre frueheren Taenze und Evolutionen noch mehr zu ergoetzen. Alle musikalischen Instrumente des tartarischen Orchesters vereinigten sich zu wilderen Harmonien, begleitet von den rauhen Kehltoenen der Saenger. Die Drachen, welche man vorher herabgezogen hatte, flogen, geschmueckt mit einem ganzen Sternbild buntfarbiger Lampen, wieder auf, und ihre Saiten erklangen mitten in dieser Luftillumination heller und voller. Dann schloss sich eine Escadron Tartaren in Kriegsuniform dem Tanze an, der an Wildheit allmaelig zunahm, und bald begann eine Vorstellung, die den fremdartigsten Eindruck hervorbrachte. Waehrend des Springens und Tanzens erfuellten diese Soldaten mit blanken Waffen die Luft durch das Knallen ihrer langen Pistolen, das Knattern der Musketen, das sich mit dem rollenden Ton der Tambourins, dem Schnarren der Daires und dem Knirschen der Doutaren mischte. Ihre Schiesswaffen waren dabei, nach chinesischer Art, mit einem durch gewisse metallische Zusaetze farbig abbrennenden Pulver geladen und spruehten lange rothe, gruene und blaue Feuerstrahlen in die Luft, so dass es schien, als wogten alle diese lebenden Gruppen in einem Meere von Feuer. Dieses Divertissement erinnerte gewissermassen an die Cybistik (Springkuenste) der Alten, eine Art militaerischen Tanzes, bei dem die Theilnehmer sich mitten zwischen Saebel- und Dolchspitzen hindurchwanden, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Berichte davon sich bis auf die Voelker Centralasiens fortgeerbt haben; diese tartarische Cybistik aber erschien noch weit maerchenhafter durch die farbigen Flammen, welche ueber den Taenzerinnen loderten und die ganze Gruppe mit glitzernden Funken schmueckten. Es war wie ein Kaleidoskop von Blitzen, das in seinen Zusammenstellungen mit jeder Bewegung der Tanzenden wechselte. So satt ein pariser Journalist auch gegenueber derartigen Vorstellungen sein mag, in denen es die moderne Buehnentechnik ja so weit gebracht hat, so konnte Alcide Jolivet doch eine leichte Bewegung mit dem Kopfe nicht unterlassen, die zwischen dem Boulevard Montmartre und La Madelaine etwa: "Nicht uebel, nicht uebel!" bedeutet haette. Ploetzlich verloschen wie auf ein Signal alle Flammen dieses Feuermeeres, die Taenze hoerten auf, die Taenzerinnen verschwanden. Die Ceremonie war vorbei und nur die Fackeln leuchteten noch auf dem Plateau, das vorher in tausend Lichtern erglaenzte. Auf ein Zeichen des Emirs ward Michael Strogoff mitten auf den Platz gefuehrt. "Blount, sagte Alcide Jolivet zu seinem Begleiter, wollen Sie auch das Ende hiervon noch ansehen? -- Nicht um Alles in der Welt, erwiderte Harry Blount. -- Ihre Leser des Daily-Telegraph werden nicht so sehr darauf erpicht sein, die Einzelheiten einer Gerichtsvollstreckung nach Sitte der Tartaren kennen zu lernen. -- Nicht mehr als Ihre Cousine. -- Armer Kerl! fuegte Alcide Jolivet hinzu mit einem Blicke auf Michael Strogoff. Dieser wackere Soldat haette einen besseren Tod auf dem Felde der Ehre verdient! -- Koennen wir etwas zu seiner Rettung thun? sagte Harry Blount. -- Nein, leider gar nichts." Die beiden Journalisten erinnerten sich des uneigennuetzigen Entgegenkommens Michael Strogoff's, sie wussten nun, welche Pruefung er, ein Sklave seiner Pflicht, hatte ueber sich ergehen lassen, und nichts konnten sie fuer den Gefangenen in der grausamen Hand der Tartaren, gar nichts fuer ihn thun! Da sie keineswegs begierig waren, der Vollstreckung des Urtheils an dem Ungluecklichen beizuwohnen, so kehrten sie nach der Stadt zurueck. Eine Stunde spaeter trabten sie schon auf der Strasse nach Irkutsk, um unter dem russischen Heere "den Revanchekrieg", wie Alcide Jolivet schon zu sagen beliebte, weiter zu verfolgen. Inzwischen stand Michael Strogoff aufrecht da, mit einem Blicke voll maennlichen Stolzes auf den Emir, voll Verachtung gegen Iwan Ogareff. Er erwartete sterben zu muessen, und doch haette man vergeblich ein Zeichen der Schwaeche an ihm zu entdecken gesucht. Die Zuschauer am Rande des Platzes ebenso wie der Generalstab Feofar-Khan's, fuer welche diese Hinrichtung nur ein Lockmittel zum Ausharren war, erwarteten die Vollstreckung des Urtheils. Nach Stillung ihrer Neugier brannte diese wilde Horde vor Verlangen, sich thierisch zu berauschen. Der Emir gab ein Zeichen. Von Garden gedraengt naeherte sich Michael Strogoff mehr der Terrasse, und Feofar-Khan sprach zu ihm in der auch ihm verstaendlichen tartarischen Mundart: "Du kamst, um zu sehen, Spion der Russen. Du hast zum letzten Mal gesehen. Nach Verlauf einer Minute werden Deine Augen dem Lichte fuer immer verschlossen sein!" Nicht den Tod sollte Michael Strogoff also erleiden, aber von ewiger Blindheit geschlagen werden. Ist der Verlust des Gesichts vielleicht nicht noch schrecklicher, als der des Lebens? Der Unglueckliche war verdammt, geblendet zu werden. Auch als Michael Strogoff das ueber ihn gefaellte Urtheil aus dem Munde des Emirs vernahm, erbleichte er nicht. Er blieb unerschuettert, die Augen weit geoeffnet, stehen, als wollte er sein ganzes Leben in diesen letzten Blick zusammendraengen. Diese Unmenschen um Gnade anzuflehen erschien nicht nur unnuetz, sondern auch seiner unwuerdig. Er dachte ueberhaupt gar nicht daran. Alle seine Geistesthaetigkeit condensirte sich, so zu sagen, in seiner unwiderruflich verfehlten Mission, in seiner Mutter und Nadia, die er nie wiedersehen sollte. Dennoch liess er aeusserlich nichts von der tiefen Erregung seines Innern blicken. Sein ganzes Wesen durchzuckte der Gedanke, sich noch einmal auf irgend eine Weise zu raechen. Er kehrte sich zu Iwan Ogareff um. "Iwan, begann er mit drohender Stimme, Iwan, elender Verraether, die letzte Drohung meiner Augen wird fuer Dich sein!" Iwan Ogareff zuckte mit den Achseln. Aber Michael Strogoff taeuschte sich. Nicht mit einem Blicke der Wuth auf Iwan Ogareff sollten sich seine Augen fuer immer schliessen. Marfa Strogoff naeherte sich ihm. "Meine Mutter! rief er, Dir, ja Dir sollen meine letzten Blicke noch gelten, nicht jenem Schurken dort! -- O bleibe vor mir stehen! Lass mich Dein geliebtes Angesicht noch sehen! Moegen sich meine Augen mit diesem letzten Bilde schliessen!..." Die alte Sibirerin schritt ohne ein Wort auf ihn zu. "Fort mit diesem Weibe!" befahl Iwan Ogareff. Zwei Soldaten suchten Marfa Strogoff fortzureissen. Sie wich zurueck, blieb aber wenige Schritte vor ihrem Sohne stehen. Der Henker erschien. Jetzt trug er wieder den blossen Saebel in der Hand, aber dieser leuchtete in heller Weissgluth, wie er ihn aus dem Becken mit wohlriechenden Kohlen gezogen hatte. Michael Strogoff sollte nach der gewoehnlichen Sitte der Tartaren geblendet werden, indem man eine weissgluehende Klinge dicht vor seinen Augen vorbeifuehrte. Michael Strogoff leistete keinen Widerstand. Fuer seinen Blick war nichts vorhanden, als seine Mutter, die er mit den Augen zu verzehren suchte! All' sein Leben draengte sich in diesem letzten Liebesblick zusammen! Mit weit geoeffneten Augen, die Arme nach ihm ausbreitend, sah Marfa Strogoff ihn an ... Die gluehende Klinge streifte die Augen Michael Strogoff's. Ein Schrei der Verzweiflung. Leblos sank die alte Marfa zu Boden. Michael Strogoff war blind. Nach Ausfuehrung seines Befehls zog sich der Emir mit seinem ganzen Hofe zurueck. Bald waren nur noch Iwan Ogareff und die Fackeltraeger auf dem Platze. Iwan Ogareff zog das kaiserliche Schreiben aus der Tasche, oeffnete es und hielt dasselbe in grausamem Spott dem Courier des Czaaren vor die Augen. "Lies doch nun, Michael Strogoff, lies, und gehe nach Irkutsk, zu melden, was Du gesehen hast! Der wahrhafte Courier des Czaaren, das bin ich, das ist Iwan Ogareff!" Mit diesen Worten verbarg der Verraether den Brief wieder an seiner Brust. Dann verliess er, ohne sich umzuwenden, den Platz, und lautlos folgten ihm die Fackeltraeger. Michael Strogoff war allein, wenig Schritte von seiner Mutter, welche noch leblos, vielleicht wirklich todt, auf der Erde lag. In der Ferne hoerte man das Schreien und Singen, das Laermen der Orgie. Festlich erleuchtet prangte die unglueckliche Stadt. Michael Strogoff lauschte; der Platz schien ihm still und verlassen. Tastend suchte er die Stelle zu erreichen, auf der seine Mutter niedersank. Seine Hand fand sie, er neigte sich ueber sie, er legte sein Antlitz auf das ihre, er hoerte die Schlaege ihres Herzens. Dann schien es, als fluesterte er ihr einige Worte zu. Lebte die alte Marfa noch, und hoerte sie, was ihr Sohn zu ihr sagte? Jedenfalls machte sie nicht die geringste Bewegung. Michael Strogoff kuesste ihr die Stirn und das weisse Haar. Dann erhob er sich, tastete mit den Fuessen, suchte seine Hand auszustrecken, um den Weg zu finden, und schritt langsam nach dem Ende des Platzes. Ploetzlich erschien Nadia. Sie ging gerade auf ihren Gefaehrten zu. Ein Dolch, den sie bei sich trug, diente ihr, die Fesseln zu durchschneiden, welche Michael Strogoff's Arme drueckten. Bei seiner Blindheit wusste dieser nicht, wer ihn befreite, denn Nadia hatte noch kein Wort gesprochen. Nachher erst fluesterte sie: "Bruder, mein Bruder! -- Nadia, erwiderte Michael Strogoff, Du, Nadia! -- Komm, Bruder! antwortete sie. Meine Augen werden nun die Deinigen sein, ich werde Dich nach Irkutsk fuehren!" Sechs tes Capitel. Ein Freund unterwegs. Nach Verlauf einer halben Stunde hatten Michael Strogoff und Nadia Tomsk verlassen. Ueberhaupt gelang es im Laufe dieser Nacht einer ganzen Anzahl Gefangenen zu entweichen, da Soldaten und Officiere im Taumel der wilden Festlichkeiten die bisher gewohnte strenge Ueberwachung jenes Menschenknaeuels vernachlaessigten. Nadia vermochte also, nachdem man sie erst mit den anderen Gefangenen weggefuehrt hatte, zu entfliehen und nach dem Plateau zurueck zu kehren, gerade als Michael Strogoff vor den Emir geschleppt wurde. Unter der Zuschauermenge verloren, hatte sie Alles mit angesehen. Nicht ein Schrei entfuhr ihr, als die weissgluehende Saebelklinge die Augen ihres Begleiters streifte. Sie erzwang sich die Kraft, unbeweglich und lautlos zu verharren. Eine providentielle Ahnung gab ihr den Rath ein, sich zurueck zu halten, um ihre Freiheit zu sichern und den Sohn Marfa Strogoff's nach dem Ziele zu geleiten, das er zu erreichen geschworen hatte. Einen Augenblick wohl stand das Herz ihr still, als sie die alte Sibirerin ohnmaechtig niedersinken sah, aber _ein_ Gedanke reichte hin, ihr all' die fruehere Entschlossenheit zurueck zu geben. "Ich werde der treue Hund des Blinden sein!" sagte sie sich. Als Iwan Ogareff sich entfernte, suchte Nadia sich im Dunkel zu verbergen. Sie wartete gelassen, bis die Menge sich vom Plateau verlief. Verlassen, wie ein elendes Geschoepf, das man nicht weiter zu fuerchten hatte, war Michael Strogoff allein gelassen worden. Sie sah, wie er sich zu seiner Mutter hin tastete, sich ueber sie beugte, ihre Stirn voll heisser Liebe kuesste und dann zu entfliehen suchte ... Einige Minuten spaeter verliessen Beide Hand in Hand den Abhang des Huegels, folgten bis zum Ende der Stadt den Ufern des Tom und gelangten unbemerkt durch eine Oeffnung des Umfassungswalles. Nur die eine Strasse nach Irkutsk verlief dort in oestlicher Richtung. Nadia fuehrte Michael Strogoff moeglichst schnell mit sich fort, in der Besorgniss, es moechten die Plaenkler des Emirs nach Schluss der thierischen Orgie, die sie jetzt feierten, wieder ausschwaermen und jeden Weg verlegen. Ihr galt es also, Jenen zuvor zu kommen, und Krasnojarsk, das uebrigens 500 Werst von Tomsk entfernt liegt, eher als sie zu erreichen. Sich seitwaerts von der Strasse zu wagen, das hiess dem Ungewissen, Unbekannten, wahrscheinlich aber dem drohenden Verderben entgegen zu gehen. Wie Nadia die Anstrengungen der Nacht vom 16. zum 17. August zu ertragen vermochte; woher sie die Kraefte nahm, eine so lange Tagereise auszuhalten; wie ihre von dem anstrengenden Marsche der vorhergehenden Tage noch blutenden Fuesse sie bis dahin tragen konnten, - wohl ist das kaum begreiflich. Aber trotzdem erreichte sie am naechsten Tage, zwoelf Stunden nach dem Aufbruch aus Tomsk, mit Michael Strogoff den Flecken Semilowskoe, - nach einem Wege von fuenfzig Werst Laenge. Michael Strogoff hatte noch keine Silbe gesprochen. Nicht Nadia hielt seine Hand, sondern er schloss sich die ganze Nacht ueber an die seiner Begleiterin; aber Dank dieser treuen Hand, die ihn, wenn auch leise zitternd, leitete, war er gewohnten schnellen Schrittes gegangen. Semilowskoe erwies sich fast vollstaendig verlassen. Aus Furcht vor den Tartaren waren die Einwohner nach der Provinz Yeniseisk entflohen, und nur zwei oder drei Haeuser bewohnt geblieben. Allen Reichthum der Stadt an nuetzlichen und werthvollen Gegenstaenden hatte man auf Karren fort geschafft. Dennoch konnte Nadia nicht umhin, hier einige Stunden Halt zu machen. Beide bedurften nothwendig der Nahrung und der Ruhe. Das junge Maedchen fuehrte seinen Begleiter also nach dem Ende des Marktfleckens. Dort fand sich ein Haus mit offen stehender Thuer. Sie traten ein. Neben dem in sibirischen Haeusern gebraeuchlichen ungeheuren Ofen stand mitten in der Stube eine einfache hoelzerne Bank. Beide setzten sich dort nieder. Jetzt erst schaute Nadia ihrem geblendeten Gefaehrten in's Gesicht, wie sie ihn wohl noch nie angesehen hatte. Aus ihrem Blicke sprach noch mehr als Dankbarkeit, mehr als Mitleid mit dem Unglueck. Haette nur Michael Strogoff sie sehen koennen, er haette in ihrem verzweifelten Blick den Ausdruck der Ergebenheit ohne Grenzen, der innigsten Zaertlichkeit lesen muessen. Die von der hellgluehenden Klinge geroetheten Lider bedeckten zur Haelfte die trockenen Augen des Blinden. Die Sklerotika (die weisse Augenhaut) erschien leicht gefaltet, wie verhornt, die Pupille auffallend vergroessert; die Iris (Regenbogenhaut) zeigte ein dunkleres Blau als vordem; Wimpern und Augenbrauen waren zum Theil verbrannt und versengt, - scheinbar aber hatte der so durchdringende Blick des jungen Mannes sich keineswegs veraendert. Wenn er nicht sehen konnte, wenn seine Blindheit vollstaendig war, so ruehrte das von der totalen Zerstoerung der Lichtempfindlichkeit der Netzhaeute und Sehnerven durch die Hitze des gluehenden Stahles her. Jetzt streckte Michael Strogoff seine hilflosen Haende aus. "Du bist hier, Nadia? fragte er. -- Ja, ich bin bei Dir, erwiderte das junge Maedchen, ich werde Dich niemals verlassen, Michael." Michael Strogoff erzitterte im Innern, als Nadia zum ersten Male seinen wahren Namen aussprach. Er begriff, dass seine Gefaehrtin Alles wusste, wer er sei und welche Bande ihn mit der alten Marfa verknuepften. "Nadia, fuhr er fort, wir werden uns trennen muessen. -- Uns trennen? Und warum, Michael? -- Ich will Dir kein Hinderniss Deiner Reise sein. Dein Vater erwartet Dich in Irkutsk. Du musst zu ihm eilen. -- Mein Vater wuerde mir fluchen, Michael, wenn ich Dich, nach dem, was Du fuer mich gethan, verlassen wollte. -- Nadia, Nadia, erwiderte Michael Strogoff, und drueckte die Hand, welche das junge Maedchen in die seinige gelegt hatte, Du hast an Niemand als an Deinen Vater zu denken. -- Michael, antwortete Nadia fast bitter, Du bedarfst meiner jetzt mehr, als mein Vater! Willst Du denn darauf verzichten, nach Irkutsk zu kommen? -- Niemals! sagte Michael Strogoff schnell und in einem Tone, der seine ganze fruehere Energie durchklingen liess. -- Du besitzest aber jenen Brief nicht mehr ... -- Den Brief, den Iwan Ogareff mir raubte!... Ja wohl, doch auch das soll mich nicht abhalten, Nadia! - Sie haben mich als Spion verurtheilt, - gut, so werde ich handeln wie ein Spion. In Irkutsk will ich Alles sagen, was ich gesehen, was ich gehoert habe, und, beim allmaechtigen Gott, ich schwoere es, dass der Verraether mich noch einmal zu Gesicht bekommen soll; nur muss ich vor ihm in Irkutsk ankommen. -- Und doch sprichst Du von Trennung, Michael! -- Die Nichtswuerdigen haben mir Alles gestohlen, Nadia. -- Mir blieben noch einige Rubel und meine Augen. Ich kann fuer Dich mit ihnen sehen und Dich dahin fuehren, wohin Du allein niemals gelangen wuerdest. -- Und wie sollen wir weiter reisen? -- Zu Fuss. -- Und wovon leben? -- Wir betteln. -- Nun denn, mit Gott! -- Komm, Michael." Die beiden jungen Leute nannten sich nicht mehr Bruder und Schwester, das gemeinsame Unglueck kettete sie noch inniger an einander. Beide verliessen das Haus, nachdem sie eine Stunde geruht hatten. Nadia durcheilte vorher die Strassen des kleinen Ortes, und es war ihr geglueckt, einige Stuecken "Tschornekhleb", d. i. eine Art Gerstenbrod, und etwas Meth, der in Russland mit dem Namen "Meed" bezeichnet wird, zu erlangen. Beides kostete ihr nichts, denn sie hatte sich bezwungen, als Bettlerin anzuklopfen. Das Brod und der Meth saettigten nothduerftig Michael Strogoff's Hunger und Durst. Nadia hatte ihm den groesseren Theil des kaerglichen Mahles aufgenoethigt. Er ass die Brodbissen, die ihm seine Gefaehrtin einen nach dem andern reichte; er trank aus der Kuerbisflasche, die sie an seine Lippen setzte. "Isst Du auch, Nadia? fragte er wiederholt. -- Ja wohl, Michael", beruhigte ihn das junge Maedchen, waehrend es sich doch mit den Ueberresten begnuegte. Michael Strogoff und Nadia verliessen Semilowskoe und begaben sich wieder auf den muehseligen Weg nach Irkutsk. Energisch widerstand das junge Maedchen jeder Ermuedung. Haette Michael Strogoff sie gesehen, es waere ihm wohl der Muth gesunken, weiter zu ziehen. Nadia aber beklagte sich nicht, und da Michael Strogoff keinen leisen Seufzer hoerte, so ging er mit einer Hast, die er selbst nicht zu zuegeln vermochte. Und warum? Durfte er hoffen, den Tartaren zuvor zu kommen? Er war zu Fuss, ohne Geld und - blind, und wenn Nadia, seine einzige Fuehrerin, ihm entrissen werden sollte, blieb ihm ja nichts Anderes uebrig, als sich an die Seite der Strasse zu legen und elend zu verderben. Konnte er dagegen durch ungebeugte Energie nach Krasnojarsk gelangen, so war vielleicht noch nicht Alles verloren, da der Gouverneur, dem er sich zu entdecken gedachte, ihm ohne Zweifel die noethigen Mittel gewaehren wuerde, um Irkutsk zu erreichen. Michael Strogoff wanderte also karg an Worten und versunken in Gedanken weiter. Er hielt Nadia's Hand. Beide blieben ununterbrochen vereinigt. Es schien, als beduerften sie der Sprache zum Austausch ihrer Gedanken gar nicht mehr. Von Zeit zu Zeit unterbrach Michael Strogoff wohl das Schweigen. "Sprich doch zu mir, Nadia, sagte er. -- Wozu das, Michael? Wir denken ja zusammen!" antwortete die junge Lieflaenderin und bemuehte sich, ihre Erschoepfung nicht durch ihre Stimme zu verrathen. Manchmal aber sanken ihre Fuesse zusammen, als staende ihr Puls schon still, ihr Schritt verlangsamte sich und mit flehend geoeffneten Armen blieb sie ein wenig zurueck, dann hemmte auch Michael Strogoff seine Schritte und richtete die Augen auf das junge Maedchen, so als koenne er es in der Dunkelheit, die ihn umgab, erkennen. Seine Brust hob sich; er suchte seine Begleiterin noch besser zu unterstuetzen und nahm den ermuedenden Weg wieder auf. Diese ununterbrochenen Anstrengungen sollten aber heute eine ueberaus glueckliche Wendung erfahren, welche Beiden fuer die Zukunft eine grosse Erleichterung versprach. Seit zwei Stunden hatten sie Semilowskoe verlassen, als Michael Strogoff stehen blieb und fragte: "Ist die Strasse menschenleer? -- Vollstaendig verlassen, antwortete Nadia. -- Hoerst Du nicht hinter uns irgend ein Geraeusch? -- Ja, wirklich. -- Das koennten Tartaren sein; wir werden uns verbergen muessen. Passe wohl auf! -- Warte ein wenig, Michael!" erwiderte Nadia und ging die Strasse einige Schritte, bis zu einer nahen Biegung rueckwaerts. Michael Strogoff blieb, angestrengt lauschend, einige Augenblicke allein. Nadia kehrte sehr bald zurueck und meldete: "Es ist ein Wagen hinter uns, den ein junger Mann fuehrt. -- Ist er allein? -- So viel ich sehen kann, ja." Michael Strogoff zoegerte einen Moment. Sollte er sich verbergen? - oder sollte er im Gegentheil bei der sich bietenden Gelegenheit versuchen, auf diesem Wagen, wenn auch nicht fuer sich selbst, so doch vielleicht fuer sie, einen Platz zu erhalten? Er wuerde sich damit begnuegen, eine Hand auf den Wagen zu stuetzen; ja, er wuerde diesen selbst mit schieben, denn seine Fuesse versagten ihm voraussichtlich niemals den Dienst, aber er fuehlte wohl, dass Nadia durch die lange, achttaegige Wanderung vom Obi bis hierher am Ende ihrer Kraefte sein muesse. Er wartete. Der Wagen zeigte sich bald an dem Knie der Strasse. Es war ein sehr verfallenes, fuer hoechstens drei Personen eingerichtetes Fuhrwerk, eine in der dortigen Gegend sogenannte Kibitka. Gewoehnlich bilden drei Pferde die Bespannung einer solchen Kibitka; diese wurde aber nur von einem Pferde mit langer Behaarung und dickbuschiger Maehne und Schweif gezogen, dessen offenbar mongolische Abstammung seine Staerke und Ausdauer verrieth. Als Fuehrer sass ein junger Mann auf dem Wagen, neben welchem ein Hund neugierig hervorguckte. Nadia erkannte bald, dass der junge Mann ein Russe sei. Er hatte ein freundliches, ruhiges, Vertrauen erweckendes Gesicht. Besondere Eile schien er auch nicht zu haben. Er trottete ruhigen Schrittes dahin, um sein Pferd nicht ueberanzustrengen, und wer ihn so sah, haette gewiss nie geglaubt, dass er auf einem Wege fahre, den die wilden Horden der Tartaren jederzeit abschneiden konnten. Nadia fasste Michael Strogoff's Hand sicherer und trat zur Seite. Die Kibitka hielt; laechelnd sah deren Fuehrer das junge Maedchen an. "Ei, wo wandert Ihr denn hin?" fragte er mit freundlich theilnehmendem Blicke. Der Ton dieser Stimme belehrte Michael Strogoff, dass er dieselbe irgendwo schon einmal gehoert habe. Ohne Zweifel genuegte ihm dieser Anhaltepunkt, um den Fuehrer der Kibitka wieder zu erkennen, denn seine sorgenvolle Stirn heiterte sich ploetzlich auf. "Nun, wohin wollt Ihr denn? wiederholte der junge Mann, indem er sich direct an Michael Strogoff wandte. -- Wir gehen nach Irkutsk, antwortete dieser. -- Aber, Vaeterchen, Du weisst wohl gar nicht, dass es noch viele, viele Werst bis Irkutsk ist. -- O ja, das weiss ich. -- Und Du reisest zu Fuss? -- Wie Du siehst. -- Fuer Dich mag das angehen, aber die junge Dame ... -- Das ist meine Schwester, fiel Michael Strogoff ein, der es fuer gerathener hielt, ihr diese Bezeichnung wieder beizulegen. -- Ja, das ist ganz gut, Vaeterchen. Aber traue meinem Worte, sie wird zu Fuss niemals nach Irkutsk kommen. -- Guter Freund, begann Michael Strogoff und naeherte sich dem Wagen, die Tartaren haben uns gepluendert und ich besitze keine Kopeke, sie Dir anzubieten; doch wenn Du nur meine Schwester mit auf den Wagen nehmen willst, so werd' ich Dir gern zu Fuss folgen, noethigenfalls laufen, um Dich keine Stunde aufzuhalten ... -- Aber, Bruder, fiel ihm Nadia in's Wort,... ich will das nicht, nein, ich will nicht!... Mein Bruder ist blind, mein Herr! -- Blind! rief der junge Mann mit bewegter Stimme. -- Die Tartaren blendeten ihm die Augen durch Feuer! setzte Nadia dazu, waehrend sie die Haende ausstreckte, um sein Mitleid anzurufen. -- Die Augen haben sie Dir ausgebrannt? - O, Du armes Vaeterchen! - Nun, ich will nach Krasnojarsk. Warum willst Du nicht mit Deiner Schwester auf meinem Wagen Platz nehmen? Wenn wir uns etwas einrichten, werden alle drei Platz finden. Mein Hund wird nichts dagegen haben, weiter zu Fuss zu gehen. Nur fahre ich nicht sehr schnell, um mein Pferd zu schonen. -- Wie ist Dein Name, Freund? fragte Michael Strogoff. -- Ich heisse Nicolaus Pigassof. -- Diesen Namen werd' ich niemals vergessen, betheuerte Michael Strogoff. -- Nun komm, steig' auf, blindes Vaeterchen. Hinten im Wagen mag Deine Schwester neben Dir sitzen; ich werde davor Platz finden, um das Pferd zu fuehren. Im Wagen liegt schoene Birkenrinde und Gerstenstroh - es ist wie ein warmes Nest darin. Allons, Sersko, mach' Platz!" Der Hund sprang, ohne sich bitten zu lassen, herab. Er war von sibirischer Race mit grauem Fell, von mittlerer Groesse, mit grossem, gutmuethigem Kopfe und schien sehr an seinem Herrn zu haengen. Michael Strogoff und Nadia richteten sich schnell in der Kibitka ein. Michael Strogoff hatte die Haende ausgestreckt, um die Nicolaus Pigassof's zu suchen. "Meine Hand willst Du druecken, Vaeterchen? sagte Nicolaus. Hier ist sie! Druecke sie, soviel es Dir Vergnuegen macht." Die Kibitka setzte sich wieder in Bewegung. Das Pferd, welches Nicolaus Pigassof nie mit der Peitsche antrieb, war ein Passgaenger. Wenn Michael Strogoff auch an Schnelligkeit nicht viel gewann, so blieben ihm und Nadia doch weitere Koerperanstrengungen erspart. Die Erschoepfung des jungen Maedchens war auch so gross, dass es, geschaukelt von dem gleichmaessigen Schwanken der Kibitka, bald in tiefen, fast todtenaehnlichen Schlaf verfiel. Michael Strogoff und Nicolaus Pigassof betteten die muede Schlaeferin so gut es ging auf Birkenlaub und Stroh. Der mitleidige junge Mann war innig bewegt, und wenn sich aus Michael Strogoff's Lidern keine Thraene draengte, so lag es daran, dass das gluehende Eisen deren Quelle versiegen gemacht hatte. "Es ist ein nettes Maedchen, sagte Nicolaus. -- O ja, erwiderte Michael Strogoff. -- Die Pueppchen wollen immer stark sein, Vaeterchen, immer muthig, und im Grunde sind sie doch nur schwach. - Kommt Ihr von weit her? -- Von sehr weit. -- Arme Leutchen, - das musste Dir sehr weh thun, als sie Deine Augen verbrannten. -- Ja gewiss, erwiderte Michael Strogoff sich umwendend, als haette er Nicolaus sehen koennen. -- Und Du weintest dabei nicht? -- Doch. -- O, ich haette wohl auch geweint. Zu denken, dass man seine Lieben niemals wiedersehen soll! Aber, sie koennen Euch doch sehen, darin liegt ja wenigstens _ein_ Trost. -- Ja, vielleicht. - Sage mir, Freund, fragte Michael Strogoff, solltest Du mich noch niemals gesehen haben? -- Dich, Vaeterchen? Dass ich nicht wuesste. -- Mir kommt der Ton Deiner Stimme so bekannt vor. -- Sieh da! versetzte Nicolaus laechelnd. Er kennt den Klang meiner Stimme. Du fragst mich das vielleicht, um zu erfahren, woher ich komme. O, das will ich Dir sagen. Ich komme von Kolyvan. -- Von Kolyvan? wiederholte Michael Strogoff. Dann bin ich Dir aber doch begegnet. Du warst dort im Telegraphenamte? -- Das trifft, bestaetigte Nicolaus. Ich wohnte daselbst als Beamter. -- Und bliebst dort bis zum letzten Augenblick? -- Nun, ich war wohl verpflichtet, bis zum Aeussersten auszuharren. -- Das geschah an dem Tage, da ein Englaender und ein Franzose, die Haende voller Rubelstuecke, sich um den Platz an Deinem Schalter stritten und der Englaender die ersten Verse der Bibel abtelegraphiren liess? -- Das mag sein, Vaeterchen, doch ich entsinne mich dessen nicht. -- Wie? Daran erinnerst Du Dich nicht? -- Ich lese die abzusendenden Depeschen niemals. Es ist meine Pflicht, sie zu vergessen, und das Kuerzeste, gar keine Kenntniss von ihnen zu nehmen." Diese Antwort schloss Michael Strogoff den Mund. Inzwischen bewegte sich die Kibitka in ihrem maessigen Tempo weiter, das Michael Strogoff so gern etwas beschleunigt haette. Doch Nicolaus und sein Pferd erschienen an jenes so gewoehnt, dass weder der Eine noch das Andere je davon abgingen. Drei Stunden lang zog das Pferd in gleichem Schritte weiter, dann ruhte es waehrend einer Stunde, - und das Tag und Nacht. An den Haltestellen weidete das Thier und die Insassen der Kibitka nahmen in Gesellschaft des treuen Sersko einen Imbiss ein. Die Kibitka war mindestens fuer zwanzig Personen verproviantirt, und Nicolaus stellte opferwillig seine Vorraethe den beiden Gaesten, die er fuer Bruder und Schwester hielt, zur Verfuegung. Nach eintaegiger Ruhe gewann Nadia ihre Kraefte so ziemlich wieder. Nicolaus sorgte nach Kraeften fuer ihr Wohlergehen. Die Reise ging, wenn auch langsam, doch regelmaessig und unter ganz leidlichen Verhaeltnissen von statten. Es kam auch vor, dass Nicolaus waehrend der Nacht, die Zuegel in den Haenden, einschlief, wobei sein ungestoertes Schnarchen ein beredtes Zeugniss fuer sein ruhiges Gewissen ablegte. Dann haette man beobachten koennen, dass Michael Strogoff die Zuegel des Pferdes zu erlangen und dieses in schnelleren Gang zu bringen suchte, zum groessten Erstaunen Sersko's, der das indess schweigend geschehen liess. Unwiderruflich verlangsamte sich dieser Trab aber sofort wieder zu dem alten Passgang, sobald Nicolaus erwachte; nichtsdestoweniger hatte die Kibitka einige Werst ueber die reglementmaessige Geschwindigkeit gewonnen. So kreuzte man den Ischimsk-Strom, durchzog die Flecken Ischimskoe, Berikylskoe, Kuskoe, den Mariinsk-Fluss, die gleichnamige Ortschaft, Bogostowskoe und kam endlich ueber den Tschula, einen unbedeutenderen Wasserlauf, der Westsibirien von Ostsibirien scheidet. Die Strasse durchschnitt hier bald ungeheure Haiden, welche einen ausgedehnten Ueberblick gestatteten, bald dichte Tannenwaelder, die gar kein Ende zu nehmen schienen. Alles war oede; die Wohnstaetten der Menschen fast ausnahmslos verlassen. Die Landleute fluechteten sich ueber den Yenisei, in der Meinung, dass dieser breite Strom den Tartaren Halt gebieten werde. Am 22. August erreichte die Kibitka den Flecken Atschinsk, 380 Werst von Tomsk. Hundertzwanzig Werst trennten sie nun noch von Krasnojarsk. Kein Zwischenfall hatte die Fahrt gestoert. Seit sechs Tagen vereinigt waren Nicolaus, Michael Strogoff und Nadia die naemlichen geblieben, jener bezueglich seiner unerschuetterlichen Ruhe, diese unruhig und besorgt wegen der Stunde, in der sich ihr Gefaehrte von ihnen trennen wuerde. Michael Strogoff sah wirklich die durchfahrenen Landstrecken durch die Augen Nicolaus' und des jungen Maedchens. Abwechselnd beschrieben ihm Beide die Gegenden, durch welche die Kibitka fuhr. Er wusste, ob in der Umgebung ein Wald oder eine offene Ebene sei, ob sich ein verlorenes Haeuschen in der Steppe oder ein Sibirer in der Ferne zeigte. Nicolaus' Zunge stand selten still. Er liebte es, zu plaudern, und bei seiner eigenen Anschauungsweise der Dinge hoerte man ihm gern zu. Eines Tages fragte ihn Michael Strogoff, wie die Witterung sei. "O, recht schoen, Vaeterchen, antwortete er, aber wir haben nun auch die letzten angenehmen Sommertage. Der Herbst ist in Sibirien kurz und bald genug werden sich die ersten Winterfroeste melden. Vielleicht beschliessen die Tartaren, waehrend der schlechten Jahreszeit Cantonnements zu beziehen?" Unglaeubig schuettelte Michael Strogoff den Kopf. "Du glaubst es nicht, Vaeterchen, bemerkte Nicolaus. Du denkst, sie werden bis Irkutsk vordringen? -- Ich fuerchte es, erwiderte Michael Strogoff. -- Ja ... Du kannst Recht haben. Sie haben da einen Schurken bei sich, der ihren Kriegseifer nicht auf halbem Wege erkalten lassen wird. - Hast Du von Iwan Ogareff gehoert? -- Gewiss. -- Weisst Du, dass es sehr schlecht ist, sein Vaterland zu verrathen? -- Ja, das ist es ... antwortete Michael Strogoff, der seine Ruhe muehsam zu bewahren suchte. -- Vaeterchen, versetzte Nicolaus, mir scheint, es empoert Dich gar nicht so sehr, von Iwan Ogareff sprechen zu hoeren. Jedes russische Herz zittert doch sonst vor Wuth, wenn man diesen Namen ausspricht. -- Glaube mir, Freund, ich hasse ihn mehr, als Du ihn jemals hassen koenntest. -- Das ist unmoeglich, erklaerte Nicolaus; nein, das ist nicht moeglich! Wenn ich an Iwan Ogareff denke, an das Boese, das er unserm heiligen Russland zugefuegt hat, so uebermannt mich der Zorn und wenn ich ihn unter den Haenden haette ... -- Nun, wenn Du ihn haettest, Freund? -- Ich glaube, ich wuerde ihn umbringen. -- Und ich, ich weiss das gewiss", erklaerte ruhig Michael Strogoff. Siebentes Capitel. Die Ueberschreitung des Jenisei. Am 25. August kam die Kibitka mit sinkendem Tage in Sicht von Krasnojarsk an. Die Reise von Tomsk bis hierher hatte acht Tage in Anspruch genommen. Wenn sie trotz aller Bemuehungen Michael Strogoff's nicht schneller vor sich ging, kam das daher, dass Nicolaus nur sehr wenig schlief. Daraus ergab sich die Unmoeglichkeit, die Gangart seines Pferdes zu beschleunigen, das unter anderen Haenden nur sechzig Stunden zu dieser Strecke gebraucht haette. Zum Glueck war von den Tartaren noch gar nichts zu spueren. Kein Plaenkler liess sich bis jetzt auf der von der Kibitka verfolgten Strasse sehen. Es erschien das ganz unbegreiflich, und offenbar musste ein sehr gewichtiger Umstand die Truppen des Emirs verhindert haben, ohne Verzug nach Irkutsk zu weiter zu marschiren. In der That war ein solches Hinderniss eingetreten. Ein neues in aller Eile gesammeltes russisches Corps war aus dem Gouvernement Jeniseisk auf Tomsk gezogen, um diese Stadt womoeglich wieder zu erobern. Freilich erwies es sich der Heeresmacht Feofar-Khan's gegenueber noch zu schwach und hatte sich wieder zurueckziehen muessen. Nach Vereinigung seiner eigenen Truppen mit den Soldaten der Khanate von Khokhand und Kunduz verfuegte Feofar-Khan ueber eine Gesammtzahl von 250,000 Mann, denen die russische Regierung noch keine hinreichende Truppenmacht entgegen zu stellen vermochte. So fruehzeitig die Invasion zu ersticken schien nicht ausfuehrbar, und jedenfalls konnten die Tartarenhaufen versuchen, nach Irkutsk aufzubrechen. Am 22. August kam es zu jenem Treffen bei Tomsk, von dem Michael Strogoff zunaechst nichts wusste, das aber hinreichend erklaert, warum der Vortrab des Emirs Krasnojarsk noch am 25. unbelaestigt gelassen hatte. Kannte Michael Strogoff auch die juengsten Ereignisse nicht, so wusste er doch das Eine, dass er den Tartaren um mehrere Tage voraus war und nicht daran zu verzweifeln brauchte, Irkutsk vor ihnen zu erreichen. Die Hauptstadt Ostsibiriens lag jetzt noch 850 Werst (= 900 Kilometer) von ihm entfernt. Er rechnete uebrigens darauf, dass es ihm in Krasnojarsk, einer Stadt von etwa 12,000 Seelen, an Transportmitteln nicht fehlen koenne. Da Nicolaus Pigassof in dieser Stadt bleiben wollte, machte sich die Beschaffung eines Fuehrers und eines anderen schnelleren Fuhrwerkes noethig. Michael Strogoff hoffte, es werde ihm, wenn er sich an den Gouverneur der Stadt wendete, seine Identitaet und seine Eigenschaft als Courier des Czaaren nachwies, - was ihm nicht schwer fallen konnte, - gewiss gelingen, mit dessen Hilfe Irkutsk in kuerzester Zeit zu erreichen. Er hatte dann dem wackeren Nicolaus Pigassof nur noch seinen herzlichen Dank abzustatten und unverzueglich mit Nadia abzureisen, denn diese wollte er nicht eher verlassen, als bis er sie den Haenden ihres Vaters uebergeben haette. Nicolaus' Entschluss, in Krasnojarsk zu bleiben, galt freilich nur "unter der Bedingung, dort Verwendung zu finden". Dieses Muster eines Beamten strebte nur darnach, sich, nachdem er seinen Posten in Kolyvan bis zum letzten Augenblick behauptet, der Telegraphen-Verwaltung sofort wieder zur Verfuegung zu stellen. "Wie koennte ich einen Gehalt angreifen, den ich nicht verdient haette?" wiederholte er mehrfach. Fuer den Fall, dass man seiner Dienste auch in Krasnojarsk nicht benoethigte, wollte er, da letztere Stadt mit Irkutsk noch immer in telegraphischer Verbindung stehen musste, sich entweder nach Udinsk, oder auch nach der Hauptstadt Sibiriens begeben. Dann setzte er aber seine Reise mit dem Bruder und der Schwester fort, und wo haetten diese einen sicherern Fuehrer, einen ergebeneren Freund finden koennen? Die Kibitka befand sich jetzt nur noch eine halbe Werst von Krasnojarsk. Rechts und links bemerkte man jene zahlreichen Kreuze, wie sie sich hier an den Strassen in der Naehe der Stadt finden. Es war um sieben Uhr des Abends. An dem klaren Himmel zeichneten sich die Silhouetten der Kirchen und die Profile der an dem steilen Abhange des Jenisei erbauten Haeuser ab. Das Wasser des Flusses erglaenzte in den letzten Lichtstrahlen der Atmosphaere. Die Kibitka hielt an. "Wo sind wir, Schwester? fragte Michael Strogoff. -- Eine halbe Werst von den ersten Haeusern der Stadt, belehrte ihn Nadia. -- Ist die ganze Stadt eingeschlafen? fuhr Michael Strogoff fort. Kein Laut dringt zu meinen Ohren. -- Und ich sehe auch kein Licht erglaenzen, keinen Rauch in die Luft emporsteigen, fuegte Nadia hinzu. -- Eine eigenthuemliche Stadt! sagte Nicolaus. Hier macht man keinen Laermen und legt sich sehr zeitig nieder!" In Michael Strogoff stieg eine boese Ahnung auf. Er hatte Nadia noch nicht mitgetheilt, welche Hoffnung er auf Krasnojarsk setzte, wo er die Mittel zur sicheren Fortsetzung ihrer Reise zu erlangen glaubte. Jetzt fuerchtete er, seine Hoffnung werde noch einmal getaeuscht werden. Aber Nadia hatte seine Gedanken errathen, obgleich sie nicht begriff, warum ihr Gefaehrte jetzt, nach Verlust des kaiserlichen Handschreibens, so sehr eilte, nach Irkutsk zu kommen. Eines Tages hatte sie mit Bezug hierauf auch einige Worte fallen lassen. "Ich habe geschworen, nach Irkutsk zu gehen!" Darauf beschraenkte sich seine ganze Antwort. Um jedoch den Zweck seiner Sendung zu erfuellen, musste er in Krasnojarsk noch ein schnelles Befoerderungsmittel finden. "Nun, Freund, wandte er sich an Nicolaus, weshalb fahren wir nicht weiter? -- Ich befuerchte, die Bewohner der Stadt durch das Geraeusch unsres Wagens aus dem Schlafe zu stoeren." Durch einen leichten Streich mit der Peitsche setzte Nicolaus sein Pferd wieder in Bewegung. Sersko schlug einige Male an und die Kibitka rollte maessig schnell die Strasse hinab, die nach Krasnojarsk hinein fuehrte. Zehn Minuten spaeter befand sie sich in der Hauptstrasse. Auch Krasnojarsk war verlassen! Kein Athener belebte "das nordische Athen", wie Frau von Bourboulon die Stadt genannt hat. Keine jener so praechtig bespannten Equipagen rollte durch die breiten, reinlichen Strassen. Kein Fussgaenger wandelte auf den Trottoirs der schoenen, in monumentalem Style erbauten Holzhaeuser. Keine elegante, nach neuester Pariser Mode gekleidete Sibirerin, promenirte in jenem herrlichen Parke, der, in einem Birkenwalde angelegt, sich bis an das Ufer des Jenisei fortsetzte. Die grosse Glocke der Kathedrale schwieg, die Glockenspiele der Kirchen blieben stumm, waehrend sonst nur selten der Gesang derselben in den russischen Staedten nicht ertoent. Doch hier war Alles erstorben. Kein lebendes Wesen athmete mehr in der sonst so verkehrsreichen Stadt! Das letzte Telegramm aus dem Cabinet des Czaaren vor Unterbrechung der telegraphischen Verbindung befahl dem Gouverneur, der Garnison, den Einwohnern allen, Krasnojarsk zu verlassen, jeden werthvollen Gegenstand und Alles, was den Tartaren haette von Nutzen sein koennen, wegzuschaffen und nach Irkutsk zu fluechten. Dieselbe Verordnung traf die Einwohner aller kleineren Ortschaften der Provinz. Die russische Regierung suchte vor den Schritten der Feinde eine Wueste herzustellen. Solche eines Rostopschin wuerdige Befehle wurden nicht einen Augenblick lang kritisirt. Man kam ihnen einfach nach, und deshalb blieb auch kein lebendes Wesen in Krasnojarsk zurueck. Michael Strogoff, Nadia und Nicolaus durchwanderten schweigend die Strassen der Stadt. Sie selbst verursachten das einzige Geraeusch, das in dieser todten Stadt ertoente. Von den Empfindungen, die ihn marterten, liess Michael Strogoff zwar aeusserlich nichts merken, aber es kochte doch manchmal auf in ihm ueber das unersaettliche Missgeschick, welches ihn verfolgte und seine Hoffnungen noch einmal so bitter taeuschte. "Grosser Gott, jammerte Nicolaus, in dieser Wuestenei werde ich meinen Gehalt nimmer ehrlich verdienen koennen. -- Guter Freund, redete ihm Nadia zu, Sie werden mit uns den Weg nach Irkutsk einschlagen muessen. -- Freilich muss ich das! antwortete Nicolaus. Zwischen Udinsk und Irkutsk muss die Leitung noch im Stande sein und da ... Wollen wir weiter, Vaeterchen? -- Warten wir bis morgen, erwiderte Michael Strogoff. -- Du hast Recht, bestaetigte Nicolaus. Wir muessen den Jenisei passiren und dazu sehen koennen. -- Sehen koennen!" murmelte Nadia mit einem Gedanken an ihren blinden Gefaehrten. Nicolaus hatte doch ihre Bemerkung gehoert und wendete sich an Michael Strogoff. "Verzeihe, Vaeterchen, sagte er. Ach, Nacht und Tag, das ist fuer Dich ja gleichgiltig! -- Mache Dir keine Vorwuerfe, Freund, beruhigte ihn Michael Strogoff und strich dabei mit der Hand ueber seine Augen. Mit Dir als Fuehrer kann ich auch noch etwas nuetzen. Ruhe jetzt einige Stunden aus. Auch Nadia mag sich durch den Schlummer staerken. Morgen wird es ja wieder Tag." Michael Strogoff, Nadia und Nicolaus hatten nicht lange zu suchen, um eine Ruhestaette zu finden. Das erste Haus, dessen Thuere sie oeffneten, war ja ebenso leer, wie alle die anderen. Nur einige Haufen Laubwerk fanden sich darin vor. In Ermangelung besseren Futters musste das Pferd sich mit diesem begnuegen. Von dem noch nicht erschoepften Proviant aus der Kibitka erhielt jeder seinen Theil. Nachdem sie dann vor einem bescheidenen, an der Wand haengenden Bilde der Panaghia, welches das letzte Flaemmchen einer Lampe beleuchtete, ihre Knie gebeugt, schliefen Nicolaus und das junge Maedchen bald ein, waehrend Michael Strogoff, den der Schlaf noch floh, neben ihnen wachte. Am folgenden Tage, dem 26. August, fuhr die wieder angeschirrte Kibitka durch den Birkenpark nach dem Ufer des Jenisei. Michael Strogoff war sehr besorgt. Auf welche Weise sollte der Fluss ueberschritten werden, wenn man, wie anzunehmen war, alle Boote und Faehren zerstoert hatte, um das Vordringen der Tartaren zu verzoegern? Er kannte den Jenisei, den er schon manchmal passirte, sehr gut, ebenso die betraechtliche Breite desselben, wie die heftigen Stromschnellen zwischen den Inseln in seinem Bette. Unter gewoehnlichen Verhaeltnissen verlangt die Ueberschreitung des Jenisei mittels besonderer fuer den Transport von Reisenden, Wagen und Pferden eingerichteter Faehren eine Zeit von drei Stunden, und dabei erreichen diese Faehrboote das rechte Ufer nur unter dem Aufwande der groessten Anstrengungen. Wie sollte nun, beim Mangel jedes Transportmittels, die Kibitka von einem Ufer zum andern gelangen? "Und ich muss doch hinueber kommen!" sagte sich Michael Strogoff wiederholt. Der Tag begann zu grauen, als die Kibitka an einer dort auslaufenden Allee des Parkes das linke Stromufer erreichte. An dieser Stelle erhebt sich das Uferland etwa hundert Fuss ueber der Wasserflaeche, so dass diese bis auf weite Entfernung hin zu uebersehen ist. "Entdeckt Ihr eine Faehre? fragte Michael Strogoff, indem er seine Augen, eine Folge frueher Gewohnheit, hier- und dorthin wendete, als koenne er selbst noch sehen. -- Noch ist es kaum Tag, antwortete Nadia. Auf dem Strome liegt ein so dichter Dunst, dass man kaum das Wasser zu sehen vermag. -- Doch ich hoere das Rauschen der Wellen", setzte Michael Strogoff noch hinzu. Wirklich drang aus den tieferen Nebelschichten ein Brausen von auf einander treffenden Stroemungen und Gegenstroemungen herauf. Das zu dieser Jahreszeit sehr angeschwollene Wasser rauschte mit furchtbarer Gewalt dahin. Alle Drei horchten und warteten auf das Verschwinden des Nebelvorhanges. Rasch stieg nun die Sonne ueber den Horizont empor und ihre ersten warmen Strahlen tranken die angesammelten Duenste weg. "Nun? fragte Michael Strogoff. -- Der Nebel beginnt zu weichen, Bruder, antwortete ihm Nadia; schon durchdringt ihn allmaelig das Licht des Tages. -- Das Niveau des Flusses siehst Du noch nicht? -- Bis jetzt noch nicht. -- Etwas Geduld, Vaeterchen, sagte Nicolaus. Es wird sich Alles machen. Da, es erhebt sich schon ein frischer Wind; er wird die Nebel bald vertreiben. Schon zeigen die hohen Huegel des andern Ufers ihre dichten Baumreihen. Die dienstwilligen Sonnenstrahlen verzehren die angehaeuften Wasserduenste. O, wie schoen das ist, Du armer Blinder, und welches Unglueck fuer Dich, dies praechtige Schauspiel nicht geniessen zu koennen! -- Siehst Du ein Fahrzeug? fragte Michael Strogoff. -- Ich sehe keines, antwortete Nicolaus. -- Sieh scharf hinaus, Freund, laengs dieses Ufers und laengs des anderen, soweit Deine Augen reichen. Ein Boot! eine Barke, nur ein Canot aus Baumrinde!" Nicolaus und Nadia, die sich an den aeussersten Birkenstaemmen des steilen Ufers anhielten, bogen sich fast bis ueber den Fluss hinaus. Ihr Gesichtskreis gewann dadurch noch mehr an Ausdehnung. Der Jenisei ist an dieser Stelle nicht weniger als anderthalb Werst breit und bildet zwei ungleich grosse Arme, in welchen die Wellen mit erstaunlicher Schnelligkeit dahin schiessen. Zwischen diesen Armen liegen mehrere Inseln zerstreut, die mit ihren Erlen, Weiden und Pappeln wie eben so viele im Flusse verankerte Fahrzeuge aussehen. Ueber diesen erheben sich die Huegel des oestlichen Ufers, gekroent mit Waeldern, deren Baumgipfel jetzt in purpurnem Morgenlichte flammten. Stromaufwaerts und stromabwaerts erstreckte sich der Lauf des Jenisei bis ueber Gesichtsweite hinaus. Das ganze wunderbar schoene Panorama entrollte sich in einem Umfange von mindestens fuenfzig Werst. Ein Boot aber zeigte sich weder am rechten noch am linken Ufer, noch auch an dem Rande der Inseln. Schafften die Tartaren also das Material zum Bau einer Schiffbruecke nicht selbst von Sueden hierher, so musste ihr Zug auf Irkutsk durch den schwer ueberschreitbaren Jenisei eine nicht unbetraechtliche Verzoegerung erfahren. "Ich erinnere mich, begann da Michael Strogoff, eines kleinen Ausschiffungsplatzes, weiter oben, nahe den letzten Haeusern von Krasnojarsk. Dort legten die Faehren an. Lass uns den Fluss hinauf ziehen, Freund, und sieh dabei zu, ob nicht eine einzige Barke vergessen worden ist." Nicolaus wendete sich nach der angedeuteten Richtung. Nadia ergriff Michael Strogoff's Hand und fuehrte ihn schnellen Schrittes dahin. Eine Barke, nur ein hinreichend grosses Boot, um die leichte Kibitka zu tragen, und in Ermangelung dessen, nur ein Kahn, um die Insassen der letzteren ueberzufuehren, - und Michael Strogoff wuerde keinen Augenblick gezoegert haben, die Ueberschreitung des Stromes zu wagen. Zwanzig Minuten spaeter hatten alle drei die beschraenkte Landungsstelle erreicht, einen kleinen Hafen, dessen letzte Haeuser bis an das Niveau des Flusses herab reichten, etwa wie ein sich an Krasnojarsk anschliessender kleiner Vorort. Auch hier fand sich jedoch kein Fahrzeug am Ufer, kein Kahn an der Pfahlwand, ja, nicht das Geringste, aus dem sich ein fuer drei Personen hinreichendes Floss haette herstellen lassen. Michael Strogoff befragte Nadia ueber den Befund, und diese gab leider die wenig trostreiche Antwort, dass ihr unter den gegebenen Verhaeltnissen eine Ueberschreitung des Flusses schlechterdings unmoeglich scheine. "Wir kommen hinueber", erklaerte Michael Strogoff. Die Nachsuchungen begannen auf's Neue. Man durchstoeberte die an dem Abhange gelegenen Gebaeude, welche ebenso verlassen waren, wie die in der eigentlichen Stadt. Hoechstens die Thueren haette man dort ausheben koennen. Es waren uebrigens nur vollkommen leere Huetten aermerer Leute. Nicolaus sah sich in der einen um, Nadia durchsuchte die andere. Selbst Michael Strogoff trat hier und da ein und tastete nach irgend einem Gegenstande, der ihm jetzt haette von Nutzen sein koennen. Nicolaus und das junge Maedchen hatten sich vergeblich in den Huetten umgesehen und wollten schon jede fernere Nachsuchung aufgeben, als sie ihre Namen rufen hoerten. Beide sahen sich auf dem Abhange um und gewahrten Michael Strogoff auf der Schwelle einer Hausthuer. "Kommt hierher!" rief dieser. Die Beiden folgten sofort seinem Rufe und traten in das Huettchen ein. "Was ist das hier? fragte Michael Strogoff und beruehrte mit der Hand verschiedene in einer Art Speisegewoelbe liegende Gegenstaende. -- Das sind Schlaeuche, bedeutete ihm Nicolaus, wahrhaftig, ein volles halbes Dutzend. -- Sind sie gefuellt? -- Ja wohl, mit Kumiss, ein Fund zu sehr gelegener Zeit, um unseren Proviant zu erneuern." Der "Kumiss" ist ein aus Stuten- oder Kameelmilch bereitetes staerkendes, sogar berauschendes Getraenk, und Nicolaus hatte alle Ursache, sich dieses Fundes zu freuen. "Leg' einen bei Seite, sagte Michael Strogoff zu ihm, aber entleere sofort alle uebrigen. -- Sogleich, Vaeterchen. -- Diese sollen uns den Jenisei ueberschreiten helfen. -- Und das Floss? -- Das stellt die Kibitka selbst vor, welche ja leicht genug ist, um selbst zu schwimmen. Uebrigens werden wir und das Pferd sie vermittels dieser Schlaeuche halten. -- Gut ausgedacht, Vaeterchen, rief Nicolaus, und mit Gottes Hilfe werden wir gluecklich den Hafen erreichen ... vielleicht nicht in gerader Linie, denn die Stroemung ist sehr stark. -- Das thut nichts, versicherte Michael Strogoff. Lass uns nur erst hinueber kommen, die Strasse nach Irkutsk finden wir schon wieder. -- An's Werk also", sagte Nicolaus, der sofort daran ging, die Schlaeuche zu entleeren und sie nach der Kibitka zu schaffen. Nur ein mit Kumiss gefuellter Schlauch ward reservirt, die andern, mit Luft aufgeblasen und sorgfaeltig verschlossen, sollten als schwimmende Traeger dienen. Zwei derselben band man an die Seiten des Pferdes, um dieses ueber Wasser zu halten. Zwei andere wurden an dem Sitzkasten der Kibitka zwischen den Raedern angebracht, um diese zu tragen und sie als Floss benutzen zu koennen. Diese Arbeit war bald vollendet. "Du wirst Dich doch nicht fuerchten, Nadia? fragte Michael Strogoff. -- Nein, Bruder, erwiderte das junge Maedchen. -- Und ich, rief Nicolaus, ich erreiche endlich die Erfuellung meiner Traeume, gleich in der Kutsche zu schwimmen." Das hier sanfter geneigte Ufer beguenstigte den Stapellauf (wenn man so sagen darf) der Kibitka. Das Pferd zog sie bis zum Rande des Wassers, und bald schwamm der ganze Apparat sammt dem Pferde auf den Wellen des Flusses. Sersko schwamm dabei munter nebenher. Die drei in dem Sitzkasten stehenden Passagiere hatten aus Vorsicht die Fussbekleidung abgelegt, doch reichte ihnen, Dank der Tragkraft jener Schlaeuche, das Wasser kaum bis an die Knoechel. Michael Strogoff fuehrte die Zuegel des Pferdes und lenkte es, nach den Anweisungen, welche ihm Nicolaus gab, schief gegen den Strom, ohne das Thier im vorzeitigen Kampfe gegen das Wasser zu sehr anzustrengen. So lange die Kibitka sich direct mit der Stroemung bewegte, ging Alles ganz gut von statten, und schon nach wenigen Minuten hatte sie die Quais von Krasnojarsk passirt. Sie wich dabei nach Norden zu ab, und es lag auf der Hand, dass sie das jenseitige Ufer nur weit stromabwaerts von der Stadt erreichen werde. Doch hierauf legte man kein besonderes Gewicht. Die Fahrt ueber den Jenisei waere nun, trotz der sehr mangelhaften Hilfsmittel, ohne zu grosse Schwierigkeit ausgefuehrt worden, wenn sich die Stroemung in ihren gewoehnlichen, regelrechten Verhaeltnissen bewegt haette. Ungluecklicher Weise kreuzten sich aber mehrere Wirbel auf der Oberflaeche des schaeumenden Wassers, und bald wurde die Kibitka, trotz aller Anstrengungen Michael Strogoff's, sie in einer andern Linie zu erhalten, unwiderstehlich in einen dieser Trichter hinein gezogen. Die Gefahr war gross. Die Kibitka hielt nicht mehr die Richtung nach dem oestlichen Ufer ein, sie ging nicht ferner stromab, sondern drehte sich mit ungemeiner Schnelligkeit und nahm eine nach dem Mittelpunkte dieser Bewegung geneigte Stellung an, wie der Reiter auf der Bahn eines engen Circus. Ihre Schnelligkeit wuchs noch mehr. Das Pferd vermochte kaum noch den Kopf ueber dem Wasser zu halten und lief Gefahr, in dem Wirbel erstickt zu werden. Auch Sersko hatte einen Stuetzpunkt an der Kibitka suchen muessen. Michael Strogoff begriff recht wohl, was hier vorging. Er fuehlte sich in einer immer enger werdenden Spirale dahin gezogen, der er nicht entgehen konnte. Er sprach kein Wort. Seine Augen schienen die Gefahr sehen zu wollen, um sie leichter zu vermeiden - sie konnten es nicht! Auch Nadia schwieg. Ihre Haende klammerten sich krampfhaft an das Geruest des Wagens, und so sicherte sie sich gegen die ungeordneten Bewegungen desselben, als er sich immer mehr dem Depressionscentrum zuneigte. Begriff auch Nicolaus den ganzen Ernst der Lage? Ueberwog in ihm das Phlegma oder die Verachtung der Gefahr, der Muth oder die Gleichgiltigkeit? Hatte das Leben keinen Werth fuer ihn und galt es ihm, nach einem Ausdrucke der Orientalen, so viel, "wie eine Hotelwohnung fuer fuenf Tage", die man wohl oder uebel am sechsten Tage raeumen muss? Jedenfalls zeigte sein immer laechelndes Gesicht keine Spur einer Veraenderung. Die Kibitka verblieb also in dem reissenden Strudel und das Pferd stand am Ende seiner Kraefte. Ploetzlich warf Michael Strogoff alle Kleidungsstuecke, die ihm hinderlich sein konnten, ab und stuerzte sich in das Wasser; dann ergriff er mit maechtigem Arme den Zuegel des halb scheu gewordenen Pferdes und riss es so maechtig fort, dass es sich bis ueber den anziehenden Kreiswirbel hinaus arbeitete, und sobald die Kibitka wieder in die geordnete Stroemung kam, trieb sie mit erneuter Schnelligkeit weiter. "Hurrah!" rief Nicolaus. Nur zwei Stunden nach dem Verlassen des Landungsplatzes hatte die Kibitka den groesseren Arm des Stromes ueberschritten und landete, freilich sechs Werst stromab von der Abfahrtsstelle, an dem Ufer einer Insel. Das Pferd zog nun den Wagen vollends hinauf auf das Land, wo dem wackeren Thiere gern eine Stunde Ruhe gegoennt wurde. Dann fuhr die Kibitka unter dem schuetzenden Dache praechtiger Birken quer ueber das ganze Eiland und langte an dem schmaeleren Arme des Jenisei an. Hier vollzog sich die Ueberfahrt leichter. Kein Wasserwirbel unterbrach den Strom des zweiten Bettes, die Bewegung des Wassers war aber eine so schnelle, dass die Kibitka das rechte Ufer erst fuenf Werst stromabwaerts erreichte. Im Ganzen war sie also um elf Werst verschlagen worden. Diese grossen Stromadern des sibirischen Gebietes, welche bis jetzt noch nirgends ueberbrueckt sind, bilden ueberall sehr fuehlbare Hindernisse der Communication. Alle erwiesen sich auch Michael Strogoff mehr oder weniger verderblich. Auf dem Irtysch hatten die Tartaren die Faehre, welche ihn und Nadia trug, angefallen. Beim Obi war er, nachdem sein Pferd einer Kugel erlag, nur wie durch ein Wunder den ihn verfolgenden Reitern entkommen. Alles in Allem lief diese Ueberschreitung des Jenisei noch verhaeltnissmaessig am gluecklichsten ab. "Das waere gar nicht so amuesant gewesen, aeusserte Nicolaus, als er, sich die Haende reibend, das rechte Ufer hinauf stieg, wenn es nicht solche Schwierigkeiten geboten haette. -- Und was fuer uns nur schwer durchzufuehren war, antwortete Michael Strogoff, das, guter Freund, wird fuer die Tartaren nahezu unmoeglich sein!" Achtes Capitel. Ein Hase, der ueber den Weg laeuft. Michael Strogoff konnte nun endlich glauben, dass die Strasse bis nach Irkutsk frei sei. Er hatte die bei Tomsk zurueckgehaltenen Tartaren gewiss weit ueberholt, und wenn die Soldaten des Emirs nach Krasnojarsk kamen, fanden sie da nur eine verlassene Stadt und ausserdem keinerlei Hilfsmittel zur Ueberschreitung des Jenisei. Einige Tage Aufenthalt ergaben sich hieraus unzweifelhaft, da man erst eine hier noch dazu schwer anzubringende Schiffsbruecke schlagen musste, um sich einen Uebergang herzustellen. Zum ersten Male seit dem traurigen Zusammentreffen mit Iwan Ogareff in Omsk fuehlte sich der Courier des Czaaren weniger beunruhigt und durfte hoffen, dass sich kein neues Hinderniss zwischen ihm und seinem Ziel erheben werde. Die Kibitka rollte nun schraeg nach Suedosten und traf nach einem Wege von etwa fuenfzehn Werst wieder auf die lange Strasse durch die Steppe. Der Weg hier war gut, ja dieser Theil der Strasse zwischen Krasnojarsk und Irkutsk wird sogar fuer den besten gehalten. Der Wagen erlitt keine Stoesse durch unebenen Boden mehr, dichter Schatten schuetzte die Reisenden vor den Strahlen der Sonne, und manchmal erhoben sich hier Waelder von Fichten und Cedern, die sich wohl hundert Werst weit erstrecken. Hier dehnt sich nicht mehr die unendliche Steppe aus, deren Grenzlinie am Horizont mit der des Himmels verschmilzt. Doch dieses reiche Land war jetzt leer, alle Flecken und Doerfer verlassen. Hier gab es keine sibirischen Bauern mehr, die zum groessten Theil einen slavischen Typus zeigen. Rings gaehnte eine Wueste und, wie wir wissen, eine kuenstliche Wueste auf Befehl der Regierung. Das Wetter hielt sich schoen; bei den schon kuehleren Naechten aber erwaermte sich die Luft nur schwer an den Strahlen der Sonne. Schon rueckten die ersten Tage des Septembers heran, und in dieser in ziemlich hoher Breite gelegenen Gegend verkuerzte sich zusehends der Bogen des Tagesgestirns ueber dem Horizont. Der Herbst waehrt hier nicht lange, obwohl dieser Theil des sibirischen Gebietes nicht ueber dem 55. Grade der Breite, also etwa so hoch wie Kopenhagen oder Edinburgh, liegt. Manchmal folgt sogar der Winter so gut wie unvermittelt auf den Sommer. Und hart treten diese Winter des asiatischen Russlands auch auf, wenn man bedenkt, dass sie das Quecksilber im Thermometer nicht selten zum Gefrieren bringen (was ja erst bei ungefaehr 42 deg. unter Null geschieht) und man eine Temperatur von -20 deg. fuer eine ganz ertraegliche haelt. Die Witterung beguenstigte also die Reisenden; sie war weder stuermisch noch regnerisch, die Hitze nur maessig, die Naechte frisch. Nadia's und Michael Strogoff's Gesundheit erhielt sich stets gut, ja seit der Abreise aus Tomsk hatten sie fast alle frueheren Beschwerden vergessen. Nicolaus Pigassof befand sich niemals besser als jetzt. Ihm galt diese Reise fuer einen Spazierweg, eine angenehme Excursion, mit der er seine freie Zeit als dienstloser Beamter ausfuellte. "Ganz entschieden, behauptete er, ist das weit besser, als zwoelf Stunden des Tages auf dem Stuhle am Schalter zu sitzen oder mit dem Manipulator (der Handgriff an den Telegraphenapparaten, mit dem die elektrischen Zeichen gegeben werden) zu arbeiten." Inzwischen gelang es Michael Strogoff auch, Nicolaus zu vermoegen, dass er das Pferd in etwas schnelleren Gang brachte. Um das zu erreichen, hatte er ihm anvertraut, dass Nadia und er im Begriffe seien, ihren nach Irkutsk verbannten Vater aufzusuchen, und dass sie grosse Eile haetten, dahin zu kommen. Natuerlich durfte man dem Pferde nicht zu viel zumuthen, denn wahrscheinlich traf man auf dem Wege kein anderes, um dasselbe zu ersetzen; wurde ihm aber nach etwa je fuenfzehn Werst genuegend Ruhe gegoennt, so konnte man in vierundzwanzig Stunden doch bequem sechzig Werst zuruecklegen. Uebrigens war das Pferd gut bei Kraeften und schon seiner Race nach fuer laengere Anstrengungen besonders geeignet. An reichlichem Futter fehlte es ihm laengs der Strasse nicht, ueberall sprosste fettes, frisches Gras fast im Ueberfluss. Also konnte man ihm ein solches Arbeitsquantum wohl zumuthen. Nicolaus fuegte sich diesen Gruenden. Ihm ging die Lage dieser jungen Leute, welche sich anschickten, das Exil ihres Vaters zu theilen, herzlich nahe. Nichts erschien ihm ruehrender. Mit zufriedenem Laecheln sagte er auch zu Nadia: "Himmlische Guete, wie wird sich auch Herr Korpanoff freuen, wenn seine Augen Euch wahrnehmen, seine Arme sich zum Empfange oeffnen. Wenn ich bis Irkutsk mitgehe, und wie die Sachen liegen, wird mir das immer wahrscheinlicher, werdet Ihr mir gestatten, Zeuge dieses Wiedersehens zu sein? Ja, nicht wahr?" Dann schlug er sich vor die Stirn. "Aber wenn ich an seinen Schmerz denke, fuhr er fort, zu sehen, dass sein armer Sohn geblendet worden ist! O, in dieser Welt mischt sich Freude und Schmerz doch immer!" Jedenfalls bewegte sich die Kibitka jetzt schneller vorwaerts und legte, Michael Strogoff's Rechnung nach, zehn bis zwoelf Werst in der Stunde zurueck. Am 28. August kamen die Reisenden durch den Flecken Balaisk, achtzig Werst von Krasnojarsk, und am 29. durch Ribinsk, vierzig Werst von Balaisk. Am folgenden Tage erreichte die kleine Gesellschaft in einer Entfernung von fuenfunddreissig Werst Kamsk, einen groesseren Ort, den der gleichnamige Fluss, ein kleiner von den Sayanskbergen herabkommender Nebenarm des Jenisei, bespuelt. Die Stadt bildet eigentlich nur eine rings um einen grossen Platz errichtete Gruppe von hoelzernen Haeusern; ueber diese hinaus ragt aber der hohe Glockenthurm einer Kathedrale, deren goldenes Kreuz hell in der Sonne funkelte. Die Haeuser waren verlassen. Kein Relais war bedient, kein Gasthof bewohnt; kein Pferd in den Staellen, kein Hausthier auf der Steppe. Man hatte die Befehle des moskowitischen Gouvernements mit peinlicher Strenge vollzogen. Was nicht fortgeschafft werden konnte, wurde zerstoert. Als sie Kamsk verliessen, theilte Michael Strogoff seinen beiden Reisegefaehrten mit, dass sie nun bis Irkutsk nur noch ein kleines Staedtchen, Nishny-Udinsk, antreffen wuerden. Nicolaus antwortete, dass er dasselbe um so besser kenne, weil sich daselbst eine Telegraphenstation befinde. Erwies sich also auch Nishny-Udinsk so menschenleer wie Kamsk, so blieb ihm gar nichts anderes uebrig, als in der Hauptstadt Ostsibiriens Beschaeftigung zu suchen. Die Kibitka konnte den Fluss an einer seichten Stelle ohne viel Beschwerde passiren und gelangte wieder auf die Strasse, auf welcher nun, zwischen Jenisei und einem seiner groessten Zufluesse, der Angara, die Irkutsk selbst beruehrt, wenigstens bezueglich der Wasserlaeufe, ein ernsthaftes Hinderniss nicht mehr zu gewaertigen war, wenn nicht vielleicht die Dinka noch ein solches bot. Die Reise konnte also aus diesen Gruenden nicht mehr besonders verzoegert werden. Zwischen Kamsk und dem naechsten Dorfe lag eine grosse Strecke von etwa einhundertdreissig Werst. Natuerlich wurden unterwegs die noethigen Pausen nicht versaeumt, "ohne welche man sich, wie Nicolaus sagte, einen sehr gerechtfertigten Widerspruch des Pferdes zuziehen wuerde". Nach stillschweigender Uebereinkunft wusste das treue Thier, dass es nach je fuenfzehn Werst ausruhen durfte, und wenn man, sei es auch mit einem Thiere, einen Vertrag abschliesst, so muss er von beiden Theilen auch streng beobachtet werden. Nach Ueberschreitung des kleinen Biriusaflusses erreichte die Kibitka Biriusinsk am Morgen des 4. Septembers. Dort entdeckte Nicolaus, als er sich nach Vervollstaendigung seines Mundvorraths umsah, gluecklicher Weise ein Dutzend "Pogatchas", das ist eine Art Kuchen aus Hammelfett mit einer grossen Menge in Wasser gekochtem Reis. Dieser Zuwachs passte recht gut zu dem Vorrath an Kumiss, mit dem die Kibitka in Krasnojarsk hinreichend versehen worden war. Hier wurde laengere Zeit Station gemacht und die Reise erst am Nachmittag des 5. September fortgesetzt. Die Entfernung bis Irkutsk betrug nun fuenfhundert Werst. Von dem Vortrab des Tartarenheeres zeigte sich keine Spur. Michael Strogoff glaubte also gegruendete Aussicht zu haben, seine Reise binnen acht, hoechstens zehn Tagen zu vollenden und vor dem Grossfuersten zu erscheinen. Bei der Abfahrt aus Biriusinsk lief ein Hase, etwa dreissig Schritt vor der Kibitka, ueber den Weg. "O weh! rief Nicolaus. -- Was ist Dir, Freund? fragte Michael Strogoff, wie es Blinde thun, welche das geringste Geraeusch erregt. -- Siehst Du nicht" ... antwortete Nicolaus, dessen heiteres Gesicht sich ploetzlich verduestert hatte. Doch er unterbrach sich. "Ach nein, fuhr er fort, Du kannst ja nicht sehen; das ist gut fuer Dich, Vaeterchen. -- Ich sehe aber auch nichts, sagte Nadia. -- Desto besser, desto besser! Aber ich ... ich sah ... -- Nun was denn? fragte Michael Strogoff dringender. -- Einen Hasen, der unsern Weg kreuzte!" antwortete Nicolaus. Wenn ein Hase Jemand ueber den Weg laeuft, so haelt das der Volksglaube in Russland allgemein fuer das Vorzeichen eines drohenden Ungluecks. Aberglaeubisch wie alle Russen hatte Nicolaus die Kibitka angehalten. Michael Strogoff verstand recht gut das Zoegern seines Gefaehrten, obgleich er den Glauben an eine gewisse Vorbedeutung bezueglich des vorueberlaufenden Hasen keineswegs theilte. Er suchte also Jenen zu beruhigen. "O, deshalb ist nichts zu fuerchten, Freund, sagte er. -- Fuer Dich nichts, fuer sie auch nicht, Vaeterchen, das weiss ich, erwiderte Nicolaus, wohl aber fuer mich!" Dann fuhr er fort: "Dem Schicksal kann man ja doch nicht entgehen!" Er trieb das Pferd wieder an. Trotz des ungluecklichen Vorzeichens verlief der Tag doch ohne jede Stoerung. Am naechsten Tage, dem 6. September, gegen Mittag, hielt die Kibitka in Alsalewsk, das ebenso verlassen war, wie die ganze Umgebung. Hier fand Nadia auf der Schwelle eines Hauses zwei solche starke Messer, wie sie die sibirischen Jaeger zu gebrauchen pflegen. Sie gab das eine Michael Strogoff, der es unter seinen Kleidern verbarg, und bewahrte selbst das andere. Die Kibitka befand sich nun noch fuenfundsiebzig Werst von Nishny-Udinsk entfernt. Waehrend dieser beiden Tage hatte Nicolaus niemals seine fruehere gute Laune wiederfinden koennen. Das ueble Vorzeichen hatte ihn tiefer beruehrt, als man haette glauben sollen, und wenn er frueher fast unaufhoerlich plauderte, so verfiel er jetzt manchmal in so duesteres Schweigen, dass Nadia Muehe hatte, ihn zu erwecken. Sein ganzes Innere erschien wie umgewandelt, was bei einem Bewohner des Nordens weniger auffallen darf, von dessen aberglaeubischen Vorfahren die duestere hyperboraeische Mythologie herruehrt. Von Jekaterinenburg aus verlaeuft die Strasse nach Irkutsk fast stets parallel dem 55. Breitengrade, hinter Biriusinsk aber wendet sie sich herab nach Suedosten, so dass sie den 100. Meridian schief durchschneidet. Sie haelt nun die kuerzeste Linie nach der Hauptstadt Sibiriens ein und wendet sich ueber den letzten Auslauf der Sayanskberge. Dieses Gebirge stellt selbst nur einen Vorwall der grossen Altaikette dar, welche man hier schon in einer Entfernung von zweihundert Werst vor sich sieht. Die Kibitka eilte also auf dieser Strasse hin. Ja, sie eilte. Man fuehlte recht wohl, dass Nicolaus jetzt nicht mehr daran dachte, sein Pferd zu schonen, und dass er selbst Eile hatte, anzukommen. Ein wenig Fatalist trotz seiner Resignation, hielt er sich nirgends mehr fuer sicher, als in den Mauern von Irkutsk. Gewiss haetten viele Russen dieselbe Empfindung gehabt, und nicht wenige von ihnen haetten wohl gar das Pferd gewendet, um die Stelle nicht zu ueberschreiten, an der ihnen ein Hase ueber den Weg gelaufen war! Den Beobachtungen nach, welche Jener machte und von deren Richtigkeit sich Nadia ueberzeugte, bevor sie dieselben Michael Strogoff mittheilte, schien es allerdings moeglich, dass die Reihe der ihnen bevorstehenden Pruefungen noch immer nicht abgeschlossen sei. Von Krasnojarsk bis hierher zeigte sich das Aussehen des Landes nicht sonderlich veraendert, hier aber trugen die Waelder Spuren von Zerstoerungen durch Feuer und Schwert, die Wiesen auf beiden Seiten der Strasse waren verwuestet, und es lag auf der Hand, dass daselbst eine bedeutende Truppenmacht vorueber gekommen sein musste. Dreissig Werst vor Nishny-Udinsk wurde die Spur einer erst neuerdings stattgefundenen Zerstoerung immer deutlicher, die ihrer Natur nach nur von der Hand der Tartaren herruehren konnte. Hier waren in der That die Felder nicht allein von den Hufen der Pferde zertreten, die Waelder von der Axt des Holzhauers gefaellt. Die in weiten Zwischenraeumen laengs der Strasse verstreuten Haeuser standen nicht nur leer, nein, zum Theil sah man sie verheert, zum Theil durch Feuer zerstoert. Die Waende verriethen noch durch ihre Vertiefungen das Anschlagen von Kugeln. Michael Strogoff's Beunruhigung kann man sich leicht vorstellen. Es schwand ihm jeder Zweifel, dass ein Tartarencorps vor nicht langer Zeit auf dieser Strasse gehaust hatte, und doch konnten das unmoeglich Soldaten des Emirs gewesen sein, denn sie haetten ihn, wenn sie den Wagen einholten, ganz bestimmt treffen muessen. Aber wer sollten diese neuen Eindringlinge sein, auf welchem Wege durch die Steppe waren sie bis zur Hauptstrasse nach Irkutsk vorgedrungen? Welchen neuen Feinden ging der Courier des Czaaren noch entgegen? Michael Strogoff theilte seine Befuerchtungen weder Nadia, noch Nicolaus mit, um diese nicht vor der Zeit oder vielleicht ueberhaupt unnoethig zu beunruhigen. Im Uebrigen war er ja entschlossen, seinen Weg fortzusetzen, so lange ihn kein unbesiegbares Hinderniss aufhielt. Dann wollte er sehen, was sich noch thun liesse. Am folgenden Tage kennzeichnete sich ein neuerlicher Durchzug einer starken Reiterschaar immer deutlicher. Ueber dem Horizonte lagerten verdaechtige Rauchwolken. Die Kibitka bewegte sich nur vorsichtig weiter. Da und dort brannten in einem Dorfe wohl noch einige Haeuser, die gewiss erst innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden angezuendet worden waren. Am 8. September endlich stand die Kibitka ploetzlich still; das Pferd scheute zurueck. Sersko bellte Klagelaute. "Was giebt es, fragte Michael Strogoff. -- Hier liegt ein Leichnam!" antwortete Nicolaus, der sofort vom Wagen sprang. Es war der Koerper eines graesslich verstuemmelten Mujiks. Nicolaus bekreuzte sich. Mit Michael Strogoff's Hilfe schleppte er den Todten nach der Boeschung der Strasse. Er gedachte ihn auch ordentlich zu begraben und wenigstens tief zu verscharren, um die Raubthiere der Steppe von den Resten dieses Koerpers abzuhalten, doch Michael Strogoff liess ihm nicht die Zeit dazu. "Vorwaerts, Freund, rief er, vorwaerts, wir duerfen uns auch nicht eine Stunde aufhalten." Die Kibitka setzte ihren Weg fort. Haette Nicolaus uebrigens allen Leichen, welchen sie weiterhin begegneten, die letzte Ehre erweisen wollen, er waere nimmer fertig geworden. Mehr in der Naehe von Nishny-Udinsk fand man die Koerper der Ermordeten zu Fuenfzigen auf der Erde liegend. Dennoch musste man diesem Wege so lange folgen, als es ausfuehrbar war, ohne den Feinden in die Hand zu fallen. Die Richtung wurde also unveraendert beibehalten, obgleich sich die Zeichen einer entsetzlichen Zerstoerung mit jedem Dorfe mehrten. Alle diese Ortschaften, deren Namen auf ihre Gruendung durch verbannte Polen hinwiesen, waren allen Schrecken der Verwuestung und Pluenderung ausgesetzt gewesen. Noch war das Blut der armen Opfer nicht getrocknet. Wie es ueberhaupt zu diesem furchtbaren Ereigniss gekommen war, das konnte Niemand erklaeren, da sich keine lebende Seele fand, die es haette sagen koennen. An demselben Tage Nachmittag gegen vier Uhr erkannte Nicolaus am Horizonte die hohen Thuerme der Kirchen von Nishny-Udinsk. Rings um sie waelzten sich dichte Dunstmassen, welche von Wolken offenbar nicht herruehrten. Nicolaus und Nadia sahen sich aufmerksam um und theilten Michael Strogoff die Ergebnisse ihrer Beobachtungen mit. Ein Entschluss musste gefasst werden. War die Stadt verlassen, so konnte man sie wohl ohne Gefahr passiren, hielten sie aber die Tartaren unbegreiflicher Weise besetzt, so galt es, sie um jeden Preis zu umgehen. "Lasst uns vorsichtig weiter fahren, empfahl Michael Strogoff, aber jedenfalls vorsichtig." Noch eine Werst wurde zurueckgelegt. "Das sind keine Wolken, Bruder, das ist Rauch! rief Nadia, ach, Bruder, man zuendet dort die Stadt an!" Leider wurde das mit jedem Schritte deutlicher. Mitten durch die Dunstmassen zuengelten rauchige Flammen. Immer dichter stieg der Qualm auf und waelzte sich gen Himmel. Einen Fluechtling sah man aber nicht. Wahrscheinlich fanden die Brandstifter die Stadt, welche sie der Zerstoerung weihten, schon verlassen. Waren es aber Tartaren, die diese Verwuestung anrichteten, oder thaten es Russen nur auf hoeheren Befehl? Lag es in der Absicht der Regierung des Czaaren, dass keine Stadt, kein Flecken vom Jenisei und von Krasnojarsk aus den Soldaten des Emirs eine Zuflucht bieten solle? Sollte Michael Strogoff, wenn er diese Fragen erwog, nun zurueckbleiben oder seinen Weg fortsetzen? Erst vermochte er sich nicht zu entscheiden. Nach gruendlicher Erwaegung des Fuer und Wider hielt er es aber doch fuer das Wichtigste, selbst um den Preis einer Reise durch die unwirthliche Steppe, nur den Tartaren nicht in die Haende zu fallen. Eben gedachte er Nicolaus vorzuschlagen, die Strasse zu verlassen und erst nach Umgehung von Nishny-Udinsk nach derselben zurueckzukehren, als von der rechten Seite her ein Schuss krachte. Eine Kugel pfiff herueber, und zu Tode getroffen stuerzte das Pferd der Kibitka zusammen. Gleichzeitig sprengten wohl ein Dutzend Reiter auf die Strasse und umringten die Kibitka. Michael Strogoff, Nadia und Nicolaus waren, ehe sie recht zur Besinnung kommen konnten, gefangen und wurden eiligst nach Nishny-Udinsk abgefuehrt. Auch bei diesem unerwarteten Angriff verlor Michael Strogoff seine Kaltbluetigkeit nicht. Da er seine Feinde nicht sehen konnte, war es ihm auch unmoeglich, sich irgendwie zu vertheidigen. Haette er seine Augen gebrauchen koennen, er wuerde es wohl versucht haben, obwohl das nur zu einem schrecklichen Blutvergiessen gefuehrt haette. Doch wenn er nichts sah, so konnte er doch hoeren und verstehen, was Jene sagten. An ihrer Sprache erkannte er, dass diese Soldaten Tartaren waren, und an ihren Worten, dass sie der Armee der Feinde vorausschwaermten. Aus den kurzen Reden, welche Jene jetzt fuehrten, und aus einigen Brocken ihrer spaeteren Unterhaltung erfuhr Michael Strogoff Folgendes: Diese Soldaten standen nicht unter dem directen Befehl des Emirs, der noch immer hinter dem Jenisei zurueckgehalten war. Sie bildeten eine Abtheilung einer dritten Colonne, zusammengesetzt aus Tartaren der Khanate von Khokhand und Kunduz, mit welcher sich die Armee Feofar-Khan's naechstens in der Naehe von Irkutsk zu vereinigen gedachte. Auf Iwan Ogareff's Rath hatte sich diese Abtheilung, um den Erfolg des Einfalls in die oestlichen Provinzen zu sichern, nach Ueberschreitung der Grenze des Gouvernements Semipalatinsk laengs der Suedkueste des Balkhachsee's und dem Fusse des Altaigebirges hingeschlichen. Gefuehrt von einem Officier des Khans von Kunduz erreichte sie sengend und brennend den oberen Lauf des Jenisei. Dort hatte der Officier in Voraussicht der durch den Czaaren getroffenen Massregeln zur Erleichterung des Uebergangs der Armee des Emirs eine ganze Flotille von Barken angesammelt, welche entweder als solche oder als Brueckenmaterial dienen sollten. Nach Umgehung des Gebirges war diese dritte Abtheilung dann im Thale des Jenisei herabgezogen und hatte die Strasse nach Irkutsk erst in der Naehe von Alsalewsk wieder betreten. Hieraus erklaerte sich die Anhaeufung von Ruinen jenseit dieser Stadt, das unzweifelhafte Merkmal der Kriegfuehrung dieser Horden. Nishny-Udinsk verfiel eben demselben Schicksal, und die Tartaren, in einer Gesammtstaerke von 50,000 Mann, hatten es schon verlassen, um sich einiger wichtiger Stellungen vor Irkutsk zu bemaechtigen. In kurzer Zeit sollten sie mit den Truppen des Emirs zusammentreffen. So lagen die Dinge zu jener Zeit, - gewiss eine gefaehrliche Lage fuer den vollstaendig isolirten Theil des oestlichen Sibiriens und fuer die verhaeltnissmaessig wenigen Vertheidiger seiner Hauptstadt. Michael Strogoff erfuhr also von der Ankunft einer dritten Colonne der Tartaren vor Irkutsk, sowie von der bevorstehenden Vereinigung des Emirs und Iwan Ogareff's mit der Hauptmacht ihrer Truppen. Ein Angriff auf Irkutsk und die Eroberung der Stadt erschien hiernach nur noch als eine Frage der Zeit. Welche Gedanken bestuermten hierbei Michael Strogoff! Wer wuerde erstaunen, wenn er in dieser Lage endlich allen Muth, alle Hoffnung verlor? Und doch war das nicht der Fall, denn seine Lippen murmelten immer und immer wieder die Worte: "Ich werde dennoch ankommen!" Eine halbe Stunde nach jenem Ueberfall durch die Reiter betraten Michael Strogoff, Nicolaus und Nadia Nishny-Udinsk. In einiger Entfernung folgte der treue Hund ihnen nach. In dieser ringsum brennenden Stadt, welche eben die letzten Marodeure verliessen, sollten sie nicht bleiben. Die Gefangenen wurden auf Pferde geworfen und eiligst weiter geschleppt. Nicolaus verhielt sich resignirt, wie immer, Nadia unerschuettert in ihrem Glauben an Michael Strogoff, und dieser zwar aeusserlich gleichgiltig, aber immer bereit zu entfliehen, sobald sich eine Gelegenheit boete. Den Tartaren entging es keineswegs, dass einer ihrer Gefangenen blind war, und ihre natuerliche Rohheit benutzte diesen Umstand, um mit dem armen Ungluecklichen noch ihr Spiel zu treiben. Man ritt in schnellem Schritte. Michael Strogoff's Pferd, das nur von ihm geleitet wurde, machte oefters Seitenspruenge, welche den Zug in Unordnung setzten. Dann regnete es Injurien und Rohheiten, die das Herz des jungen Maedchens brachen und Nicolaus empoerten. Aber was vermochten sie dagegen? Die Sprache der Tartaren war ihnen nicht gelaeufig und ihr Dazwischentreten wurde barsch zurueckgewiesen. Um ihrer Bosheit die Krone aufzusetzen, kamen die Soldaten auf den Gedanken, Michael Strogoff's Pferd zu wechseln und ihm auch noch ein blindes Thier zu geben. Die Ursache hierzu gab die Vermuthung eines der Reiter, den Michael Strogoff sagen hoerte: "Vielleicht kann der verdammte Russe da aber doch sehen!" Dieses geschah etwa sechzig Werst von Nishny-Udinsk, zwischen den Doerfern Tatan und Chibarlinskoe. Michael Strogoff wurde also auf dieses Pferd gesetzt, dessen Zuegel man ihm in die Hand gab. Dann trieb man es durch Peitschenschlaege, Steinwuerfe und lautes Schreien in Galop. Das blinde Pferd stiess, da es von seinem ebenfalls blinden Reiter nicht in gerader Richtung erhalten werden konnte, einmal gegen einen Baum, das andere Mal kam es ganz vom Wege ab. Dann jagten sie es mit Hieben und Stoessen wieder zurueck. Michael Strogoff widersprach nicht. Er liess keine Klage hoeren. Stuerzte sein Pferd, so wartete er, bis man es wieder auf die Fuesse brachte. Das geschah dann auch, und das grausame Spiel begann von Neuem. Bei dieser wahrhaft unmenschlichen Behandlung konnte Nicolaus sich nicht mehr zurueckhalten. Er wollte seinem Begleiter zu Hilfe eilen. Man hielt ihn zurueck und misshandelte ihn. Gewiss haette dieses Spiel noch lange Zeit zum groessten Ergoetzen der Tartaren fortgedauert, als ihm ein ernster Zwischenfall ein Ende machte. Im Laufe des 10. Septembers brach das blinde Pferd auch wieder aus und lief geraden Wegs auf eine etwa vierzig Fuss tiefe Schlucht neben der Strasse zu. Nicolaus wollte ihm nach, - man hielt ihn zurueck. Das fuehrerlose blinde Pferd stuerzte mit seinem Reiter in die Tiefe. Nadia und Nicolaus schrieen voll Entsetzen auf; sie mussten glauben, dass ihr ungluecklicher Gefaehrte bei diesem Fall zerschmettert sei. Als endlich nachgesehen wurde, traf man Michael Strogoff ausser dem Sattel und unverwundet, waehrend das Pferd zwei Fuesse gebrochen hatte und voellig dienstuntauglich geworden war. Man liess es an der Stelle verenden, ohne ihm den Gnadenstoss zu geben, und band Michael Strogoff an den Sattel eines Tartaren fest, so dass er dem Detachement zu Fusse folgen musste. Ihm entlockte es keine Klage, keinen Widerspruch! Er wanderte schnellen Schrittes, so dass sich der Strick, der ihn mit dem Reiter verband, kaum anspannte. Er blieb immer "der Mann von Eisen", von dem General Kissoff dem Czaaren gesprochen hatte. Am naechsten Tage, dem 11. September, erreichte der kleine Zug den Flecken Chibarlinskoe. Hier trug sich ein Ereigniss zu, das von sehr ernsten Folgen werden sollte. Die Nacht war gekommen. Waehrend einer Stunde der Rast hatten die tartarischen Reiter sich mehr oder weniger betrunken. Sie wollten jetzt wieder aufbrechen. Da wurde Nadia, welche bis jetzt wie durch ein Wunder von den Soldaten achtungsvoll behandelt worden war, von einem derselben insultirt. Michael Strogoff zwar sah weder die Beleidigung, noch den Beleidiger, aber Nicolaus hatte diesen fuer ihn gesehen. Ganz ruhig, ohne es sich weiter zu ueberlegen und ohne sich von seiner That Rechenschaft zu geben, schritt Nicolaus gerade auf den frechen Burschen zu, und bevor dieser eine Bewegung machen konnte, ihn aufzuhalten, ergriff Jener eine in der Satteltasche steckende Pistole und schoss sie dem Tartaren mitten auf die Brust ab. Der die Abtheilung commandirende Officier kam auf den Knall des Schusses herzugelaufen. Die Reiter wollten den ungluecklichen Nicolaus erwuergen, doch auf ein Zeichen des Officiers begnuegte man sich, ihn zu fesseln, band ihn quer auf ein Pferd, und fort ging es wieder in tollem Galop. Der Strick, mit dem Michael Strogoff angebunden war und der schon halb durchnagt sein mochte, riss bei der unerwartet heftigen Bewegung des Pferdes, und sein halb betrunkener Reiter sprengte in wildem Laufe hinaus, ohne es nur gewahr zu werden. Michael Strogoff und Nadia befanden sich allein auf der Landstrasse. Neuntes Capitel. In der Steppe. Noch einmal also waren Michael Strogoff und Nadia frei, so wie waehrend ihrer Reise von Perm bis nach den Ufern des Irtysch. Wie sehr hatte sich aber Alles veraendert! Damals gewaehrleisteten ihnen ein bequemer Tarantass, eine haeufig gewechselte Bespannung und mit allem Nothwendigen ausgestattete Poststationen eine gewisse Schnelligkeit der Fahrt. Jetzt zogen sie zu Fuss dahin, ohne die Moeglichkeit, sich ein Befoerderungsmittel zu verschaffen, ohne alle Hilfsmittel, ohne zu wissen, auf welche Weise sie nur die dringendsten Lebensbeduerfnisse befriedigen wuerden, - und dabei trennten sie noch 400 Werst von ihrem endlichen Ziele. Hierzu kam noch, dass Michael Strogoff nur durch die Augen Nadia's sah. Den Freund, den ihnen ein gluecklicher Zufall zufuehrte, hatten sie unter den traurigsten Umstaenden wieder verloren. Michael Strogoff lagerte auf der Boeschung der Strasse; Nadia stand daneben und wartete auf ein Wort von ihm, um den Weg wieder fortzusetzen. Es war um zehn Uhr Abends. Vor drei und einer halben Stunde schon verschwand die Sonne unter dem Horizonte. Kein Haus, keine Huette zeigte sich. In der Ferne verschwanden die letzten Tartaren. Michael Strogoff und Nadia standen ganz, ganz allein. "Was werden sie mit unserm Freunde anfangen? rief Nadia. Armer Nicolaus! Das Zusammentreffen mit uns musste Dir so verhaengnissvoll werden!" Michael Strogoff erwiderte nichts. "Michael, fuhr Nadia fort, weisst Du es nicht, dass er Dich zu schuetzen suchte, als Du ein Spielball der Tartaren warst, dass er sein Leben fuer Dich wagte?" Michael Strogoff schwieg noch immer. Regungslos, den Kopf in die Hand gestuetzt, hing er seinen Gedanken nach. Hoerte er ueberhaupt, da er keine Antwort gab, was das junge Maedchen zu ihm sprach? Gewiss, denn als Nadia hinzufuegte: "Wohin soll ich Dich fuehren, Michael? antwortete er: -- Nach Irkutsk. -- Auf der grossen Landstrasse? -- Ja, Nadia." Michael Strogoff vermochte nichts von dem eidlich bekraeftigten Vorhaben, sein Ziel unter allen Umstaenden zu erreichen, abzubringen. Auf der Landstrasse gelangte er auf kuerzestem Wege dahin. Wenn sich die Avantgarde von Feofar-Khan's Heere zeigte, wuerde es noch Zeit sein, den Hauptweg zu verlassen. Nadia fasste Michael Strogoff an der Hand und Beide brachen auf. Am folgenden Morgen, dem 12. September, goennten sie sich nach einem Marsche von zwanzig Werst in dem Flecken Tulunowskoe eine kurze Rast. Die ganze Nacht hindurch hatte Nadia aufmerksam nachgesehen, ob Nicolaus' Leichnam vielleicht an der Strasse liegen geblieben sei; doch vergeblich durchsuchte sie die Ruinen und musterte die da und dort angetroffenen Todten. Bis jetzt schien Nicolaus verschont geblieben zu sein. Gewiss sparte man ihn fuer eine grausame Hinrichtung nach Erreichung des Lagers bei Irkutsk auf. Erschoepft vom Hunger, der ihren Gefaehrten ebenso schrecklich quaelte, war Nadia so gluecklich, in einem Hause des halb abgebrannten Fleckens etwas trockenes Fleisch und mehrere "Sukharis" (d. s. Brode, welche durch Verdunstung ausgetrocknet ihre Naehrfaehigkeit auf unbegrenzte Zeit bewahren) aufzufinden. Michael Strogoff und Nadia beluden sich mit einem so grossen Vorrath hiervon, als sie eben zu tragen vermochten. Ihre Nahrung war also fuer mehrere Tage gesichert, und Wasser konnte ja in einer Gegend, welche tausend kleine Zufluesse zur Angara durchrieselten, nicht leicht fehlen. Sie begaben sich wieder auf den Weg. Michael Strogoff ging sicheren Schrittes weiter und verlangsamte diesen hoechstens ein wenig mit Ruecksicht auf seine Begleiterin, waehrend diese sich eifrig bemuehte, nicht zurueck zu bleiben. Gluecklicher Weise konnte ihr Gefaehrte ja nicht sehen, in welch' beklagenswerthen Zustand die Anstrengung sie versetzt hatte. Michael Strogoff schien es jedoch zu fuehlen. "Deine Kraefte gehen zu Ende, armes Kind, sagte er manchmal. -- O nein, antwortete sie. -- Wenn Du nicht mehr gehen kannst, werde ich Dich tragen, Nadia. -- Ja wohl, Michael." Im Laufe dieses Tages mussten sie einen kleinen Fluss, die Oka, ueberschreiten. Dieser bot aber eine passirbare Furth, so dass sie ohne Schwierigkeiten an's andere Ufer kamen. Der Himmel war bedeckt, die Temperatur ertraeglich; freilich drohte die Witterung mit Regen, der die Beschwerden der Fussreise sicher nur vermehrte. Einige Regenschauer stellten sich auch schon ein, gingen aber ziemlich schnell vorueber. So zogen sie rastlos weiter, treulich Hand in Hand, ohne viele Worte zu wechseln, wobei Nadia stets nach vor- und nach rueckwaerts sorgsam auslugte. Zweimal des Tages machten sie Halt und ruhten sechs Stunden lang waehrend der Nacht. In einigen Huetten entdeckte Nadia auch noch einiges Schaffleisch, welches hier so gewoehnlich ist, dass ein Pfund desselben nur zwei und eine halbe Kopeke kostet. Aber ganz wider Michael Strogoff's noch immer genaehrte Hoffnung fand sich kein Zug- oder Saumthier in der ganzen Umgegend. Pferde und Kameele waren alle getoedtet oder geraubt. Zu Fuss mussten sie die Reise durch die grenzenlose Steppe fortsetzen. Spuren von jener dritten tartarischen Heeresabtheilung, welche schon auf Irkutsk zu marschirte, fehlten nirgends. Hier lag ein todtes Pferd, dort stand ein verlassener Wagen. Die Koerper der ungluecklichen Sibirer bezeichneten die Strasse und haeuften sich in der Naehe der Doerfer. Nadia kaempfte ihren Widerwillen nieder und musterte alle diese Leichen. Alles in Allem drohte ihnen Gefahr nicht von vorn, sondern vom Ruecken her. Die von Iwan Ogareff gefuehrte Avantgarde der Hauptarmee des Emirs konnte jeden Augenblick erscheinen. Jedenfalls lagen die den Jenisei hinunter gesendeten Barken bei Krasnojarsk laengst bereit, um den Uebergang ueber den Strom zu bewerkstelligen. Dann war der Weg fuer die Eindringlinge frei. Zwischen Krasnojarsk und dem Baikalsee konnte sich ihnen kein russisches Corps entgegen werfen. Michael Strogoff fuerchtete also stuendlich das Auftauchen der tartarischen Plaenkler. Bei jedem Ruhepunkte bestieg Nadia auch stets eine hoeher gelegene Stelle und blickte aufmerksam ueber die Gegend nach Westen hin, doch bis jetzt verrieth keine Staubwolke die Ankunft eines Reiterschwarmes. Dann nahmen Beide ihren Weg wieder auf, und wenn Michael Strogoff bemerkte, dass er die arme Nadia zog, so verzoegerte er seine Schritte. Sie sprachen nur wenig, und dann nur von Nicolaus. Das junge Maedchen erinnerte an Alles, was ihnen jener Begleiter waehrend weniger Tage gewesen war. Michael Strogoff suchte dem jungen Maedchen durch seine Antworten immer einige Hoffnung einzufloessen, obwohl er selbst keine mehr hatte, denn er wusste recht gut, dass der Arme dem Tode gewiss nicht entgehen wuerde. Eines Tages wandte sich Michael Strogoff an seine Begleiterin: "Du sprichst mir niemals von meiner Mutter, Nadia?" Von seiner Mutter! Nadia hatte das aengstlich vermieden. Warum sollte sie seine Schmerzen erneuern? War die alte Sibirerin nicht todt? Drueckte der Sohn damals nicht den letzten Kuss auf die stummen Lippen, als ihre Leiche auf dem Plateau bei Tomsk lag? "Rede von ihr, Nadia, bat Michael Strogoff, rede nur! Du bereitest mir dadurch ein Vergnuegen." Dann wagte Nadia, was sie bis jetzt unterlassen hatte. Sie erzaehlte alles, was zwischen Marfa und ihr selbst seit dem zufaelligen Zusammentreffen in Omsk geschehen war, als sie sich gegenseitig zum ersten Male sahen. Sie gestand, wie ein unerklaerlicher Instinct sie zu der unbekannten, bejahrten Gefangenen hingezogen und wie gern sie fuer jene gesorgt, aber auch, wie sehr sie selbst dadurch an Muth und Vertrauen gewonnen habe. Zu jener Zeit hielt sie Michael Strogoff ja noch fuer Nicolaus Korpanoff. "Der ich immer haette bleiben sollen", fiel da der Blinde ein, um dessen Stirn sich duestere Wolken lagerten. Nach einer Pause fuegte er dann hinzu: "Ich habe meinen Eid gebrochen, Nadia. Ich hatte geschworen, meine Mutter nicht zu sehen. -- Du hast das auch nicht gewollt, Michael, suchte ihn Nadia zu beruhigen, der Zufall nur hat Dich ihr zugefuehrt. -- Ich hatte geschworen, mich auf keinen Fall zu verrathen! -- Michael, Michael! Konntest Du Dich bezwingen, als die Geissel ueber Marfa Strogoff geschwungen ward? Nein, nein! - Es giebt keinen Eid, der einen Sohn hindern koennte, seiner Mutter zu Hilfe zu eilen. -- Ich habe meinen Eid verletzt, Nadia, wiederholte Michael Strogoff traurig. Gott und der Vater (d. i. der Czaar) moegen es mir vergeben. -- Michael, sagte das junge Maedchen, ich habe eine Frage an Dich. Antworte mir nicht, wenn Du glaubst, es nicht zu duerfen. Von Dir beleidigt mich nichts. -- Sprich, Nadia! -- Warum eilst Du, nachdem Dir der Brief des Czaaren geraubt wurde, noch immer so dringend nach Irkutsk?" Michael Strogoff drueckte die Hand seiner Fuehrerin waermer, aber er gab keine weitere Antwort. "Kanntest Du den Inhalt des Briefes schon vor Deiner Abreise aus Moskau? -- Nein, er war mir unbekannt. -- Soll ich annehmen, Michael, dass nur das Verlangen, mich meinem Vater zuzufuehren, Dich jetzt nach Irkutsk treibt? -- Nein, Nadia, ich wuerde Dich taeuschen, wenn ich diesen Glauben in Dir erweckte. Ich gehe nur dahin, wohin meine Pflicht mir befiehlt! Wie kann ich Dich nach Irkutsk fuehren, bist Du es nicht, Nadia, die im Gegentheil mich jetzt leitet? Sehe ich nicht durch Deine Augen, haelt mich nicht Deine Hand auf dem Wege? Hast Du mir nicht hundertfach die kleinen Dienste vergolten, die ich Dir vielleicht vorher leisten konnte? Ich weiss nicht, wann das Unglueck muede sein wird, uns zu pruefen, aber ich weiss, dass ich an dem Tage, da Du mir danken willst, Dich in die Haende Deines Vaters gefuehrt zu haben, Dir innig danken werde fuer Deine treue Leitung auf meinem Wege! -- Armer Michael! sagte Nadia tief bewegt. Sprich nicht solche Worte! Das ist keine Antwort auf meine Frage. Warum, Michael, draengst Du jetzt so, in Irkutsk einzutreffen? -- Weil ich vor Iwan Ogareff dort sein muss! gestand ihr Michael Strogoff. -- Auch jetzt noch? -- Auch jetzt, und es wird mir gelingen!" Diese letzten Worte betonte Michael Strogoff nicht nur aus Hass gegen den Verraether. Aber Nadia merkte es, dass ihr Begleiter ihr nicht Alles sagte, nicht Alles sagen durfte. Drei Tage spaeter, am 15. September, erreichten Beide den Flecken Kuitunskoe, siebzig Werst von Tulunowskoe. Das junge Maedchen hielt sich nur mit aeusserster Anstrengung noch aufrecht. Ihre wunden Fuesse versagten ihr fast den Dienst. Aber sie widerstand dem Schmerze, sie bekaempfte die Ermuedung; ihr einziger Gedanke war: "Da er mich nicht sehen kann, will ich gehen, bis ich zusammenbreche!" Uebrigens bot dieser Theil des Weges kein besonderes Hinderniss, keine Gefahren mehr, seit die Tartaren ihnen vorauszogen; nur die entsetzlichste Erschoepfung fuehlten sie. So ging es wieder drei Tage lang fort. Offenbar gewannen die Tartaren nach Osten zu schnell an Terrain. Das bewiesen die Ruinen laengs des Weges, die Brandstaetten, welche nicht mehr rauchten, die schon in Verwesung uebergehenden Leichname an den Seiten der Strasse. Auch im Westen zeigte sich nichts. Der Vortrab des Emirs erschien nicht. Michael Strogoff erschoepfte sich in den unwahrscheinlichsten Vermuthungen, diese Verzoegerung zu erklaeren. Bedrohten schon hinreichende russische Streitkraefte unmittelbar Tomsk oder Krasnojarsk? Dann liefe die dritte isolirte Abtheilung aber Gefahr, abgeschnitten zu werden. In diesem Falle musste es dem Grossfuersten leicht werden, Irkutsk wirksam zu vertheidigen, und jeder Gewinn an Zeit galt diesem feindlichen Einfall gegenueber als ein Fortschritt zu seiner Abwehr. Manchmal gab sich Michael Strogoff wohl solchen Hoffnungen hin, bald aber trat ihm das Truegerische derselben wieder desto deutlicher vor die Seele, und er rechnete dann nur noch auf sich selbst, als laege die Rettung des Grossfuersten nur allein in seinen Haenden. Sechzig Werst trennen Kuitunskoe von Kimilteiskoe, einem kleinen Flecken unweit der Dinka, welche der Angara zustroemt. Nicht ohne Besorgniss dachte Michael Strogoff an das Hinderniss, welches dieser nicht so unbedeutende Wasserlauf ihnen in den Weg legte. Faehren oder Boote zu finden, darauf durfte er gar nicht rechnen, und er erinnerte sich recht gut von seinen Reisen in guenstigeren Jahreszeiten, dass dieser Fluss nur mit Gefahr zu durchwaten war. Dafuer unterbrach nach Ueberschreitung desselben kein weiterer Strom oder Fluss die Strasse, welche in einer Laenge von noch 230 Werst nach Irkutsk fuehrte. Um Kimilteiskoe zu erreichen, brauchten sie nicht weniger als drei Tage. Nadia schleppte sich nur noch hin. Trotz ihrer moralischen Energie verliessen sie die physischen Kraefte. Michael Strogoff wusste das nur zu gut. Waere er nicht blind gewesen, Nadia haette gewiss zu ihm gesagt: "Geh', Michael, lass mich in einer Huette zurueck. Geh' nach Irkutsk! Richte Deinen Auftrag aus! Suche meinen Vater auf. Sage ihm, wo ich bin. Sag' ihm, dass ich ihn erwarte, Ihr Beide werdet mich schon wieder zu finden wissen! Reise in Gottes Namen weiter! Ich fuerchte mich nicht. Vor den Tartaren werde ich mich zu verbergen wissen. Ich erhalte mich fuer ihn, fuer Dich! Geh' Du, Michael, - ich kann es nicht mehr!..." Wiederholt war Nadia gezwungen, stehen zu bleiben. Dann hob sie Michael Strogoff auf seine Arme, und da er, wenn er sie trug, an die Ermuedung des jungen Maedchens nicht mehr zu denken brauchte, ging er dann um so schneller. Endlich am 18. September, Abends gegen zehn Uhr, erreichten Beide Kimilteiskoe. Von dem Gipfel eines Huegels bemerkte Nadia eine minder dunkle Linie am Horizonte. Das war die Dinka. In ihrem Wasser spiegelten sich einige Blitze, denen kein Donner folgte, die aber doch den Umkreis erhellten. Nadia fuehrte ihren Begleiter quer durch die verwuestete Ortschaft. Die Asche der Ruinen war kalt. Die letzten Tartaren mochten wohl vor fuenf bis sechs Tagen hier durchpassirt sein. Bei den letzten Haeusern sank Nadia auf eine steinerne Bank. "Machen wir Halt? fragte sie Michael Strogoff. -- Die Nacht ist gekommen, Michael, antwortete Nadia. Willst Du nicht auch einige Stunden ruhen? -- Ich waere gern noch bis ueber die Dinka gekommen, antwortete Jener, ich haette den Fluss gern zwischen uns und dem Vortrab des Emirs gewusst. Aber Du kannst Dich nicht mehr fortschleppen, meine arme Nadia? -- Komm, Michael!" lautete Nadia's Antwort, mit der sie die Hand ihres Gefaehrten ergriff und ihn weiter fuehrte. In der Entfernung von zwei bis drei Werst kreuzte die Dinka die Strasse nach Irkutsk. Die letzte Anstrengung, welche ihr Begleiter forderte, wollte das junge Maedchen noch auszuhalten versuchen. Beide gingen beim Scheine des Wetterleuchtens weiter. Sie durchschritten nun eine grenzenlose Wueste, in der sich der kleine Fluss verlor. Kein Baum, kein Huegel erhob sich auf dieser ungeheuren Ebene, mit welcher die sibirische Steppe wieder begann. Kein Lufthauch bewegte die Atmosphaere, durch deren ruhige Schichten sich der geringste Ton unendlich weit fortgepflanzt haette. Ploetzlich hielten Michael Strogoff und Nadia inne, als ob ihre Fuesse in eine Aushoehlung des Bodens gekommen waeren. Aus der Steppe her ertoente Gebell. "Hoerst Du das?" fragte Nadia. Dann folgte ein erbarmenswerther Schrei, wie ein verzweifelter, letzter Ruf eines Menschen, der dem Tode nahe ist. "Nicolaus! Nicolaus!" rief das junge Maedchen, von einer duesteren Ahnung erfuellt. Michael Strogoff horchte und schuettelte den Kopf. "Komm, Michael, komm!" bat Nadia. Und unter der Herrschaft einer heftigen Aufregung gewann sie, die sich eben noch kaum fort zu bewegen vermochte, ihre Kraefte wieder. "Wir sind von der Strasse abgekommen, sagte Michael Strogoff, der nicht mehr den feinsandigen Fussboden, sondern ein duerres Gras unter seinen Fuessen fuehlte. -- Ja, es muss sein!... erwiderte Nadia; dort von rechts her erklang jener Hilferuf." Einige Minuten spaeter befanden sich Beide nur noch eine halbe Werst vom Flusse entfernt. Ein zweites Bellen liess sich hoeren, das zwar schwaecher, aber unzweifelhaft naeher erscholl. Nadia blieb stehen. "Ja, sagte Michael, das war Sersko's Bellen. Er ist seinem Herrn gefolgt. -- Nicolaus!" rief das junge Maedchen. Keine Antwort liess sich vernehmen. Nur einige Raubvoegel flatterten auf und verschwanden in den Tiefen des Himmels. Michael Strogoff lauschte. Nadia suchte die auf Augenblicke erleuchtete Ebene zu ueberschauen, sah aber nichts. Doch noch einmal erklang eine Stimme in klaeglichem Tone. "Michael!" verstanden sie deutlich. Dann sprang ein Hund, ueber und ueber blutig, an Nadia heran. Es war Sersko. Nicolaus konnte nicht fern sein. Er allein hatte den Namen Michael stammeln koennen. Wo war er? Nadia fand kaum noch die Kraft, ihm zuzurufen. Michael Strogoff kroch auf der Erde hin und suchte mit den Haenden. Da erhob Sersko ein neues Gebell und stuerzte auf einen ungeheuren Raubvogel zu, der tief auf der Erde hinstrich. Es war ein Geier. Als Sersko auf ihn zusprang, flog er ein Stueck auf, kehrte aber zurueck und stiess auf den Hund. Noch einmal stuerzte sich dieser gegen den Geier, da traf ihn der furchtbare Schnabel auf den Kopf und leblos brach das treue Thier zusammen. Zu gleicher Zeit entfuhr Nadia ein Schrei des Entsetzens. "Da ... da!" rief sie. Aus der Erde ragte ein Kopf hervor. Ohne das Leuchten am Himmel, das die Steppe erhellte, haette sie mit dem Fusse daran gestossen. Nadia fiel neben diesem Kopfe auf die Knie. Nicolaus war, nach der schrecklichen Sitte der Tartaren, bis an den Hals eingescharrt in der Steppe verlassen worden, um hier elend Hungers zu sterben oder unter dem Zahne der Woelfe oder den Schnaebeln der Raubvoegel umzukommen. Eine schreckliche Todesart fuer das Opfer, welches der Boden gefangen haelt, welches die Erde halb erdrueckt, die der Verurtheilte nicht von sich zu stossen vermag, da ihm die Arme am Koerper befestigt werden, wie die einer Leiche im Sarge. So lebt, so verschmachtet der Verurtheilte in der thonigen Erde und kann nur den Tod herbei rufen, der ihm doch so langsam naht! Hier hatten die Tartaren seit drei Tagen ihren Gefangenen eingescharrt! ... Seit drei martervollen Tagen wartete Nicolaus auf Hilfe, die ihm nun leider zu spaet werden sollte. Die Geier hatten schon das aus dem Boden hervorstehende Haupt gewittert, und seit mehreren Stunden vertheidigte der Hund seinen Herrn gegen die gefraessigen Voegel. Michael Strogoff brach mit seinem Messer die Erde auf, um den Lebenden aus dem Grabe zu befreien. Nicolaus' schon geschlossene Augen oeffneten sich noch einmal. Er erkannte Michael und Nadia. "Lebt wohl, meine Freunde, fluesterte er. O wie wohl ist mir, Euch noch einmal gesehen zu haben ... Betet fuer mich!..." Das waren seine letzten Worte. Michael Strogoff fuhr fort, die Erde aufzureissen, welche durch festes Zusammentreten fast felsenhart geworden war, und es gelang ihm endlich, den Koerper des Armen heraus zu ziehen. Er horchte, ob sein Herz noch schluege. - Es schlug nicht mehr. Er wollte ihn nun noch beerdigen, um die Leiche des Freundes nicht auf der Steppe liegen zu lassen, und erweiterte und vergroesserte das Loch, Nicolaus Pigassof's Sarg bei seinen Lebzeiten, zum Grabe fuer den Entseelten. Der treue Sersko sollte neben ihm seinen Platz finden. Da entstand auf der eine halbe Werst entfernten Landstrasse ein lauter Tumult. Michael Strogoff horchte. Aus dem Geraeusch erkannte er, dass sich eine Abtheilung Berittener nach der Dinka zu bewege. "Nadia, Nadia!" sagte er heimlich. Bei seiner Stimme erhob sich die noch immer im Gebet versunkene junge Lieflaenderin. "Dort, sieh dort! raunte er ihr zu. -- Ah, die Tartaren!" fluesterte sie. Jene Reiter gehoerten in der That zur Avantgarde des Emirs, welche schnell auf dem Wege nach Irkutsk dahintrabte. "Sie werden mich nicht abhalten, ihn zu beerdigen", sagte Michael Strogoff. Schweigend setzte er seine Arbeit fort. Bald ward der Koerper des armen Nicolaus mit ueber der Brust gekreuzten Haenden in die Grube gelegt. Auf die Knie geworfen sprachen Michael Strogoff und Nadia ein letztes Gebet fuer das harmlose und gute Geschoepf, das die Ergebenheit gegen sie mit seinem Leben bezahlt hatte. "Und nun, sagte Michael Strogoff, indem er die Leiche mit Erde ueberfuellte, nun sollen die Steppenwoelfe Dich nicht verzehren!" Dann streckte er drohend die Hand aus gegen den vorueberziehenden Reiterschwarm. "Vorwaerts, Nadia!" sagte er. Michael Strogoff durfte nun die von den Tartaren betretene Hauptstrasse nicht mehr einhalten, sondern musste sich quer durch die Steppe schlagen, um Irkutsk zu umgehen. Jetzt hatte es demnach mit der Ueberschreitung der Dinka keine besondere Eile. Nadia konnte nicht weiter wandern, aber sie konnte doch fuer ihn sehen. Er nahm sie auf die Arme und wandte sich nach dem Suedwesten der Provinz. Mehr als 200 Werst lagen noch vor ihnen. Wie legte er sie zurueck? Wie kam es, dass ihn die Anstrengung nicht ueberwaeltigte? Wie konnte er sich unterwegs ernaehren? Welch uebermenschliche Energie half ihm, die ersten Abhaenge der Sayanskberge zu ueberklettern? - Weder Nadia noch er haetten auf diese Fragen die Antwort gewusst. Und doch, - zwoelf Tage spaeter, am 2. October, breitete sich eine ungeheure Wasserflaeche vor Michael Strogoff's Fuessen aus. Er stand am Baikalsee. Zehntes Capitel. Baikal und Angara. Der Baikalsee liegt 1700 Fuss ueber dem Meere. Seine Laenge betraegt gegen 900 Werst und etwa 100 seine Breite. Seine Tiefe ist nicht bekannt. Frau von Bourboulon berichtet, nach den Sagen der Schiffer, dass derselbe "Frau Meer" genannt sein will und in Wuth geraeth, wenn man ihn "Herr See" titulirt. Nach der Legende ist indessen noch niemals ein Russe in demselben ertrunken. Dieses gewaltige, von mehr als 300 Zufluessen ernaehrte Suesswasserbecken wird von einem praechtigen Rahmen vulkanischer Berge umschlossen. Es hat keinen anderen Abfluss als die Angara, welche bei Irkutsk vorueber stroemt und sich etwas oberhalb der Stadt in den Jenisei ergiesst. Die Berge, welche den See einrahmen, bilden einen Arm der Tunzugen, einer Unterabteilung des orographischen Systems des Altaigebirges. In der jetzigen Jahreszeit machte sich die Kaelte schon bemerkbar. Der Herbst schien wirklich, wie es in diesem, ganz eigenthuemlichen klimatischen Bedingungen unterworfenen Landstriche dann und wann vorzukommen pflegt, in einem vorzeitigen Winter zu verschwinden. Man schrieb jetzt die ersten Tage des Octobers. Die Sonne verschwand schon um fuenf Uhr vom Himmel, und die Temperatur sank waehrend der langen Nacht wohl bis auf den Gefrierpunkt herab. Schon deckte der erste Schnee, der nun bis Anfang des naechsten Sommers dauern sollte, die benachbarten Gipfel des Baikal. Waehrend des sibirischen Winters wird dieses leicht mehrere Fuss tief mit Eis bedeckte Binnenmeer von Schlitten und Karawanen vielfach belebt. Geschehe es nun wegen des Verstosses gegen die gute Lebensart, wenn man ihn "Herr See" nennt, oder aus irgend einem anderen meteorologischen Grunde, jedenfalls ist der Baikal oft von heftigen Stuermen bewegt. Seine, gleich denen aller Binnenmeere, nur kurzen Wellen werden von den Floessen, den Prahmen und Dampfern, die ihn im Sommer durchpfluegen, nicht wenig gefuerchtet. An der Suedwestspitze des Sees langte Michael Strogoff an, auf den Armen Nadia, deren ganze Lebensenergie sich in ihren Augen concentrirte. Was konnten die Beiden in diesem wilden Theile der Provinz anders erwarten, als hier erschoepft und hilflos zu sterben? Und doch, wie wenig war noch uebrig von der 6000 Werst langen Strecke, die der Courier des Czaaren zuruecklegen musste, um sein Ziel zu erreichen? Nur noch sechzig Werst laengs der Suedkueste bis zum Abfluss der Angara, und achtzig Werst von diesem Punkte aus bis nach Irkutsk, zusammen einhundertvierzig Werst, d. h. eine Reise von drei Tagen fuer einen kraeftigen, gesunden Mann, wenn er sie auch zu Fusse zuruecklegen sollte. Konnte aber Michael Strogoff noch fuer einen solchen Mann gelten? Der Himmel schien ihm diese letzte Pruefung ersparen zu wollen. Das Unglueck, sein hartnaeckiger Begleiter, verschonte ihn einmal. Dieses Ende des Baikal, dieser Theil der Steppe, welchen er oede und verlassen glaubte und der es auch sonst immer ist, - heut' war er es nicht. Etwa fuenfzig Personen standen an dem Winkel, der die suedwestliche Spitze des Sees bildet. Nadia bemerkte diese Gruppe erst, als Michael Strogoff sie tragend die letzten Abhaenge eines Berges herunterstieg. Einen Augenblick konnte das junge Maedchen wohl fuerchten, hier wieder nur eine Abtheilung Tartaren vor sich zu haben, welche entsendet waere, an den Ufern des Baikal zu streifen, in welchem Falle ihnen Beiden jetzt jedes Entfliehen unmoeglich sein musste. Aber Nadia ward in dieser Hinsicht sehr bald beruhigt. "Das sind Russen!" rief sie erfreut. Nach dieser letzten Anstrengung aber fielen ihre Augenlider zu und ihr Haupt sank an die Brust Michael Strogoff's nieder. Doch auch sie waren bemerkt worden, und einige jener Leute, welche auf sie zukamen, fuehrten den Blinden und das junge Maedchen nach einer Stelle des Ufers, an der ein Floss befestigt lag. Das Floss schien zur Abfahrt bereit. Diese Russen, Leute aus allen Staenden, waren Fluechtlinge, welche die naemliche Absicht hier an der Kueste des Baikal vereinigt hatte. Von den tartarischen Plaenklern vertrieben, suchten sie nach Irkutsk zu entkommen, und da das zu Lande ziemlich unmoeglich war, seitdem die Feinde sich auf beiden Ufern der Angara festgesetzt hatten, so hofften sie ihr Ziel dadurch zu erreichen, dass sie den Weg auf dem Flusse benutzten, der die Stadt durchstroemt. Wie huepfte Michael Strogoff's Herz vor Freude, als er diese Absicht vernahm! Noch einmal heiterten sich die Aussichten fuer ihn auf. Er hatte aber Selbstbeherrschung genug, diese Empfindung zu verbergen, da er fuer angezeigt hielt, sein Incognito mehr als je zu bewahren. Der Plan der Fluechtlinge war sehr einfach. Nahe dem noerdlichen Ufer des Sees zeigte sich eine Stroemung bis zum Abfluss der Angara hin, und diese wollten sie zunaechst benutzen, um nach jenem Ausgussthore des Baikal zu gelangen. Von hier aus trugen sie die Wellen des Flusses bis Irkutsk mit einer Schnelligkeit von zehn bis zwoelf Werst die Stunde dahin. Binnen anderthalb Tagen konnten sie in Sicht der Stadt sein. Am Seeufer fehlte es natuerlich an jedem Schiff oder Boot. Man musste diese zu ersetzen suchen und zimmerte ein Floss, wie man deren haeufig auf den sibirischen Stroemen begegnet. Das noethige Holz lieferte ein Tannenwald in der Naehe. Die mittels Weidenzweigen so gut als moeglich verbundenen Staemme bildeten eine Plattform, auf der hundert Menschen bequem Platz gefunden haetten. Auf dieses Floss fuehrte man auch Michael Strogoff und Nadia. Das junge Maedchen war wieder zu sich gekommen. Man reichte ihr sowie ihrem Begleiter etwas Nahrung. Dann ward ihr ein Lager aus Laubwerk zurecht gemacht, auf dem sie bald in tiefen Schlaf verfiel. Denen, welche ihn ausfragten, sagte Michael Strogoff nichts von den ihm bekannten Ereignissen bei Tomsk. Er gab sich fuer einen Bewohner von Krasnojarsk aus, dem es nicht gelungen sei, vor dem Eintreffen der Truppen des Emirs auf dem linken Dinka-Ufer zu entkommen, und er fuegte nur hinzu, dass die Hauptmacht des Tartarenheeres wahrscheinlich schon vor der Hauptstadt Sibiriens Stellung genommen haben werde. Es galt also keinen Augenblick zu verlieren. Uebrigens nahm die Kaelte empfindlich zu. In der Nacht sank das Thermometer bis unter Null. Auf der Oberflaeche des Baikal bildeten sich schon schwache Eisschollen. Fand das Floss auch auf dem See keine besonderen Schwierigkeiten, so drohte sich das doch zwischen den Ufern der Angara misslicher zu gestalten, wenn sich die Schollen dort in dem engeren Fahrwasser anhaeuften. Alle Umstaende draengten also darauf hin, dass die Fluechtlinge baldmoeglichst abreisten. Um acht Uhr Abends loeste man die Seile und von der Stroemung gefuehrt folgte das Floss dem Ufer des Sees. Einige lange, von mehreren Mujiks regierte Stangen reichten hin, dasselbe in bestimmter Richtung zu halten. Ein alter Schiffer vom Baikal hatte das Commando uebernommen. Es war ein Mann von sechzig Jahren, mit Wetter gebraeuntem Gesicht. Ein dichter weisser Bart fiel auf seine Brust herab. Eine Pelzmuetze trug er auf dem Kopfe und zeigte im Ganzen ein ernstes und strenges Aussehen. Der lange, durch einen Guertel zusammengehaltene Ueberrock reichte ihm bis zu den Fuessen. Schweigend sass er auf dem Hintertheile und ertheilte seine Weisungen durch Gesten, ohne binnen zehn Stunden zehn Worte zu sprechen. Uebrigens reducirten sich die ganzen Schiffsmanoeuvres darauf, das Floss in der Stroemung zu erhalten, welche dem Ufer folgte, und es an einer Abweichung nach der offenen See zu hindern. Wir erwaehnten schon, dass Russen der verschiedensten Art auf dem Flosse Platz gefunden hatten. Neben Landleuten aus der Umgegend, einer Anzahl Maenner, Frauen und Kinder, fanden sich zwei oder drei von dem feindlichen Einfalle auf der Reise ueberraschte Pilger, einige Moenche und ein Pope. Die Pilger trugen den Reisestab, die Kuerbisflasche im Guertel und sangen mit klagender Stimme Psalmen. Der Eine kam aus der Ukraine, der Andere vom Todten Meere, ein Dritter aus den finnischen Provinzen. Der letztere, ein schon bejahrter Mann, trug am Guertel eine kleine Sammelbuechse mit Vorlegeschloss, wie man sie an den Eingaengen der Kirchen trifft. Alles, was er auf seiner langen und anstrengenden Reise einsammelte, gehoerte nicht ihm, und er besass nicht einmal den Schluessel zu der Buechse, welche erst bei seiner Rueckkehr geoeffnet werden sollte. Die Moenche kamen aus dem hohen Norden. Vor drei Monaten schon hatten sie die Stadt Archangel verlassen, von der manche Reisende berichten, dass sie einen auffallend orientalischen Typus habe. Sie hatten die heiligen Inseln nahe der Kueste Kareliens besucht, den Convent von Solowetsk, den von Troitsa, die des heiligen Antonius und des heiligen Theodosius in Kiew, der Lieblingsstadt der Jagellonen, das Kloster des Simeonof in Moskau, das von Kasan, sowie die dortige Kirche der Altglaeubigen, und begaben sich nun, bekleidet mit einer Kutte mit Capuchon aus Sarsche, endlich nach Irkutsk. Der Pope war ein einfacher Dorfpriester, einer der 600,000 Pastoren, welche das russische Reich zaehlt. Seine Kleidung sah erbaermlicher aus, als die der Mujiks, deren gesellschaftliche Stellung die seinige auch wirklich nicht ueberragte, da er in der Kirche weder Rang noch Macht besitzt, und sein Stueck Land ebenso gut bebaut, wie er tauft, Ehen schliesst und Beerdigungen leitet. Sein Weib und seine Kinder hatte er den Gewaltthaten der Tartaren dadurch zu entziehen gewusst, dass er sie nach den noerdlichen Provinzen schaffte, waehrend er in seiner Parochie bis zum letzten Augenblick aushielt. Dann hatte er jedenfalls fliehen muessen, und da die Strasse nach Irkutsk versperrt war, den Baikalsee zu erreichen gesucht. Diese verschiedenen kirchlichen Personen sassen auf dem Vordertheil des Flosses zusammen, beteten in regelmaessigen Zwischenraeumen, erhoben ihre Stimmen mitten in der schweigenden Nacht, und am Ende jedes Verses ihres Gebets hoerte man ihre Lippen ein "Slava Bogu", das ist Ehre sei Gott, fluestern. Kein Zwischenfall unterbrach diese Wasserfahrt. Nadia lag noch immer in tiefer Erschoepfung. Michael Strogoff wachte neben ihr. Der Schlaf kam nur sehr selten in seine Augen und seine Gedanken wachten dabei immer. Bei Tagesanbruch befand sich das Boot in Folge eines steifen Gegenwindes, der die Wirkung der Stroemung hemmte, noch vierzig Werst von dem Ausflusse der Angara. Voraussichtlich konnte es dieselbe vor drei oder vier Uhr Nachmittag nicht erreichen. Den Fluechtlingen kam das insofern zu statten, als sie den Fluss hinunter waehrend der Nacht fuhren, deren Dunkel ihre Reise nach Irkutsk beguenstigen musste. Die einzige Besorgniss des alten Schiffers betraf nur die Bildung von Eisschollen auf dem Wasser, da die Nacht ganz besonders kalt zu werden schien. Getrieben vom Winde, sah man zahlreiche Schollen schon jetzt nach Westen ziehen. Diese waren nicht zu fuerchten, da sie in die Angara, deren Muendung sie schon passirt hatten, nicht gelangen konnten. Wohl aber wurden vielleicht diejenigen, welche aus dem Osten des Sees kamen, von der Stroemung angezogen und pressten sich zwischen die Flussufer. Das brachte dann wohl Schwierigkeiten, Verzoegerungen oder gar unuebersteigliche Hindernisse hervor, die das Floss aufzuhalten drohten. Michael Strogoff war es also vom hoechsten Interesse, den Zustand des Sees zu kennen, fuer den Fall, dass Eisschollen in groesserer Anzahl auftreten sollten. Er fragte Nadia nach deren Erwachen wiederholt, und liess sich von ihr Alles mittheilen, was auf der Wasserflaeche vorging. Waehrend dieses Dahintreibens der Eisschollen beobachtete man auf dem Baikalsee noch mancherlei eigenthuemliche Erscheinungen, unter andern das Aufbrodeln siedender Quellen, welche aus mehreren im Bette des Sees gelegenen artesischen Brunnen aufsprangen. Diese Wassersaeulen erhoben sich zu betraechtlicher Hoehe und zertheilten sich in Dampfwolken, welche einen Augenblick lang in den Strahlen der Sonne irisirten und dann sofort von der Kaelte verdichtet wurden. Gewiss haette dieses Schauspiel das Auge jedes Touristen ergoetzt, der in friedlichen Zeiten das sibirische Binnenmeer zum Vergnuegen bereiste. Gegen vier Uhr Nachmittags signalisirte der alte Seemann den Abfluss der Angara zwischen den hohen Granitfelsen des Ufers. An der Kueste zur Rechten erkannte man den kleinen Hafen Livenitchnaia, dessen Kirche und die wenigen am steilen Strande erbauten Haeuser. Leider waelzten sich schon die ersten von Osten gekommenen Eisschollen zwischen die Ufer der Angara und schwammen also nach Irkutsk hinab. Doch erschien ihre Anzahl noch nicht hinreichend, um den Fluss zu verstopfen, sowie die Kaelte nicht intensiv genug, um sie wesentlich zu vermehren. Das Floss erreichte den kleinen Hafen und hielt dort an. Der alte Seemann wollte hier eine Stunde verweilen, um einige unabweisliche Reparaturen vorzunehmen. Die Staemme drohten aus einander zu weichen und mussten nothwendig fester verbunden werden, um der sehr schnellen Stroemung der Angara sicherer zu widerstehen. Waehrend der schoenen Jahreszeit dient der Hafen von Livenitchnaia als Ein- und Ausschiffungspunkt der Reisenden auf dem Baikalsee, die sich von hier entweder nach Kiachta begeben, nach der letzten Stadt an der russisch-chinesischen Grenze, oder von dort aus kommen. Er ist dann sowohl durch Dampfboote, als auch durch Kuestenfahrer aller Art sehr belebt. Heut war auch Livenitchnaia verlassen. Seine Bewohner entflohen vor den Verwuestungen der Tartaren, welche beide Ufer der Angara unsicher machten. Die Flotille von Schiffen und Booten, welche sonst in ihrem Hafen ueberwinterte, hatten sie nach Irkutsk verlegt und sich noch rechtzeitig, reichlich mit allem Nothwendigen versorgt, nach der Hauptstadt Ostsibiriens zurueckgezogen. Der alte Seemann erwartete also gewiss nicht, hier noch weitere Fluechtlinge aufnehmen zu sollen, und doch kamen, als das Floss nur anlegte, zwei Passagiere mit aller Hast aus einem veroedeten Hause herabgelaufen. Nadia sah von ihrem Platze auf dem Hintertheile nur mit halbem Auge dahin. Da entfuhr ihr ein leiser Schrei. Sie ergriff die Hand Michael Strogoff's, der verwundert den Kopf emporrichtete. "Was hast Du, Nadia? fragte er. -- Unsere beiden Reisegefaehrten, Michael. -- Jener Franzose und jener Englaender, denen wir in dem Engpasse des Ural begegneten? -- Dieselben." Michael Strogoff erzitterte, denn jetzt lief das strenge Incognito, aus dem er nicht heraustreten wollte, Gefahr, enthuellt zu werden. Jetzt konnten ihn Alcide Jolivet und Harry Blount ja nicht mehr fuer den Kaufmann Nicolaus Korpanoff erkennen, sondern als den wahren Michael Strogoff, den Courier des Czaaren. Schon zweimal seit ihrer Trennung auf dem Relais zu Ichim sahen ihn ja die beiden Journalisten wieder, das eine Mal auf dem Felde bei Zabediero, als er Iwan Ogareff mit der Knute ueber das Gesicht schlug, das andere Mal in Tomsk, als er vom Emir verurtheilt wurde. Sie wussten also, wer er war und in welcher Eigenschaft er reiste. Michael Strogoff kam bald zu einem nothwendigen Entschlusse. "Nadia, begann er, sobald der Franzose und der Englaender sich eingeschifft haben, so bitte sie, zu mir zu kommen." Jene waren wirklich Harry Blount und Alcide Jolivet, welche nicht der Zufall, sondern die Gewalt der Umstaende, ebenso wie Michael Strogoff, nach dem Hafen von Livenitchnaia gefuehrt hatte. Man erinnert sich, dass sie bei dem Einzuge der Tartaren in Tomsk kurz vor der graesslichen Gerichtsvollstreckung, welche jenes Fest schloss, abreisten. Sie zweifelten gar nicht daran, dass ihr alter Reisegefaehrte um's Leben gebracht worden sei, und wussten also nicht, dass er auf Befehl des Emirs damals nur geblendet wurde. Noch an demselben Abend verliessen sie damals, nachdem sie Pferde erhalten, Tomsk, entschlossen, ihre weiteren Berichte ueber den Feldzug nur aus dem Lager der Russen zu entsenden. Alcide Jolivet und Harry Blount wandten sich in groesster Eile nach Irkutsk. Sie hofften Feofar-Khan zuvor zu kommen und haetten das auch unzweifelhaft durchgesetzt, wenn sie nicht die dritte Abtheilung des Tartarenheeres, welche durch das Thal des Jenisei ganz unerwartet aus Sueden heraufzog, aufhielt. Ebenso wie Michael Strogoff wurden sie vor Ueberschreitung der Dinka abgeschnitten und mussten in Folge dessen nach dem Baikalsee herabziehen. Bei ihrer Ankunft in Livenitchnaia fanden sie den Hafen schon verlassen. Von einer anderen Seite erwies es sich ihnen unmoeglich, nach Irkutsk hinein zu gelangen, da die Stadt schon von der Tartarenarmee belagert wurde. Sie hielten sich hier bereits drei Tage auf, als das Floss ankam. Die Absicht der Fluechtlinge ward ihnen sofort mitgetheilt. Ohne Zweifel vermehrte der Umstand, dass es nun Nacht wurde, die Aussicht auf einen gluecklichen Erfolg und auf die Moeglichkeit, nach Irkutsk hinein zu kommen. Sie beschlossen also, die Sache zu wagen. Alcide Jolivet setzte sich sofort mit dem alten Seemann in Verbindung, um fuer sich und seinen Begleiter Erlaubniss mitzufahren zu erlangen, und bot ihm als Bezahlung jeden Preis, den er fordern wuerde, an. "Hier bezahlt man nicht, erwiderte ihm ernst der alte Seemann, man wagt nur sein Leben, nichts weiter." Die beiden Journalisten schifften sich ein und Nadia sah sie auf dem Vordertheile des Schiffes Platz nehmen. Harry Blount war noch immer der steife, frostige Englaender, der waehrend der ganzen Fahrt durch den Ural kaum ein Wort an sie gerichtet hatte. Alcide Jolivet erschien etwas ernster als gewoehnlich, was unter den gegebenen Verhaeltnissen wohl nicht allzu sehr Wunder nehmen durfte. Kaum hatte Letzterer sich auf dem Vordertheile des Schiffes eingerichtet, als er eine Hand auf seiner Schulter fuehlte. Er drehte sich um und erkannte Nadia, die Schwester jenes frueheren Nicolaus Korpanoff, jetzt Michael Strogoff, des Couriers des Czaaren. Fast haette er vor Verwunderung einen Schrei ausgestossen, als er das junge Maedchen einen Finger an ihre Lippen legen sah. "Kommen Sie mit mir", bat Nadia. Mit gleichgiltigem Gesicht und einem Zeichen gegen Harry Blount, ihm nachzufolgen, ging Alcide Jolivet mit ihr. War das Erstaunen der beiden Journalisten aber schon gross genug, Nadia auf dem Flosse zu begegnen, so ueberschritt es alle Grenzen, als sie auch Michael Strogoff's ansichtig wurden, den sie laengst nicht mehr am Leben glaubten. Michael Strogoff sprach bei ihrer Annaeherung nicht. Alcide Jolivet wendete sich an das junge Maedchen. "Er sieht Sie nicht, meine Herren, sagte sie. Die Tartaren haben ihm die Augen verbrannt! Mein armer Bruder ist blind!" Das lebhafte Gefuehl des Mitleids malte sich in Alcide Jolivet's und seines Gefaehrten Zuegen. Einen Augenblick spaeter sassen Beide neben Michael Strogoff, drueckten ihm die Hand und erwarteten, was er ihnen zu sagen habe. "Meine Herren, begann dieser mit verhaltener Stimme, Sie duerfen nicht wissen, wer ich bin, noch zu welchem Zwecke ich mich nach Sibirien begeben hatte. Ich ersuche Sie, mein Geheimniss zu bewahren. Versprechen Sie mir das? -- Auf Ehre, antwortete Alcide Jolivet. -- Auf Gentlemans Wort, fuegte Harry Blount hinzu. -- Ich danke, meine Herren. -- Koennen wir Ihnen nach irgend welcher Seite nuetzlich sein? fragte Harry Blount. Wuenschen Sie, dass wir Sie bei der Ausfuehrung Ihrer Auftraege unterstuetzen? -- Ich ziehe es vor, allein zu handeln, erwiderte Michael Strogoff. -- Aber jene Schurken haben Ihre Augen zerstoert, sagte Alcide Jolivet. -- Ich habe ja Nadia; ihre Augen sind fuer mich genug!" Eine halbe Stunde spaeter trieb das Floss, nachdem es den kleinen Hafen verlassen, in den Fluss hinein. Es war gegen fuenf Uhr Abends. Schon brach die Nacht herein. Sie versprach sehr dunkel und kalt zu werden, denn die Temperatur sank schon jetzt bis unter Null. Wenn Alcide Jolivet und Harry Blount sich verpflichtet hatten, Michael Strogoff's Geheimniss zu bewahren, so verliessen sie ihn doch nicht. Sie plauderten mit leiser Stimme und durch ihre Mittheilungen erlangte der Blinde, mit Zuhilfenahme dessen, was er schon wusste, eine vollstaendige Vorstellung von dem thatsaechlichen Zustande der Dinge. Es lag ausser Zweifel, dass die Tartaren Irkutsk bedraengten und die drei Colonnen ihre Vereinigung vollzogen hatten. Hoechst wahrscheinlich standen der Emir und Iwan Ogareff schon jetzt im Angesichte der Stadt. Warum aber diese Eile, dorthin zu kommen, welche der Courier des Czaaren zeigte, jetzt wo er nicht im Stande war, jenen kaiserlichen Brief dem Grossfuersten noch zu uebergeben, den Brief, dessen Inhalt ihm nicht einmal bekannt war? Weder Alcide Jolivet noch Harry Blount begriffen das, ebenso wenig als frueher Nadia. Der Vergangenheit wurde zuerst mit keinem Worte gedacht, bis Alcide Jolivet zu Michael Strogoff folgendermassen begann: "Wir muessen uns wohl noch entschuldigen, Ihnen bei unserer Trennung auf dem Relais zu Ichim zum Abschiede nicht einmal die Hand geboten zu haben. -- Nein, Sie waren ganz berechtigt, mich fuer einen Feigling zu halten! -- Jedenfalls haben Sie, fuhr Alcide Jolivet fort, das Gesicht jenes Schurken verdientermassen mit der Knute bearbeitet, so dass er noch lange die Spuren davon tragen wird. -- Nein, nicht mehr lange!" antwortete einfach Michael Strogoff. Bald nach der Abfahrt aus Livenitchnaia erfuhren Alcide Jolivet und sein Gefaehrte alle die harten Pruefungen des Schicksals, welche Michael Strogoff nebst seiner Begleiterin durchgemacht hatte. Ohne Rueckhalt bewunderten sie seine Energie, der nur die Ergebenheit des jungen Maedchens einigermassen die Wage hielt. Ueber Michael Strogoff aber urtheilten sie in demselben Sinne, wie sich schon der Czaar in Moskau aeusserte: "In der That, das ist ein Mann!" Mitten in den dahin treibenden Eisschollen fuhr das Floss ungemein schnell mit der Stroemung der Angara hinab. Ein wechselndes Panorama entrollte sich zu beiden Seiten des Flusses, und in Folge einer optischen Taeuschung schien es, als ruhe der schwimmende Apparat und jene Folge pittoresker Bilder ziehe unaufhoerlich an ihm vorueber. Hier zeigten sich sonderbar gestaltete hohe Granitfelsen, dort wilde Schluchten, aus denen ein schaeumender Bergstrom hervorsprang, manchmal oeffnete sich ein weites Thal vor ihren Blicken, in dem ein zerstoertes Dorf noch rauchte, oder ein dichter Wald von Tannen, aus dem die Flammen emporwirbelten. Hinterliessen auch die Tartaren ueberall hinreichend erkennbare Spuren, so sah man sie doch selbst noch nicht, da sie sich besonders in den naeheren Umgebungen von Irkutsk zusammendraengten. Indessen unterbrachen die frommen Pilger niemals ihre lauten Gebete, und der alte Seemann hielt das Floss, von dem er die zu nahe heran treibenden Eisschollen mit kraeftiger Hand abstiess, immer streng in der Mitte der Stroemung der Angara. Elftes Capitel. Zwischen zwei Ufern. Gegen acht Uhr Abends huellte, wie es der Zustand des Himmels schon voraus sehen liess, eine tiefe Finsterniss die ganze Umgebung ein. Da es jetzt Neumond war, stieg auch dieser nicht ueber den Horizont empor. Von der Mitte des Flusses aus konnte man die Ufer nicht erkennen. Die schroffen Felsen an den Seiten verschwammen in maessiger Hoehe mit den schwarzen, tief herabhaengenden Wolken, welche kaum ihre Stelle wechselten. Von Zeit zu Zeit rauschte ein Windstoss von Osten her und schien in dem engen Thale der Angara zu ersterben. Die Dunkelheit beguenstigte nach der einen Seite gewiss das Vorhaben der Fluechtlinge. Patrouillirten auch die Wachposten der Tartaren laengs der Ufer, so liess sich doch annehmen, dass das Floss ungesehen von ihnen voruebergleiten werde. Ebenso wenig stand zu befuerchten, dass die Belagerer stromaufwaerts von Irkutsk den Fluss gesperrt haben sollten, da sie recht gut wussten, dass die Russen aus dem Sueden der Provinz keine Hilfe zu erwarten hatten. In kurzer Zeit musste freilich die Natur schon allein diese Flusssperre herstellen, wenn die Kaelte die einzelnen Schollen fest aneinander loethete. Am Bord des Flosses herrschte jetzt das tiefste Schweigen. Als man weiter in den Fluss eindrang, liessen sich auch die Stimmen der Pilger nicht mehr vernehmen. Sie beteten zwar noch immer, aber nur mit solch leisem Gemurmel, dass dasselbe am Ufer unmoeglich gehoert werden konnte. Auf der Plattform ausgestreckt unterbrachen auch die Koerper der Fluechtlinge kaum die ebene Flaeche des Wassers. Der alte Seemann, der sich jetzt am Vordertheile neben seinen Leuten aufhielt, begnuegte sich, nur die Eisschollen zu vermeiden, was ohne Geraeusch zu erreichen war. Der Eisgang auf dem Flusse durfte sogar als sein weiterer guenstiger Umstand betrachtet werden, so lange er dem Flosse nicht zum unuebersteigbaren Hinderniss wurde. Waere es ueberhaupt moeglich gewesen, den Apparat auf dem freien Wasser des Flusses wahrzunehmen, so verdeckten ihn jetzt zum Theil die Schollen jeder Groesse und Form und das Aneinanderprallen und Krachen derselben uebertoente gleichzeitig jedes sonst vielleicht hoerbare verdaechtige Geraeusch. Nun wurde die Luft aber wirklich empfindlich kalt. Die Fluechtlinge, deren Schutz nur in wenigen Birkenzweigen bestand, litten sehr hart. Sie draengten sich dicht aneinander, um die Erniedrigung der aeusseren Temperatur, welche waehrend der Nacht bis auf 10 deg. unter Null herabging, besser zu ertragen. Der schwache Wind, der ueber die schneebedeckten Berge im Osten herwehte, stach sie wie mit tausend Nadeln. Michael Strogoff und Nadia ertrugen, auf dem Hintertheil des Flosses gelagert, diesen Zuwachs ihrer Leiden ohne jede Klage. Neben ihnen suchten Alcide Jolivet und Harry Blount dem ersten Angriff des sibirischen Winters nach Kraeften Widerstand zu leisten. Weder die Einen noch die Andern sprachen ein Wort, nicht einmal heimlich. Die gegenwaertige Situation beschaeftigte vollstaendig ihren Geist. Jeden Augenblick konnte ein Zwischenfall, eine Gefahr eintreten, vielleicht eine Katastrophe, welche Allen verderblich werden musste. Fuer einen Mann, der nun endlich so nahe daran ist, sein laengst erstrebtes Ziel zu erreichen, verhielt sich Michael Strogoff auffallend ruhig. Auch in den schlimmsten Lagen hatte ihn seine Energie ja niemals verlassen. Er sah schon den Augenblick vor sich, wo es ihm endlich gestattet sein wuerde, an seine Mutter, an Nadia, an sich selbst zu denken! Er fuerchtete nur noch eine einzige letzte Stoerung, das Floss moechte durch die Anhaeufung von Schollen noch vor dem Eintreffen in Irkutsk aufgehalten werden. Er dachte nur hieran und war im Uebrigen vollkommen entschlossen, im Nothfalle noch durch ein letztes kuehnes Wagstueck seine Absicht durchzusetzen. Nach mehreren Stunden der Ruhe hatte Nadia ihre physischen Kraefte wieder gewonnen, welche das Unglueck wohl manchmal brechen konnte, ohne ihr jemals den Muth zu rauben. Sie dachte ebenfalls daran, dass Michael Strogoff nichts unversucht lassen werde, um seiner Pflicht nachzukommen, und dass sie bei der Hand sein muesse, ihn zu fuehren. Je mehr sie sich aber Irkutsk naeherte, desto deutlicher trat ihr auch das Bild ihres Vaters vor das geistige Auge. Sie sah ihn in der belagerten Stadt, fern von Denen, die er liebte, jedoch - woran sie niemals zweifelte, - mit dem ganzen Feuer seines Patriotismus kaempfend gegen die feindlichen Angreifer. Half ihr jetzt der Himmel, so konnte sie in einigen Stunden in seinen Armen liegen, ihm die letzten Worte ihrer Mutter mitzutheilen, und dann sollte nichts sie wieder von ihm trennen. Endigte die Verbannung Wassili Fedor's niemals, so wollte auch sie dieselbe mit ihm theilen. Doch gedachte sie ganz natuerlich auch Dessen, dem sie es verdankte, ihren Vater ueberhaupt wieder zu sehen, ihres edelmuethigen Reisegefaehrten, ihres "Bruders", der nach Vertreibung der Tartaren den Weg nach Moskau wieder einschlagen wuerde, um sie vielleicht nie wieder zu sehen!... Alcide Jolivet und Harry Blount endlich beschaeftigten sich nur mit dem einen Gedanken, dass die Situation hoechst dramatisch sei und, gut in Scene gesetzt, einen ungemein interessanten Bericht abgeben muesse. Der Englaender dachte dabei an die Leser des Daily-Telegraph, der Franzose an die seiner Cousine Madeleine. Uebrigens konnten sie sich einer gewissen Erregtheit doch nicht ganz erwehren. "Nun, desto besser, dachte Alcide Jolivet, man muss selbst bewegt sein, um Andere zu bewegen! Ich glaube, dieser Gedanke ist auch in irgend einem beruehmten Verse ausgesprochen, aber, zum Teufel, ich erinnere mich nicht ..." Dabei suchte er mit seinen beruehmten Reporteraugen immer das Dunkel zur Seite des Flusses zu durchdringen. Dann und wann unterbrach ein greller Lichtschein die Finsterniss und zauberte ein phantastisches Bild der dunkeln Waelder hervor. Hier stand ein ganzer Wald in Flammen, dort verheerte das Feuer ein Dorf, immer die traurigen Wiederholungen der Schreckensbilder des Tages, nur dass diese gegen das Dunkel der Nacht desto auffallender contrastirten. Die Angara war dabei von einem Ufer bis zum andern erhellt. Die Eisschollen bildeten ebenso viele Spiegel, welche die Flammen in allen Winkeln und allen Farben wiedergaben, und deren Reflexe je nach der Bewegung der Stroemung wechselten. Unter der Masse dieser schwimmenden Koerper zog das Floss unbemerkt dahin. Hier drohte also keine besondere Gefahr. Aber eine ganz andere war im Anzuge. Diese konnten sie nicht vorhersehen und vorzueglich auf keine Weise abwenden. Alcide Jolivet erkannte sie ganz zufaellig und zwar durch folgenden Umstand: Auf der rechten Seite des Flosses liegend, liess derselbe einmal seine Hand in's Wasser haengen. Ploetzlich erhielt er einen Eindruck, als wenn eine klebrige Substanz, etwa ein Mineraloel, seine Haut benetzte. Alcide Jolivet nahm auch noch den Geruch zu Hilfe, - er konnte sich nicht taeuschen. Das war eine Lage fluessiger Naphtha, welche auf der Oberflaeche der Angara schwamm und mit der Stroemung hinabtrieb. Schwamm das Floss also wirklich ganz auf dieser Substanz, welche so ungemein leicht entzuendlich ist? Woher ruehrte diese Naphtha? Hatte sie ein natuerliches Phaenomen an die Oberflaeche der Angara gefuehrt, oder sollte sie als Zerstoerungsmittel dienen, durch das die Tartaren vielleicht Irkutsk in Brand zu setzen suchten? Eine Art der Kriegfuehrung freilich, welche unter gesitteten Voelkern nicht wohl vorkommen koennte. Das waren die beiden Fragen, die Alcide Jolivet sich vorlegte, doch hielt er es fuer gerathen, von seiner Entdeckung nur Harry Blount Mittheilung zu machen, und Beide kamen auch ueberein, ihre Reisegefaehrten nicht unnoethig durch diese neue Gefahr zu aengstigen. Bekanntlich ist der Boden Centralasiens wie ein Schwamm impraegnirt von fluessigen Kohlenwasserstoffen. Im Hafen von Baku, an der persischen Grenze, an der Halbinsel Abcheron, am Kaspisee, in Kleinasien, in China, in Yug-Hyan, in Birma dringen die Oelquellen zu Tausenden an die Oberflaeche. Dort ist das "Oelgebiet", ein Pendant zu dem Theile Nordamerikas, der diesen Namen wirklich traegt. Bei gewissen religioesen Festen giessen die Eingebornen im Hafen zu Baku, welche Feueranbeter sind, fluessige Naphtha auf die Oberflaeche des Meeres, die in Folge ihres geringeren specifischen Gewichtes darauf schwimmt. Hat sich die brennbare Schicht dann ueber das Wasser verbreitet, so zuenden sie dieselbe mit Anbruch der Nacht an und bereiten sich auf diese Weise das unvergleichliche Schauspiel eines Oceans von Feuer, der sich mit dem Winde auf und niederbewegt. Was aber in Baku eine Festlichkeit ist, das musste zum Unheil auf den Wellen der Angara werden. Ob hier nun Feuer aus verbrecherischer Absicht oder aus Unvorsichtigkeit angezuendet wurde, jedenfalls haette es sich in einem Augenblicke bis ueber Irkutsk hinaus verbreitet. Auf dem Flosse selbst konnte man wohl vor jeder Unvorsichtigkeit sicher sein; desto mehr waren die verschiedenen Feuersbruenste an beiden Ufern der Angara zu fuerchten, denn es genuegte ja schon ein brennendes Holzstueckchen, vielleicht ein blosser Funke, den Naphthastrom in Flammen zu setzen. Die Besorgnisse Harry Blount's und Alcide Jolivet's gegenueber dieser neuen Gefahr lassen sich wohl eher empfinden, als schildern. Erschien es nicht rathsamer, vorlaeufig an eines der Ufer zu gehen, dort sich auszuschiffen und eine Zeit lang zu warten? - Sie legten sich wohl diese Frage vor. "Wie drohend die Gefahr auch sei, sagte Alcide Jolivet, jedenfalls weiss ich Einen, der sich nicht mit ausschiffen wuerde." Er spielte hiermit auf Michael Strogoff an. Inzwischen schwamm das Floss schnell zwischen den Eisschollen hinab, die sich immer enger und enger zusammendraengten. Bisher hatte man an den Uferabhaengen der Angara noch nirgends tartarische Abtheilungen zu Gesicht bekommen, ein Beweis, dass das Floss deren Vorpostenkette noch nicht erreicht haben koenne. Gegen zehn Uhr Abends glaubte Harry Blount jedoch eine Menge dunkler Gestalten wahrzunehmen, die sich auf den Eisschollen bewegten, und indem sie von der einen nach der andern sprangen, schnell naeher herankamen. "Tartaren!" dachte er. Er schlich sich in die Naehe des alten Seemanns auf dem vorderen Theile und lenkte dessen Aufmerksamkeit auf jene verdaechtigen Bewegungen. Der Alte richtete seine scharfen Augen darauf. "Das sind nur Woelfe, sagte er. Die sind mir lieber als die Tartaren. Doch werden wir uns zu vertheidigen suchen muessen, ohne dabei Geraeusch zu machen." Wirklich mussten die Fluechtlinge nun auch noch einen Kampf aufnehmen gegen die wilden Bestien, welche der Hunger und die Kaelte nach diesen Gegenden verschlagen hatte. Die Woelfe witterten das Floss, und bald fielen sie dasselbe an. Die Fluechtlinge mussten sich also, ohne von Feuerwaffen Gebrauch zu machen, zur Wehr setzen. Frauen und Kinder wurden in der Mitte des Flosses untergebracht, die Maenner bewaffneten sich mit Stangen, Messern oder einfachen Stoecken und stellten sich bereit, die Angreifer heim zu schicken. Kein Ausruf liess sich hoeren, nur das Geheul der Woelfe erschuetterte die Luft. Michael Strogoff hatte nicht unthaetig bleiben wollen. Er streckte sich an der von den Raubthieren angegriffenen Seite des Flosses nieder, ergriff sein furchtbares Messer, und wusste dieses allemal, wenn ein Wolf in erreichbarer Naehe vorueberkam, demselben in den Hals zu stossen. Harry Blount und Alcide Jolivet feierten ebenso wenig, wie ihre uebrigen muthigen Begleiter. Das ganze Blutbad ging in tiefstem Schweigen vor sich, obgleich mehrere der Fluechtlinge ernsthafte Bisswunden davon trugen. Der Kampf schien auch nicht so bald sein Ende zu erreichen. Die Luecken in der Bande der Woelfe fuellten sich immer von Neuem und jedenfalls war die ganze Uferstrecke durch sie unsicher gemacht. "Das hat auch gar kein Ende!" sagte Alcide Jolivet, waehrend er den bluttriefenden Dolch schwang. Eine halbe Stunde nach Beginn des Angriffs streiften die Woelfe noch immer in ganzen Banden ueber das Treibeis. Die erschoepften Fluechtlinge erlahmten sichtlich. Der Kampf wendete sich zu ihrem Nachtheil. Eben stuerzten zehn ungeheure, vor Wuth und Hunger rasende Woelfe mit feurigen Augen, die in der Dunkelheit wie gluehende Kohlen leuchteten, auf die Plattform des Flosses. Ohne Zoegern eilten Alcide Jolivet und Harry Blount auf diese zu, waehrend Michael Strogoff sich denselben kriechend zu naehern suchte, als die Scene sich ploetzlich veraenderte. Binnen wenigen Secunden hatten die Woelfe nicht nur das Floss, sondern auch die Eisschollen im Strome eiligst verlassen. Alle die schwarzen Gestalten verschwanden und zerstreuten sich offenbar in der Umgebung des rechten Flussufers. Es ruehrte das daher, dass Woelfe nur in der Dunkelheit einen Kampf wagen, und jetzt die ganze Flaeche der Angara ploetzlich in hellem Lichte glaenzte. Es war der Wiederschein einer ausgedehnten Feuersbrunst. Der ganze Flecken Poschkafsk stand in hellen Flammen. Hier schwaermten also Tartaren umher, die ihr gewohntes Mordbrennerhandwerk trieben, und weiter flussabwaerts die beiden Ufer besetzt hielten. Die Fluechtlinge traten jetzt in die gefaehrliche Zone ihrer naechtlichen Fahrt, und dabei lag die Hauptstadt noch dreissig Werst von ihnen entfernt. Es war jetzt gegen halb zwoelf Uhr Nachts. Das Floss glitt wieder versteckt zwischen den Eisschollen, von denen es sich kaum unterschied, dahin. Nur dann und wann flog ein heller Lichtschein ueber dasselbe hin. Auf der Plattform hingestreckt wagte keiner der Insassen eine Bewegung zu machen, die sie haette verrathen koennen. Die erwaehnte Ortschaft brannte ausserordentlich schnell nieder. Ihre aus Fichtenholz erbauten Haeuser flackerten wie brennendes Harz empor. Gegen fuenfzig derselben standen auf einmal in Flammen. Zu dem Knistern und Krachen der Feuersbrunst mischte sich das Gebruell der Tartaren. Der alte Seemann lenkte, indem er seine Stange an den groesseren Eisschollen einsetzte, das Floss mehr nach der rechten Seite, so dass sie eine Entfernung von drei- bis vierhundert Fuss von dem durch den Brand erleuchteten Flussufer trennte. Nichtsdestoweniger haetten die Fluechtlinge, auf die zuweilen ein greller Lichtschein fiel, wohl bemerkt werden muessen, wenn die Brandstifter nicht allzu eifrig mit der Zerstoerung des Ortes beschaeftigt gewesen waeren. Jeder wird sich aber leicht die Besorgniss Alcide Jolivet's und Harry Blount's vorstellen koennen, wenn diese an den so fluechtigen Brennstoff dachten, auf dem das Floss noch immer schwamm. Ganze Funkengarben spruehten aus den Haeusern auf, welche ebenso vielen brennenden Schmelzoefen glichen. Mitten in den Rauchwirbeln stiegen diese Funken fuenf- bis sechshundert Fuss hoch in die Luft empor. Am rechten Ufer selbst schienen die Baeume, im Widerscheine des roethlichen Lichtes, selbst in Flammen zu stehen. Nun reichte ja schon ein Funken hin, der auf die Angara niederfiel, die Feuersbrunst auch dem Strome mitzutheilen und Verderben bis zum andern Ufer zu tragen. Die Zerstoerung des Flosses und der Tod seiner Insassen musste dann die nothwendige Folge sein. Zum Glueck wehte der schwache Nachtwind nicht nach dieser Seite. Er blies fortwaehrend aus Osten und trieb die Flammen von dem linken Ufer ab. Moeglicherweise konnten die Fluechtlinge also dieser entsetzlichen Gefahr entgehen. Wirklich liessen sie die brennende Ortschaft bald hinter sich. Nach und nach erblasste der Feuerschein, das Knistern und Krachen verstummte, und bald verschwand auch der letzte Schimmer hinter dem hohen Ufer der Angara, welche hier einen scharfen Bogen bildet. So kam die Mitternacht heran. Die tiefe Finsterniss schuetzte wieder das Floss. An beiden Ufern trieben sich da und dort Tartaren umher. Man sah sie zwar nicht, hoerte sie aber, uebrigens glaenzten auch die Feuer der aeussersten Vorposten hell durch die Nacht. Inzwischen machte es sich bei den immer mehr zusammen gedraengten Eisschollen noethig, mit groesster Vorsicht weiter zu fahren. Der alte Seemann erhob sich und die Mujiks ergriffen ihre Stangen. Alle waren vollauf beschaeftigt, da die Fuehrung des Flosses immer schwieriger und das Bett des Flusses immer enger wurde. Michael Strogoff war nach dem Vordertheile geschlichen. Alcide Jolivet folgte ihm. Beide vernahmen die zwischen dem alten Seemann und seinen Leuten gewechselten Worte. "Achtung, dort rechts! -- Links draengen ein paar Schollen heran! -- Stoss' ab, fest mit der Stange! -- Vor Verlauf einer Stunde sitzen wir fest ... -- Wenn Gott das will! sagte der alte Seemann. Gegen seinen Willen ist nichts zu thun. -- Hoeren Sie Jene? fragte Alcide Jolivet. -- Ja, erwiderte Michael Strogoff, aber Gott ist mit uns!" Inzwischen ward die Situation immer ernster. Wurde das Floss wirklich aufgehalten, so gelangten die Fluechtlinge nicht nur nicht nach Irkutsk, sondern mussten jedenfalls auch ihr schwimmendes Transportmittel verlassen, das von den Eisschollen gedrueckt bald unter ihnen in Stuecke gehen wuerde. Dann drohten ja die aus Weidenzweigen bestehenden Baender zu reissen, die von einander weichenden Fichtenstaemme unter das Eis zu gerathen und den Ungluecklichen waere nichts anderes als Zuflucht verblieben, als die schwankenden Schollen selbst. Nach Anbruch des Tages haetten sie dann die Tartaren ohne Zweifel entdecken muessen, von deren Hand keine Gnade zu hoffen war. Michael Strogoff kehrte nach dem Hintertheile, wo Nadia sich aufhielt, zurueck. Er naeherte sich derselben, fasste ihre Hand und legte ihr die oft wiederholte Frage vor: "Bist Du bereit, Nadia?" - welche sie wie immer mit "Ich bin stets und zu Allem bereit!" beantwortete. Noch einige Werst draengte sich das Floss zwischen dem Schollengewirr dahin. Verengerte sich die Angara noch mehr, so musste sich ein Eisschutz bilden, der die Weiterbenutzung der Wasserstrasse so gut wie unmoeglich machte. Schon wurde die Bewegung offenbar eine langsamere. Jeden Augenblick fuehlte man Stoesse und sah, wie das Floss abwich. Hier musste man sich vor dem vorspringenden Ufer in Acht nehmen, dort eine enge Durchfahrt passiren. Immer wiederholten sich unerwuenschte Verzoegerungen. Nun dauerte die Nacht ja auch nur noch wenige Stunden. Erreichten die Fluechtlinge Irkutsk nicht vor fuenf Uhr des Morgens, so konnten sie auch alle Hoffnung aufgeben, jemals hinein zu gelangen. Gegen halb zwei Uhr stiess das Floss trotz aller Anstrengungen gegen einen compacten Eisschutz und blieb hier fest stehen. Die nachrueckenden Schollen draengten es noch mehr an jenen an und machten es dadurch so unbeweglich fest, als ob es auf einer Klippe gescheitert waere. An dieser Stelle verengerte sich die Angara ungemein, so dass die Breite ihres Bettes nur noch die Haelfte der gewoehnlichen betrug. Hieraus erklaerte sich diese Anhaeufung von Schollen, welche allmaelig mit einander verloetheten, sowohl durch den ganz betraechtlichen Druck, unter dem sie standen, als auch durch die Kaelte, welche fuehlbar zunahm. Fuenfhundert Schritt weiter unten dehnte sich das Flussbett wieder aus, und hier trieben einzelne Schollen, die sich von Zeit zu Zeit von der Eisbank loesten, in der Richtung nach Irkutsk hin. Ohne diese Annaeherung der Ufer haette sich die Schollenwand nicht bilden koennen und das Floss waere nach wie vor von der Stroemung fortgetragen worden. Gegen den ungluecklichen Zufall war aber nicht das Geringste zu thun, und die Fluechtlinge mussten eben auf jede Hoffnung verzichten, ihr ersehntes Ziel zu erreichen. Im Besitze solcher Werkzeuge, wie sie die Wallfischfahrer gebrauchen, um sich Kanaele durch das Eisfeld zu brechen, haetten sie vielleicht gerade noch Zeit gehabt, das Hinderniss bis zu der wieder erweiterten Stelle des Stromes zu beseitigen. Aber keine Saege, keine Spitzhaue war zur Hand, um die von der Kaelte granitartig verhaertete Kruste mit Aussicht auf Erfolg anzugreifen. Was nun? In diesem Augenblicke krachte eine Gewehrsalve am rechten Ufer der Angara. Ein ganzer Kugelregen war auf das Floss gerichtet. Man hatte die Armen also noch entdeckt. Diese Annahme fand dadurch ihre Bestaetigung, dass es jetzt auch von dem linken Ufer her aufblitzte. Zwischen zwei Feuer gestellt dienten die Fluechtlinge als Zielpunkte der tartarischen Tirailleurs. Einige wurden auch verwundet, obgleich die Kugeln bei der herrschenden Dunkelheit nur durch Zufall trafen. "Komm, Nadia", raunte Michael Strogoff dem jungen Maedchen in's Ohr. Ohne den mindesten Einwand ergriff Nadia "bereit zu Allem" Michael Strogoff's Hand. "Wir muessen jetzt die Eisbank uebersteigen, fluesterte er, aber Keiner darf gewahr werden, dass wir das Floss verlassen!" Nadia gehorchte. Michael Strogoff und sie glitten schnell, geschuetzt von der Finsterniss, welche nur da und dort das Feuer der Gewehre unterbrach, auf die Eisflaeche. Nadia kroch Michael Strogoff voraus. Wie ein Hagel schlugen die Kugeln rings um sie ein oder prallten an den Schollen ab. Die unebene Eisdecke mit ihren hervorstehenden scharfen Kanten und Spitzen riss ihnen die Haende auf, aber sie kamen doch vorwaerts. Zehn Minuten spaeter erreichten sie die untere Grenze der Eiswand. Hier ward das Wasser der Angara wieder frei. Einige Schollen rissen sich hier und da von derselben los und schwammen nach der Stadt hinunter. Nadia verstand Michael Strogoff's Absichten. Sie fand eine Eisscholle, welche nur durch eine schmale Verbindung fest hing. "Komm", sagte Nadia. Beide legten sich auf das Eisstueck, das sich nach einigem Schwanken von der Bank abloeste. Jetzt begann es, dahin zu treiben. Das Bett des Flusses erweiterte sich, der Weg stand offen. Michael Strogoff und Nadia hoerten noch das Knallen der Gewehre, die Ausrufe der Verzweiflung, das Bruellen der Tartaren ... Dann verstummten langsam diese Ausbrueche der entsetzlichen Angst und der teuflischen Freude. "Unsre armen Gefaehrten!" seufzte Nadia. Waehrend einer Stunde trug die Stroemung jene Eisscholle mit Michael Strogoff und Nadia schnell dahin. Jeden Augenblick hatten diese zu befuerchten, dass sie unter ihnen in Stuecke gehen koenne. Von der staerksten Stroemung ward sie nahezu in der Mitte der Wasserflaeche erhalten, und doch handelte es sich darum, sie mehr nach der Seite zu leiten, wenn sie an einem der Quais in Irkutsk landen sollte. Michael Strogoff lauschte, ohne ein Wort zu sprechen, gespannten Ohres. Niemals winkte ihm so nahe das Ziel. Er fuehlte jetzt, dass er es erreichen werde!... Um zwei Uhr Morgens schimmerte eine doppelte Reihe Lichter an dem dunklen Horizonte neben den beiden Ufern der Angara. Zur Rechten ruehrte dieser Lichtschein von Irkutsk her, zur Linken von den Wachtfeuern des tartarischen Feldlagers. Michael Strogoff war nur noch eine halbe Werst von der Stadt entfernt. "Endlich!" murmelte er fuer sich. Aber ploetzlich stiess Nadia einen furchtbaren Schrei aus. Bei diesem Aufschrei erhob sich Michael Strogoff auf der schwankenden Scholle. Seine Hand streckte sich nach der Angara hinauf. Sein von blaeulichen Reflexen ueberstrahltes Gesicht nahm einen furchtbaren Ausdruck an, und dann rief er, als haetten sich seine Augen auf's Neue dem Lichte erschlossen: "Ach, also Gott selbst ist doch gegen uns!" Zwoelftes Capitel. Irkutsk. Irkutsk, die Hauptstadt Ostsibiriens, zaehlt unter gewoehnlichen Verhaeltnissen etwa 30,000 Einwohner. Ein ziemlich hohes, steiles Ufer an der rechten Seite der Angara traegt seine von einer hohen Kathedrale ueberragten Kirchen und die in pittoresker Unordnung daneben verstreuten Haeuser. Von einer gewissen Entfernung aus, etwa von der Hoehe des Berges, ueber den in einer Entfernung von zwanzig Werst die grosse sibirische Heerstrasse fuehrt, bietet es mit seinen Kuppeln und Glockenthuermen, seinen den Minarets aehnlichen, schlanken Thurmspitzen, und vielen auf japanesische Art ausgehoehlten Daechern, ein etwas orientalisches Aussehen. Diese Physiognomie verschwindet aber dem Auge des Reisenden, sobald er die Stadt selbst betritt. Zur Haelfte in byzantinischem, zur Haelfte in chinesischem Stile erbaut, wird sie doch zu einer europaeischen durch die macadamisirten Strassen mit Trottoirs an den Seiten, durch die Kanaele in denselben, die reichlichen Baumanpflanzungen, durch ihre Gebaeude aus Ziegelstein und Holz, von denen einzelne auch mehrere Stockwerke zeigen, durch die zahlreichen Fuhrwerke, welche sie beleben, und unter denen man nicht nur Telegs und Tarantasse, sondern auch moderne Wagen zu verstehen hat, endlich durch eine grosse Anzahl mit den jeweiligen Fortschritten der Civilisation ganz vertrauter Einwohner, denen auch die neuesten pariser Moden nichts Fremdes sind. Zur jetzigen Zeit war Irkutsk, die Zufluchtsstaette der Bewohner einer ganzen Provinz, furchtbar ueberfuellt. Alle Beduerfnisse fanden hier dennoch reichlichste Befriedigung. Irkutsk bildet die Niederlage jener zahllosen Waaren, welche zwischen China, Centralasien und Europa ausgetauscht werden. Man brauchte also den Zuzug der Landbauern aus dem Angarathale, den der Mongel-Khalkas, der Tungunsen, der Burets nicht zu fuerchten, und konnte zwischen den Feinden und der Stadt alles Land verwuesten lassen. Irkutsk ist der Sitz des Generalgouverneurs von Ostsibirien. Unter ihm fungiren noch ein Civilgouverneur, in dessen Haenden die Verwaltungsgeschaefte der Provinz liegen, ein Polizeidirector, der in einer Stadt mit so vielen Verbannten nicht allzuwenig zu thun hat, und endlich ein Maire, der Erste der Kaufleute, eine wegen ihres Reichthums und des unerklaerlichen Einflusses auf die betreffenden Kreise sehr viel bedeutende Persoenlichkeit. Die Garnison von Irkutsk bestand aus einem Regiment Kosaken zu Fuss, in der Staerke von etwa 2000 Mann, und einem Corps einheimischer Gensdarmen mit Helm und blauer, silberbesetzter Uniform. Ausserdem war, wie wir wissen, der Bruder des Czaar in Folge eigenthuemlicher Verhaeltnisse seit Beginn des Tartareneinfalls in die Stadt eingeschlossen. Ueber jene Verhaeltnisse nur einige Worte. Eine wichtige politische Reise hatte den Grossfuersten in diese entlegenen Provinzen Ostasiens gefuehrt. Der Grossfuerst beruehrte die hauptsaechlichsten Staedte Sibiriens, reiste mehr als Soldat, denn als Prinz, ohne jeden Hofstaat, nur begleitet von seinen Officieren und einer Abtheilung Kosaken, wobei er bis nach den transbaikalischen Landschaften vordrang. Nikolajowsk, die letzte russische Stadt am Ochotskischen Meere, wurde ebenfalls mit seinem Besuche beehrt. An den Grenzen des ungeheuren Moskowitenreiches angelangt, kehrte der Grossfuerst nach Irkutsk zurueck, von wo er den Weg nach Europa wieder einschlagen wollte, als er die ersten Nachrichten von der ebenso gefaehrlichen, als urploetzlichen Invasion erhielt. Er beeilte sich, die Hauptstadt zu erreichen, bei seiner Ankunft daselbst war aber die Verbindung mit Russland schon unterbrochen. Einige Telegramme von Petersburg und Moskau kamen in seine Hand, auf welche er auch noch Antwort zu geben vermochte. Dann war die Leitung unter den uns bekannten Umstaenden zerstoert worden. Isolirt lag Irkutsk am Ende der Welt. Dem Grossfuersten fiel nun blos noch die Aufgabe zu, die Vertheidigung zu organisiren, was er mit der Festigkeit und Ruhe durchfuehrte, von der er bei anderer Gelegenheit hinlaengliche Proben gegeben hat. Die Nachrichten ueber die Einnahme von Ichim, Omsk und Tomsk gelangten eine nach der anderen nach Irkutsk. Die Wegnahme dieser Hauptstadt Sibiriens musste auf jeden Fall verhindert werden. Auf baldige Hilfe durfte man nicht rechnen. Die wenigen in der Amurprovinz und dem Gouvernement Jakutsk zerstreuten Truppen reichten, auch wenn sie heranrueckten, nicht aus, den tartarischen Heersaeulen Halt zu gebieten. Da nun Irkutsk einem Angriffe offenbar nicht entgehen konnte, so musste die Stadt vor allen Dingen in den Stand gesetzt werden, eine Belagerung von einiger Dauer auszuhalten. Die Arbeiten hierzu nahmen an demselben Tage ihren Anfang, als Tomsk in die Haende der Tartaren fiel. Gleichzeitig mit dieser Neuigkeit erfuhr der Grossfuerst, dass der Emir von Bukhara und die verbuendeten Khans in Person die Bewegung leiteten; unbekannt blieb ihm aber, dass der zweite Fuehrer dieser Barbarenhaeuptlinge, Iwan Ogareff, ein frueherer russischer Officier war, den er selbst degradirt hatte, und den er von Person nicht kannte. Gleich zuerst wurden die Bewohner der Provinz Irkutsk, wie wir wissen, veranlasst, alle Staedte und Doerfer zu verlassen. Wer keine Zuflucht in der Hauptstadt suchte, musste sich noch weiter hinaus, jenseit des Baikalsees, begeben, bis wohin der Schwarm der Feinde hoechst wahrscheinlich nicht gelangen konnte. Die Vorraethe an Getreide und Fourrage wurden fuer die Stadt requirirt und dieses letzte Bollwerk der moskowitischen Herrschaft in den Stand gesetzt, wenigstens eine Zeit lang Widerstand zu leisten. Irkutsk, gegruendet im Jahre 1611, liegt am Zusammenflusse des Irkut und der Angara, am rechten Ufer der letztgenannten. Zwei auf Pfeilern ruhende Holzbruecken, die sich zum Zwecke der Schifffahrt in der ganzen Breite des Fahrwassers oeffnen lassen, verbinden die Stadt mit ihren Vorstaedten am linken Stromufer. Nach dieser Seite bot die Vertheidigung keine Schwierigkeiten. Die Vorstaedte wurden geraeumt, die Bruecken abgebrochen. Eine Ueberschreitung der hier sehr breiten Angara waere unter dem Feuer der Belagerten nicht leicht auszufuehren gewesen. Der Fluss konnte ja aber auch oberhalb oder unterhalb der Stadt ueberschritten werden, und folglich drohte Irkutsk auch die Gefahr eines Angriffs von der Ostseite, wo es keine Umfassungsmauer schuetzte. Alle kraeftigen Arme wurden nun zunaechst zu Fortificationsarbeiten verwendet. Man war Tag und Nacht thaetig. Der Grossfuerst fand eine ueberaus eifrige Bevoelkerung, die sich bei der eigentlichen Vertheidigung auch ebenso muthvoll beweisen sollte. Soldaten, Kaufleute, Verbannte, Bauern - Alle widmeten sich dem allgemeinen Besten. Acht Tage vor der Ankunft der Tartaren im Angarathale hatte man ringsum Erdwaelle aufgeworfen. Ausserdem war dadurch vor letzteren ein Wallgraben entstanden, den die Angara speiste. Durch einen Handstreich konnte die Stadt also nicht leicht weggenommen werden. Sie musste belagert und gestuermt werden. Das dritte tartarische Armeecorps, - dasselbe, welches im Thale des Jenisei hinaufgezogen war, - erschien am 24. September vor Irkutsk. Es besetzte sofort die verlassenen Vorstaedte, deren Haeuser uebrigens meist niedergelegt waren, um der leider unzureichenden Artillerie des Grossfuersten keine Hindernisse zu bieten. Die Tartaren suchten sich einzurichten und erwarteten die beiden anderen von dem Emir und seinen Verbuendeten gefuehrten Heerhaufen. Die Verbindung dieser verschiedenen Corps ward am 25. September durch das Lager an der Angara bewerkstelligt und die ganze Armee, mit Ausnahme der in den groesseren Staedten zurueckgelassenen Besatzungen unter dem Befehle Feofar-Khan's vereinigt. Da Iwan Ogareff eine Ueberschreitung der Angara in Irkutsk selbst fuer unausfuehrbar erklaerte, so setzte eine starke Heeresabtheilung einige Werst stromabwaerts mittels Schiffbruecken ueber den Fluss. Der Grossfuerst griff hiergegen nicht ein, da er dieses Vorhaben wohl etwas stoeren, aus Mangel an hinreichender Feldartillerie aber doch nicht verhindern konnte, und so blieb er, gewiss mit vollem Rechte, ruhig in Irkutsk. Die Tartaren besetzten also auch die rechte Flussseite; dann marschirten sie gegen die Stadt heran, brannten unterwegs die Sommerwohnung des Generalgouverneurs in einem den Lauf der Angara beherrschenden Waeldchen nieder, und begannen nach voelliger Einschliessung der Stadt die regelrechte Belagerung. Iwan Ogareff bemuehte sich als geschickter Ingenieur diese bestens zu leiten, nur gingen ihm die noethigen Hilfsmittel ab, um rasche Erfolge zu erzielen. Uebrigens hatte er darauf gerechnet, Irkutsk, das Ziel seines Verlangens, im ersten Anlauf zu nehmen. Wie sich nun zeigte, hatte sich die Sachlage unerwartet geaendert. Einestheils hielt die Schlacht bei Tomsk die tartarische Armee in ihrem Marsche auf, anderntheils die Schnelligkeit, mit welcher der Grossfuerst die jetzigen Vertheidigungswerke herzustellen wusste. An diesen beiden Ursachen scheiterte seine urspruengliche Absicht und er sah sich zu einer regelrechten Belagerung genoethigt. Dennoch versuchte der Emir auf sein Anrathen zweimal, ohne Ruecksicht auf die zahlreichen Opfer an Mannschaften, die Stadt zu stuermen. Er warf seine Truppen auf die scheinbar schwaechsten Punkte der Schanzen; beide Angriffe wurden aber muthig abgeschlagen. Der Grossfuerst und seine Officiere setzten sich bei dieser Gelegenheit ruecksichtslos jeder Gefahr aus. Sie traten mit ihrer eigenen Person ein und fuehrten die Civilbevoelkerung mit auf die Waelle. Buerger und Mujiks erfuellten opferfreudig ihre Pflicht. Bei dem zweiten Sturmangriff war es den Tartaren gelungen, eines der Thore in den Waellen zu erobern. An dem einen Ende der grossen, zwei Werst langen und oben und unten an der Angara ausmuendenden Strasse von Bolchaia kam es zu einem Kampfe. Aber Kosaken, Gensdarmen und Buerger setzten den Tartaren einen so hartnaeckigen Widerstand entgegen, dass sich diese zuletzt in ihre frueheren Stellungen zurueckziehen mussten. Nun gedachte Iwan Ogareff durch Verrath zu erreichen, was er durch Gewalt nicht erlangen konnte. Wir wissen, dass seine Absicht dahin ging, in die Stadt einzudringen, sich dem Grossfuersten zu naehern, dessen Vertrauen zu erschleichen und seiner Zeit eines der Thore den Belagerern zu ueberliefern. Dann wollte er seinen eigenen Rachedurst an dem Bruder des Czaar stillen. Die Zigeunerin Sangarre, seine Begleiterin bis in das Lager an der Angara, trieb ihn noch an, dieses Vorhaben auszufuehren. In der That war auch Gefahr im Verzuge. Schon marschirten die Truppen aus dem Gouvernement Jakutsk auf Irkutsk. Sie hatten sich am obern Laufe der Lena concentrirt, deren Thale sie folgten. In hoechstens sechs Tagen mussten sie eintreffen, also wurde es noethig, Irkutsk vor diesem Zeitpunkte durch Verrath zu ueberwaeltigen. Iwan Ogareff zoegerte keinen Augenblick. - Eines Abends, am 2. October, wurde in dem grossen Salon des Gouvernementspalastes, in dem der Grossfuerst residirte, ein Kriegsrath abgehalten. Dieses am Ende der Bolchaiastrasse gelegene Gebaeude beherrscht weithin den Lauf des Flusses. Gegenueber den Fenstern seiner Hauptfacade sah man das Lager der Tartaren; haetten letztere weiter tragende Belagerungsgeschuetze besessen, so waere dieses Gebaeude ganz unhaltbar gewesen. Der Grossfuerst, der General Voranzoff, der Gouverneur der Stadt, der Chef der Kaufleute und eine Anzahl hoehere Officiere besprachen eben verschiedene nothwendige Massregeln. "Meine Herren, begann der Grossfuerst, unsere dermalige Lage ist Ihnen hinlaenglich bekannt. Ich habe die feste Ueberzeugung, dass wir Irkutsk bis zum Eintreffen von Ersatztruppen zu halten im Stande sind. Dann werden wir leicht im Stande sein, die Barbarenhorden in die Flucht zu jagen, und an mir soll es gewiss nicht liegen, wenn sie diesen frechen Einfall in unser Gebiet nicht sehr theuer bezahlen. -- Eure kaiserliche Hoheit wissen, erwiderte der General Voranzoff, dass Sie auf die Bevoelkerung von Irkutsk zaehlen koennen. -- Gewiss, General, antwortete der Grossfuerst, und ich erkenne diesen eifrigen Patriotismus gern und unumwunden an. Gott sei Dank ist die Einwohnerschaft noch von den Schrecken einer Epidemie oder der Hungersnoth verschont geblieben, und ich hoffe, das soll nicht anders werden; auf den Waellen aber habe ich nur ihren Heldenmuth bewundern koennen. Sie hoeren meine Worte, Herr Vorsteher der Kaufmannsgilde, und ich bitte Sie, dieselben weiter zu verbreiten. -- Ich danke Eurer Hoheit im Namen der Stadt, erwiderte der Angeredete. Darf ich wohl auch fragen, nach welchem laengsten Zeitraume auf das Eintreffen von Ersatztruppen zu rechnen ist? -- Hoechstens nach sechs Tagen, erklaerte der Grossfuerst. Erst heute Morgen ist ein gewandter und kuehner Emissaer in die Stadt gekommen, der mir mittheilt, dass fuenfzigtausend russische Truppen unter Fuehrung des Generals Kisselef im Anmarsch sind. Vor zwei Tagen befanden sie sich in Kironsk, am Ufer der Lena, und jetzt werden weder Schnee noch Kaelte ihren Zug aufzuhalten vermoegen. Fuenfzigtausend Mann Kerntruppen, welche die Tartaren in der Flanke fassen, werden uns leicht von denselben befreien. -- Ich erlaube mir hinzuzufuegen, dass wir sofort, wenn Eure kaiserliche Hoheit einen Ausfall befehlen sollten, bereit sind, diesem Befehle zu folgen. -- Ich danke, mein Herr, sagte der Grossfuerst. Warten wir es ab, bis die Spitzen unserer Colonnen auf den naechsten Hoehen erscheinen, dann wollen wir die Feinde zerschmettern." Dann wandte er sich wieder an den General Voranzoff. "Wir werden morgen, sagte er, die Arbeiten am rechten Ufer besichtigen. Die Angara bringt schon Eisschollen mit, sie wird bald eine feste Decke erhalten und den Tartaren den Uebergang ermoeglichen. -- Wuerden mir Eure Hoheit eine Bemerkung gestatten? fragte der Chef der Kaufleute. -- Sprechen Sie. -- Ich habe die Temperatur wiederholt bis dreissig und vierzig Grade unter Null herabgehen sehen, immer aber bedeckte sich die Angara nur mit losen Schollen, ohne je ganz zuzufrieren, woran ihre rasche Stroemung Schuld zu sein scheint. Besitzen die Tartaren also keine anderen Hilfsmittel, den Fluss zu passiren, so garantire ich Eurer Hoheit, dass sie auf diesem Wege nie nach Irkutsk hinein gelangen werden." Der Generalgouverneur bestaetigte die Bemerkung des Chefs der Kaufmannschaft. "Das ist gewiss ein recht gluecklicher Umstand, aeusserte der Grossfuerst. Nichtsdestoweniger werden wir gut thun, jede Eventualitaet in's Auge zu fassen." Er wandte sich dann an den Director der Polizei. "Sie haben mir Nichts mitzutheilen? fragte er. -- Ich habe Ihnen zu melden, kaiserliche Hoheit, erwiderte der Polizeidirector, dass mir durch meine Unterbeamten eine Bittschrift uebergeben wurde ... -- Ausgehend von ...? -- Von sibirischen Verbannten, Sire, deren Anzahl, wie Sie wissen, sich hier auf Fuenfhundert belaeuft." Die politischen Verbannten, welche sonst ueber die ganze Provinz verbreitet sind, waren seit Beginn der Invasion in Irkutsk concentrirt. Sie waren dem Befehle nachgekommen, in der Stadt einzutreffen, und hatten die Ortschaften verlassen, wo sie ihren verschiedenen Berufsgeschaeften oblagen, hier als Aerzte, dort als Lehrer entweder an einem Gymnasium, der japanischen oder einer Schifffahrts-Schule. Von Anfang an hatte sie der Grossfuerst, im Vertrauen auf ihren Patriotismus, mit Waffen versehen und sie als tuechtige Vertheidiger erkannt. "Was wuenschen die Verbannten? fragte der Grossfuerst. -- Sie ersuchen Eure kaiserliche Hoheit um die Erlaubniss, ein besonderes Corps bilden und beim ersten Ausfall an der Spitze marschiren zu duerfen. -- O, erwiderte der Grossfuerst, ohne seine freudige Erregung zu verbergen, ich wusste es ja, das sind Russen; ihr Patriotismus erwirbt ihnen das Recht, sich fuer ihr Vaterland zu schlagen. -- Ich glaube Eurer kaiserlichen Hoheit versichern zu koennen, sagte der Generalgouverneur, dass Sie keine besseren Soldaten zu finden vermoegen. -- Doch sie brauchen dann einen Fuehrer, bemerkte der Grossfuerst. Wer soll das sein? -- Sie wuenschten Eurer Hoheit einen aus ihrer Mitte vorzuschlagen, antwortete der Polizeidirector, der sich schon bei mehreren Gelegenheiten ausgezeichnet hat. -- Ist es ein Russe? -- Ja, ein Russe aus den baltischen Provinzen. -- Sein Name ...? -- Wassili Fedor." Der Verbannte war der Vater Nadia's. Wassili Fedor lebte, wie uns bekannt ist, in Irkutsk seinem Berufe als Arzt. Ein kenntnissreicher und im Umgange liebenswuerdiger Mann, war er gleichzeitig von hohem Muthe und warmer Vaterlandsliebe beseelt. Jede Stunde, in der er nicht von Kranken in Anspruch genommen war, widmete er den Vertheidigungsarbeiten. Er war es auch, der seine Schicksalsgenossen zu gemeinsamem Auftreten verbunden hatte. Bisher mitten unter der uebrigen Bevoelkerung verwendet, gelang es den Verbannten doch, die Aufmerksamkeit des Grossfuersten zu erregen. Bei mehreren Ausfaellen hatten sie mit dem Blute ihre Schuld an das heilige Russland bezahlt. Wassili Fedor benahm sich stets als Held. Sein Name ward wiederholt mit Auszeichnung genannt, doch er erstrebte weder Dank noch Belohnung, und als die Verbannten die Bildung eines besonderen Corps beschlossen, dachte er gar nicht daran, dass sie beabsichtigen koennten, ihn zu ihrem Fuehrer auszuersehen. Als der Polizeidirector diesen Namen genannt hatte, bemerkte der Grossfuerst, dass ihm derselbe nicht unbekannt sei. "In der That, bestaetigte General Voranzoff, Wassili Fedor ist ein muthiger, geeigneter Mann. Stets erwies sich sein Einfluss auf die anderen Verbannten von grosser Bedeutung. -- Seit wann ist er in Irkutsk? fragte der Grossfuerst. -- Seit zwei Jahren. -- Und seine Auffuehrung ...? -- Er fuegt sich, antwortete der Polizeidirector, als verstaendiger Mann den Vorschriften, wie sie die Verbannung eben mit sich bringt. -- General, antwortete der Grossfuerst, lassen Sie mir denselben ohne Zoegern zufuehren." Der Befehl des Grossfuersten ward ausgefuehrt, und noch vor Ablauf einer halben Stunde trat Wassili Fedor in den Saal ein. Es war ein Mann von etwa vierzig Jahren, von hohem Wuchs und mit ernster, gewinnender Physiognomie. Man sah es ihm an, dass sein ganzes Leben sich in dem Worte: Kampf! zusammen fassen liess, und dass er gekaempft, aber auch gelitten hatte. Seine Zuege erinnerten lebhaft an die seiner Tochter Nadia Fedor. Mehr als jeden Andern hatte ihn der Tartareneinfall auch persoenlich schmerzlich beruehrt und die liebste Hoffnung eines Vaters vernichtet, der achttausend Werst von seiner Heimath in der Verbannung lebte. Ein Brief hatte ihm den Tod der geliebten Gattin gemeldet zugleich mit der Abreise seiner Tochter, welche von der Regierung die Erlaubniss ausgewirkt hatte, ihm in Irkutsk Gesellschaft zu leisten. Nadia hatte Riga am 10. Juli verlassen. Die Invasion begann am 15. Juli. Wenn Nadia zu dieser Zeit schon die Grenze ueberschritten hatte, was war aus ihr mitten in dem Schwarme der Feinde geworden? Von welcher Unruhe musste der unglueckliche Vater verzehrt werden, da er seit dieser Zeit keine Nachrichten von seiner Tochter erhalten hatte! Wassili Fedor verneigte sich in Gegenwart des Grossfuersten und erwartete von diesem angesprochen zu werden. "Wassili Fedor, begann der Grossfuerst, Deine Genossen in der Verbannung haben sich erboten, ein Elitecorps bilden zu duerfen. Sie vergessen doch nicht, dass in einer solchen Schaar Jeder bis zum letzten Mann zu sterben bereit sein muss? -- Sie sind sich dessen bewusst, erwiderte Wassili Fedor. -- Sie wuenschen Dich als Anfuehrer? -- Ja, kaiserliche Hoheit. -- Und hast Du die Absicht, Dich an ihre Spitze zu stellen? -- Wenn das Heil Russlands es erheischt, gewiss. -- Commandant Fedor, sagte der Grossfuerst, Du bist nicht mehr verbannt. -- Ich danke, Hoheit, aber kann ich dann ueber Solche den Befehl fuehren, die es noch sind? -- Sie sind es nicht mehr." In seine Hand legte der Bruder des Czaar die Begnadigung seiner verbannten Genossen, jetzt seiner Waffengefaehrten. Tief bewegt drueckte Wassili Fedor die ihm dargebotene Hand des Grossfuersten und verliess das Gemach. Der Letztere wendete sich an seine Officiere. "Der Czaar wird den Gnadenbrief anerkennen, den ich hier in seinem Namen ausstelle, sagte er laechelnd. Wir brauchen Helden, um die Hauptstadt Sibiriens zu vertheidigen, ich habe solche jetzt geschaffen." Diese den Verbannten von Irkutsk gewaehrte Gnade entsprach in der That ebenso einer grossherzigen Justiz, wie einer klugen Politik. Die Nacht brach herein. Durch die Fenster des Palastes leuchteten die Feuer des tartarischen Lagers, die sich da und dort in der Angara wiederspiegelten. In dem Flusse trieben zahlreiche Eisschollen, von denen einige an den alten Pfeilern der frueheren hoelzernen Bruecke haengen blieben. Die meisten flossen aber mit erstaunlicher Schnelligkeit dahin. Offenbar konnte die Angara, wie es der Vorsteher der Kaufmannschaft schon gesagt hatte, nur schwer in der ganzen Oberflaeche zufrieren. Die Gefahr eines Angriffs von der Wasserseite brauchten die Vertheidiger von Irkutsk also nicht sonderlich zu fuerchten. Eben schlug es zehn Uhr. Der Grossfuerst verabschiedete seine Officiere und wollte sich gerade in seine Gemaecher zurueckziehen, als vor dem Palaste ein auffallender Tumult entstand. Fast gleichzeitig oeffnete sich die Thuer des Salons, ein Feldjaeger trat ein und ging auf den Grossfuersten zu. "Kaiserliche Hoheit, meldete er, ein Courier des Czaar!" Dreizehntes Capitel. Ein Courier des Czaar. Eine unwillkuerliche Bewegung fuehrte alle Theilnehmer der Berathung nach der halb offenen Thuer zurueck. Ein Courier des Czaar, in Irkutsk angekommen! Wenn die Officiere nur einen Augenblick ueber die Wahrscheinlichkeit dieser Thatsache nachgedacht haetten, mussten sie dieselbe fuer unmoeglich ansehen. Der Grossfuerst war lebhaft auf seinen Feldjaeger zugeschritten. "Lass den Courier eintreten!" sagte er. An der Schwelle erschien ein Mann. Seine aeussere Erscheinung zeugte von grosser Erschoepfung. Er trug die abgenutzte, halb zerrissene Kleidung eines sibirischen Bauern, an der sogar einige Loecher von Kugeln sichtbar waren. Seinen Kopf bedeckte eine moskowitische Muetze. Auf der Wange sah man eine kaum verharschte Schramme. Offenbar hatte dieser Mann einen langen und beschwerlichen Weg hinter sich. Seine in schlechtem Stande befindliche Fussbekleidung verrieth auch, dass er einen Theil seiner Reise zu Fuss zurueckgelegt haben musste. "Seine kaiserliche Hoheit der Grossfuerst?" fragte er eintretend. Der Grossfuerst ging auf ihn zu. "Du bist Courier des Czaar? fragte er. -- Ja, Hoheit. -- Und kommst ...? -- Aus Moskau. -- Und hast Moskau verlassen? -- Am 15. Juli. -- Dein Name ...? -- Michael Strogoff." Es war Iwan Ogareff. Er hatte den Namen und Charakter desjenigen angenommen, den er unschaedlich gemacht zu haben glaubte. In Irkutsk kannte ihn weder der Grossfuerst, noch irgend Jemand Anderes, so dass er sein Gesicht nicht einmal zu entstellen brauchte. Da er in der Lage war, seine etwa angezweifelte Identitaet zu beweisen, hatte er keine Entdeckung zu fuerchten. Er schickte sich jetzt also an, nachdem er das Ziel durch seinen eisernen Willen erreicht hatte, durch Verrath und Meuchelmord das Drama des feindlichen Einfalles zu kroenen. Nach der Antwort Iwan Ogareff's gab der Grossfuerst seinen Officieren ein Zeichen mit der Hand, worauf sich diese zurueckzogen. Der falsche Michael Strogoff und er blieben allein in dem Salon zurueck. Der Grossfuerst betrachtete Iwan Ogareff einige Augenblicke mit scharfer Aufmerksamkeit. Dann begann er: "Du hast Moskau am 15. Juli verlassen? -- Ja, Hoheit, und habe Seine Majestaet den Czaaren in der Nacht vom 14. zum 15. Juli im Neuen Palais gesprochen. -- Du hast einen Brief des Czaar? -- Ja, hier ist er." Iwan Ogareff uebergab dem Grossfuersten das kaiserliche Schreiben, das er auf das kleinste Format zusammengebrochen hatte. "Dieser Brief ist Dir in diesem Zustande uebergeben worden? -- Nein, Hoheit, doch musste ich das Couvert zerstoeren, um ihn vor den Soldaten des Emirs besser verbergen zu koennen. -- Warst Du Gefangener der Tartaren? -- Ja, kaiserliche Hoheit, wenigstens einige Tage lang. Daher kommt es auch, dass ich trotz meiner Abreise am 15. Juli von Moskau, wie sie dieser Brief auch angiebt, erst am 2. October in Irkutsk eingetroffen bin, d. h. also, nach einer Reise von neunundsiebenzig Tagen." Der Grossfuerst nahm den Brief. Er faltete ihn auseinander, erkannte die Signatur des Czaar, nebst der von dessen eigener Hand geschriebenen Eingangsformel. An der Authenticitaet dieses Schreibens, wie an der Identitaet des Ueberbringers konnte also kein Zweifel sein. Hatte sein wildes Antlitz auch erst einiges Misstrauen in dem Grossfuersten erweckt, so schwand dieses doch jetzt vollstaendig. Einige Augenblicke verhielt sich der Grossfuerst schweigend. Er durchlas langsam den Brief, wie um seinen Sinn recht scharf zu fassen. Endlich nahm er wieder das Wort. "Michael Strogoff, sagte er, Du kennst den Inhalt dieses Schreibens? -- Ja, Hoheit, ich konnte in die Lage kommen, dasselbe vernichten zu muessen, um es nicht den Tartaren in die Haende fallen zu lassen, und war fuer diesen Fall bedacht, dessen Text Eurer kaiserlichen Hoheit moeglichst genau mittheilen zu koennen. -- Du weisst also, dass dieser Brief uns auferlegt, eher in Irkutsk zu sterben, als die Stadt auszuliefern? -- Ich weiss es. -- Und weisst auch, dass er mir die Bewegungen der Truppen mittheilt, welche aufgeboten worden sind, den Einfall zu bekaempfen? -- Ja, Hoheit, aber diese Bewegungen sind verunglueckt. -- Wie so? -- Nun Ichim, Omsk, Tomsk, um nur von den bedeutendsten Staedten Sibiriens zu sprechen, sind den Soldaten Feofar-Khan's nach und nach in die Haende gefallen. -- Ohne dass es zu Gefechten gekommen waere? Sollten unsere Kosaken nicht auf die Tartaren getroffen sein? -- Mehrmals, kaiserliche Hoheit. -- Und sie sind zurueckgeschlagen worden? -- Sie verfuegten nur ueber ungenuegende Kraefte. -- Wo haben die Treffen, von denen Du sprichst, stattgefunden? -- Bei Kolyvan, Tomsk ..." Bis hierher hatte Iwan Ogareff nur die Wahrheit gesagt, um aber die Vertheidiger von Irkutsk zu entmuthigen, uebertrieb er die durch die Truppen des Emirs erlangten Vortheile und fuegte hinzu: "Und ein drittes Mal vor Krasnojarsk. -- Und das letzte Treffen?... fragte der Grossfuerst, ueber dessen Lippen kaum die Worte kamen. -- Das war mehr als ein Treffen, Hoheit, das war eine Schlacht. -- Eine Schlacht? -- Zwanzigtausend Russen, die aus den Grenzprovinzen und dem Gouvernement Tobolsk heranzogen, stuerzten sich 150,000 Tartaren entgegen und wurden trotz ihres verzweifelten Muthes fast aufgerieben. -- Du luegst, rief der Grossfuerst, der vergeblich seinen Zorn zu bemeistern suchte. -- Ich spreche die Wahrheit, Hoheit, antwortete frostig Iwan Ogareff. Ich war selbst bei der Schlacht von Krasnojarsk gegenwaertig und gerieth eben da in Gefangenschaft!" Der Grossfuerst ward wieder ruhiger und gab Iwan Ogareff durch ein Zeichen zu erkennen, dass er nicht an seiner Aufrichtigkeit zweifle. "An welchem Tage fand die Schlacht von Krasnojarsk statt? fragte er. -- Am 2. September. -- Und jetzt sind alle tartarischen Truppen um Irkutsk concentrirt? -- Alle. -- Und Du schaetzest diese ...? -- Auf 400,000 Mann." Diese Angabe beruhte wiederum auf einer zu demselben Zwecke vorgebrachten Uebertreibung Iwan Ogareff's. "Und aus den westlichen Provinzen habe ich keinen Entsatz zu erwarten? fragte der Grossfuerst. -- Nein, kaiserliche Hoheit, mindestens nicht vor Ausgang des Winters. -- Nun wohl, so hoere, Michael Strogoff. Sollte ich auch weder von Osten noch von Westen her Unterstuetzung bekommen, und zaehlten die Barbaren 600,000 Mann, ich werde Irkutsk niemals uebergeben!" Das boshafte Auge Iwan Ogareff's bedeckte sich ein wenig. Der Verraether schien sagen zu wollen, dass der Bruder des Czaar seine Rechnung ohne Ruecksicht auf Verraetherei machte. Der Grossfuerst hatte bei seinem nervoesen Temperament alle Muehe, bei diesen Ungluecksbotschaften seine Ruhe zu bewahren. Er ging im Salon auf und ab vor den Augen Iwan Ogareff's, die ihm wie einer schon seiner Rache verfallenen Beute folgten. Er blieb an den Fenstern stehen, blickte nach den Wachtfeuern der Tartaren und suchte sich ueber ein Geraeusch aufzuklaeren, das ja meist nur von den in der Angara dahintreibenden und aneinander prallenden Eisschollen herruehrte. Eine Viertelstunde verging, ohne dass er eine weitere Frage stellte. Dann nahm er den Brief nochmals zur Hand und durchlas eine besondere Stelle desselben. "Du weisst, Michael Strogoff, dass hierin von einem Verraether die Rede ist, vor dem ich mich hueten soll? -- Ja, Hoheit. -- Er soll unter irgend einer Verkleidung nach Irkutsk einzudringen suchen und sich um mein Vertrauen bewerben, um zur gegebenen Zeit die Stadt den Tartaren zu ueberliefern. -- Ich kenne das Alles, kaiserliche Hoheit, und weiss auch, dass Iwan Ogareff geschworen hat, persoenlich an dem Bruder des Czaar seine Rache zu nehmen. -- Warum? -- Man sagt, dieser Officier sei von dem Grossfuersten zu einer entehrenden Degradation verurtheilt worden. -- Ja, richtig, ... ich entsinne mich ... doch, er verdiente es, dieser Elende, der spaeter gegen sein Vaterland diente, um einen Einfall der Barbaren zu organisiren. -- Seiner Majestaet dem Czaar, fuhr Iwan Ogareff fort, kam es vor allem darauf an, Sie, kaiserliche Hoheit, von den verbrecherischen Absichten gegen Ihre Person in Kenntniss zu setzen. -- Ja, der Brief enthaelt die noethigen Aufschluesse ... -- Und Seine Majestaet haben das mir auch selbst mitgetheilt und mir vorzueglich eingeschaerft, mich bei meiner Reise durch Sibirien ja vor diesem Verraether zu hueten. -- Bist Du ihm begegnet? -- Ja, Hoheit, nach der Schlacht von Krasnojarsk. Haette er vermuthen koennen, dass ich der Traeger eines an Eure kaiserliche Hoheit gerichteten Schreibens war, das seine abscheulichen Plaene enthuellte, so wuerde er mir keine Gnade gewaehrt haben. -- Gewiss, dann waerst Du verloren gewesen, antwortete der Grossfuerst. Doch wie bist Du ueberhaupt entkommen? -- Dadurch, dass ich mich in den Irtysch stuerzte. -- Und wie kamst Du nach Irkutsk herein? -- Bei Gelegenheit eines an diesem Abende unternommenen Ausfalles, welcher der Vertreibung einer Tartarenabtheilung galt. Ich mischte mich unter die Vertheidiger der Stadt, es gelang mir, mich zu erkennen zu geben, und so fuehrte man mich sofort vor Eure kaiserliche Hoheit. -- Gut, Michael Strogoff, antwortete der Grossfuerst. Du hast bei Deiner Schwierigen Reise Muth und Eifer gezeigt. Ich werde Dich nicht vergessen. Hast Du mir einen Wunsch vorzutragen? -- Nein, ausser dem, mich an der Seite Eurer kaiserlichen Hoheit schlagen zu duerfen. -- Es sei, Michael Strogoff, ich nehme Dich von heute ab in meinen persoenlichen Dienst und Du wirst auch in diesem Palaste Wohnung erhalten. -- Und wenn nun Iwan Ogareff sich, wie er die Absicht haben soll, Eurer kaiserlichen Hoheit unter einem falschen Namen vorstellt? ... -- So wird er mit Deiner Hilfe, da Du ihn ja kennst, entlarvt werden, und soll den Tod unter der Knute erleiden. Geh!" Iwan Ogareff salutirte vor dem Grossfuersten militaerisch, indem er nicht vergass, dass er Kapitaen bei dem Corps der Couriere des Czaar sei, und zog sich zurueck. Iwan Ogareff begann seine Rolle also mit unleugbarem Erfolge zu spielen. Das Vertrauen des Grossfuersten hatte er schnell und im vollsten Masse errungen. Er konnte dasselbe missbrauchen, wo und wann es ihm beliebte. Er sollte ja gar in dem Palaste selbst wohnen, wuerde in alle Geheimnisse der Vertheidigung eingeweiht sein. Er hatte demnach die Situation vollstaendig in der Hand. Niemand in Irkutsk kannte ihn, Niemand konnte ihm seine Maske abreissen. Er beschloss also ohne Zoegern an's Werk zu gehen. Die Zeit draengte in der That. Jedenfalls musste die Auslieferung der Stadt vor Eintreffen der aus dem Norden und Osten erwarteten Russen erfolgen; letzteres konnte sich aber nur um wenige Tage handeln. Waren die Tartaren erst Herren von Irkutsk, so waeren sie gewiss nur schwer wieder daraus zu vertreiben gewesen. Und wenn sie auch gezwungen wuerden, es spaeter wieder aufzugeben, so wuerde das doch nicht geschehen, als bis sie es von Grund aus zerstoert und den Kopf des Grossfuersten zu Feofar-Khan's Fuessen gelegt haetten. Da Iwan Ogareff jetzt nichts hinderte, zu sehen, zu beobachten und zu handeln, so beschaeftigte er sich schon vom andern Tage an damit, die Waelle zu besichtigen. Ueberall ward er von den Glueckwuenschen der Officiere, Soldaten und Buerger begruesst. Dieser Courier des Czaaren erschien ihnen wie ein Band, welches sie auf's Neue mit dem Kaiserreiche verknuepfte. Iwan Ogareff erzaehlte bei dieser Gelegenheit mit einer Sicherheit, welche ihn niemals im Stiche liess, von den Drangsalen seiner Reise. Dann sprach er, ohne das zu Anfange zu sehr zu betonen, von dem Ernste der Lage, wobei er, ebenso wie vor dem Grossfuersten, die Erfolge der Tartaren und die Kraefte, ueber welche sie verfuegten, absichtlich uebertrieb. Seiner Darstellung nach waren die bevorstehenden Zuzuege, selbst wenn sie rechtzeitig eintrafen, gewiss unzureichend, und es stand zu befuerchten, dass eine Schlacht unter den Mauern von Irkutsk ebenso verderblich ausfallen wuerde, wie die Treffen bei Kolyvan, Tomsk und Krasnojarsk. Mit solchen Hiobsposten ging Iwan Ogareff aber keineswegs verschwenderisch um. Er liess diese mit kluger Berechnung nur nach und nach hoeren. Er schien nur zu antworten, wenn man ihn fragte, und dann scheinbar nur mit Widerwillen. Allemal aber fuegte er hinzu, dass man sich bis auf den letzten Mann vertheidigen und die Stadt eher in die Luft sprengen muesse, bevor man sie uebergebe. Auf jede Weise suchte er die ueble Lage schlimmer darzustellen. Die Garnison und die Bevoelkerung von Irkutsk waren gluecklicher Weise aber viel zu patriotisch, um sich einschuechtern zu lassen. Von allen diesen Soldaten und Buergern einer am Ende der asiatischen Welt isolirten Stadt dachte auch kein Einziger nur entfernt an eine Uebergabe. Die Verachtung der Russen gegen jene Barbaren kannte eben keine Grenzen. Dagegen argwoehnte auch Keiner die haessliche Rolle, welche Iwan Ogareff spielte, Keiner konnte vermuthen, dass dieser scheinbare Courier des Czaar ein erbaermlicher Verraether war. Ganz erklaerlicher Weise trat Iwan Ogareff seit seiner Ankunft in Irkutsk bald in naehere Beziehungen zu einem der begeistertsten Vertheidiger der Stadt, zu Wassili Fedor. Es ist dem Leser bekannt, von welch' verzehrender Unruhe der unglueckliche Vater gequaelt ward. Wenn seine Tochter, wie er der Datumsangabe ihres letzten Briefes nach annehmen musste, Russland wirklich zu jener Zeit verlassen hatte, was mochte dann jetzt aus ihr geworden sein? Wuerde sie dennoch versuchen, die von den Feinden ueberschwemmten Provinzen zu bereisen, oder schmachtete sie vielleicht schon lange in Gefangenschaft? Wassili Fedor fand kein anderes Betaeubungsmittel fuer seinen Schmerz, als sich gegen die Tartaren zu schlagen, eine Gelegenheit, die sich leider viel zu selten darbot. Als Fedor da die so unerwartete Ankunft eines Couriers des Czaar vernahm, sagte ihm ein Vorgefuehl, dass er von diesem werde Nachrichten ueber seine Tochter einziehen koennen. Wenn er sich auch nicht verhehlte, dass diese Hoffnung auf sehr schwachen Fuessen stehe, so klammerte er sich doch gern an sie an. War dieser Courier nicht auch gefangen gewesen, wie es Nadia vielleicht heute noch war? Wassili Fedor suchte also Iwan Ogareff auf, der begierig diese Gelegenheit ergriff, mit dem Commandanten in taegliche Beruehrung zu kommen. Dachte der Renegat wohl daran, auch diese Gelegenheit auszunuetzen? Wie dem auch sei, jedenfalls entsprach Iwan Ogareff mit geschickt verstelltem Eifer dem Entgegenkommen des Vaters Nadia's. Schon am Morgen nach der Ankunft des vermeintlichen Couriers begab jener sich nach dem Palaste des Grossfuersten. Dort theilte er Iwan Ogareff die Umstaende mit, unter welchen seine Tochter hoechst wahrscheinlich das europaeische Russland verlassen hatte, und sagte ihm, welche Unruhe er jetzt um ihretwillen empfinde. Iwan Ogareff kannte Nadia nicht, trotzdem er sie ja auf dem Relais zu Ichim an jenem Tage gesehen hatte, wo sie sich mit Michael Strogoff daselbst befand. Damals hatte er aber weder auf sie noch auf die beiden Journalisten geachtet, die sich gleichzeitig auf jenem Posthofe aufhielten. Er war also ausser Stande, Wassili Fedor die gewuenschten Nachrichten ueber seine Tochter mitzutheilen. "Wann hat Ihre Tochter, fragte Iwan Ogareff, das russische Gebiet etwa verlassen? -- Ungefaehr zu derselben Zeit, wie Sie, antwortete Wassili Fedor. -- Ich verliess Moskau am 15. Juli. -- Nadia wahrscheinlich ganz zu derselben Zeit, wenigstens gab mir ihr letzter Brief diesen Termin an. -- Sie war am 15. Juli in Moskau? -- Ja gewiss, an eben diesem Tage. -- Richtig ..." sagte zoegernd Iwan Ogareff. Dann aber schien er seine Meinung zu aendern. "Nein, nein, ich taeusche mich doch ... ich verwechsele jetzt das Datum, fuegte er hinzu, leider ist es zu wahrscheinlich, dass ihre Tochter die Grenze noch ueberschritten hat, und Sie koennen nun hoechstens die einzige Hoffnung hegen, dass sie sich hat zurueckhalten lassen, wenn sie von dem Einfall der Tartaren Nachricht erhielt. Wassili Fedor neigte betruebt den Kopf. Er kannte Nadia zu gut und wusste, dass nichts im Stande sein wuerde, sie von ihrem Vorsatz abzubringen. Iwan Ogareff beging hier eine unnoethige Grausamkeit. Er haette Wassili Fedor mit einem Worte beruhigen koennen. Hatte Nadia auch, wie wir wissen, die sibirische Grenze unter ganz besondern Umstaenden passirt, so haette Wassili Fedor doch, wenn Jener ihm die Uebereinstimmung jenes Datums und des ergangenen Verbotes erwaehnte, glauben muessen, dass sie nicht den Gefahren der Invasion ausgesetzt gewesen sei und sich, wenn auch gezwungen, doch noch auf europaeischem Gebiete befinden werde. Iwan Ogareff, ein Mann, der von Anderer Leiden niemals beruehrt wurde, folgte dabei nur seiner Natur, er haette jenes Wort sprechen koennen ... er sprach es nicht. Wassili Fedor zog sich mit gebrochenem Herzen zurueck. Nach dieser Erkundigung schwand ihm die letzte Hoffnung. An den beiden folgenden Tagen, dem 3. und 4. October, liess der Grossfuerst den vermeintlichen Michael Strogoff wiederholt zu sich bescheiden und befahl ihm, alles zu wiederholen, was er im kaiserlichen Cabinet des Neuen Palais gehoert hatte. Iwan Ogareff antwortete, da er sich auf solche Fragen vorbereitet hatte, stets ohne Zoegern. Er verheimlichte dabei absichtlich nicht, dass die Regierung des Czaar durch den Einfall vollstaendig ueberrascht und der Aufstand in tiefster Verschwiegenheit vorbereitet worden sei, da die Tartaren schon die Linie des Obi besetzt hatten, als die ersten Nachrichten davon nach Moskau gelangten, und endlich, dass in den russischen Provinzen Nichts bereit sei, eine zur Vertreibung der Feinde hinreichende Truppenmacht schnell nach Sibirien zu werfen. Da er uebrigens vollkommen sein freier Herr war, begann Iwan Ogareff nun Irkutsk recht eigentlich zu studiren, den Zustand der Befestigungen und vorzueglich deren schwaechste Punkte auszuspaehen, um davon Nutzen ziehen zu koennen, wenn irgend ein Umstand ihn an der Ausfuehrung der geplanten Verraetherei hindern sollte. Ganz besonders nahm das Thor von Bolchaia seine Aufmerksamkeit in Anspruch, da er dieses zu ueberliefern beabsichtigte. An diesem Abend kam er zwei Mal an das Thor. Er ging hier auf und ab ohne die Kugeln der Belagerer zu fuerchten, deren erste Posten noch keine Werst weit von demselben entfernt waren; er wusste recht gut, dass ihm nichts widerfahren koenne, ja, dass man ihn sogar erkenne. Da bemerkte er einen Schatten, der geraeuschlos bis an den Fuss der Erdwerke heranschlich. Sangarre war es, die ihr Leben auf's Spiel setzte, um von Iwan Ogareff Nachricht zu erlangen. Uebrigens erfreuten sich die Belagerten seit zwei Tagen einer Ruhe, an welche die Tartaren sie bisher nicht gewoehnt hatten. Es geschah das auf Anordnung Iwan Ogareff's. Der Lieutenant Feofar-Khan's wollte alle Versuche, die Stadt mit Gewalt zu erobern, aufgeschoben wissen. Deshalb schwieg die Artillerie seit seiner Ankunft in Irkutsk vollkommen. Vielleicht, - wenigstens setzte er noch einige Hoffnung hierauf, - liess die Wachsamkeit der Belagerten doch etwas nach. Fuer jeden Fall hielten sich bei den Vorposten einige tausend Tartaren bereit, seiner Zeit gegen das von seinen Vertheidigern entbloesste Thor vorzugehen, wenn von Iwan Ogareff die Stunde fuer den Angriff bestimmt worden waere. Das konnte ja nicht lange dauern. Die Entscheidung musste fallen, bevor die russischen Hilfstruppen vor Irkutsk anlangten. Iwan Ogareff's Beschluss war gefasst und an diesem Abend glitt ein Billet den Wall hinab in die Hand Sangarre's. Am andern Tage, in der Nacht vom 5. zum 6. October, wollte Iwan Ogareff Irkutsk den Todfeinden seines Vaterlandes ueberliefern. Vierzehntes Capitel. Die Nacht vom 5. zum 6. October. Iwan Ogareff's Plan war mit groesster Sorgfalt vorbereitet und musste, im Falle nicht ganz unvorhergesehene Ereignisse dazwischen traten, gewiss gelingen, wenn er nur dafuer sorgen konnte, das Thor von Bolchaia zur Zeit, wo er es ausliefern wollte, von Vertheidigern entbloesst zu halten. Gleichzeitig sollte die Aufmerksamkeit der Belagerten nach einer andern Seite der Stadt abgelenkt werden. So hatte er mit dem Emir verabredet. Ein Scheinangriff flussauf- und flussabwaerts auf dem rechten Ufer der Angara sollte an beiden Stellen mit moeglichster Kraftaufwendung ausgefuehrt und auch eine Ueberschreitung des Stromes nach dem linken Ufer versucht werden. Dabei durfte man voraussetzen, dass das Thor von Bolchaia ziemlich verlassen werden wuerde, zumal da die tartarischen Vorposten vor demselben weiter zurueckgezogen werden sollten, um den Glauben zu erregen, sie waeren an anderen Stellen verwendet worden. Der 5. October war herangekommen. Vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden sollte die Hauptstadt von Sibirien in den Haenden des Emirs, der Grossfuerst in der Gewalt Iwan Ogareff's sein. Im Laufe dieses Tages entstand in dem Thale der Angara eine ganz ungewoehnliche Bewegung. Von den Fenstern des Palastes und der Haeuser am Ufer erkannte man deutlich, dass daselbst sehr umfassende Vorbereitungen betrieben wurden. Viele tartarische Abtheilungen marschirten nach einem Punkte zusammen und verstaerkten die Truppenmacht, welche der Emir persoenlich befehligte. Alles das gehoerte zu der verabredeten Diversion und wurde moeglichst auffaellig in's Werk gesetzt. Iwan Ogareff verhehlte auch dem Grossfuersten nicht, dass von jener Seite ein Angriff zu befuerchten sei. Er glaube annehmen zu muessen, sagte er, dass von beiden Seiten der Stadt ein Sturmangriff geplant werde, und rieth dem Grossfuersten, die bedrohten Punkte moeglichst zu verstaerken. Alles, was man sehen konnte, bestaetigte Iwan Ogareff's Ansicht, der man sich bald Rechnung zu tragen entschloss. Nach einem im Palais abgehaltenen Kriegsrathe erging der Befehl, die verfuegbare Hauptmacht an beiden Enden der Stadt, wo sich deren Waelle auf den Strom stuetzten, zu concentriren. Das war es, was Iwan Ogareff vor Allem wuenschte. Er rechnete zwar bestimmt nicht darauf, dass das Thor von Bolchaia ganz von Mannschaften entbloesst wuerde, aber diese konnten doch nur in geringer Staerke daselbst verbleiben. Iwan Ogareff suchte der Diversion der Tartaren eine solche Bedeutung zu geben, dass der Grossfuerst sich genoethigt sehen sollte, alle disponiblen Kraefte gegen dieselbe aufzubieten. Die Verhaeltnisse wurden uebrigens durch ein Ereigniss von ungewoehnlicher Bedeutung, wiederum einer Erfindung Iwan Ogareff's, ungemein erschwert, ein Ereigniss, welches jedoch sehr wesentlich zur Erreichung seiner Absichten beitragen musste. Wenn auch kein Angriff auf Irkutsk an den von dem Thore von Bolchaia entferntestem Punkte unternommen wurde, so haette jener Zwischenfall hingereicht, alle Kraefte der Vertheidiger dahin zu concentriren, wo es Iwan Ogareff wuenschte. Gleichzeitig musste es eine entsetzliche Katastrophe ueber die arme Stadt herbeifuehren. Es waren also alle Aussichten vorhanden, jenes Thor zur bestimmten Stunde fast unbedeckt zu finden, waehrend mehrere tausend Tartaren in Verstecken bereit lagen, gegen dasselbe anzustuermen. Waehrend dieser Tage hielten sich die Garnison und die Bevoelkerung von Irkutsk immerfort auf jedes Ereigniss gefasst. Alle Massnahmen zur Vertheidigung bei dem erwarteten Angriff auf bisher weniger beunruhigte Punkte wurden eiligst getroffen. Der Grossfuerst und der General Voranzoff visitirten die auf ergangenen Befehl verstaerkten Posten. Das Elitecorps Wassili Fedor's hielt den noerdlichen Theil der Stadt besetzt, aber mit der Weisung, immer dahin beizuspringen, wo die Gefahr am groessten waere. Mit diesen rechtzeitigen und auf Befehl Iwan Ogareff's getroffenen Massregeln wuchs die Hoffnung, den beabsichtigten Angriff abzuschlagen. Das Ufer der Angara war mit der geringen Menge Artillerie besetzt worden, ueber die man eben verfuegte. Wenn die Tartaren aber abgewiesen wurden, so konnte man erwarten, dass sie fuer den Augenblick entmuthigt, einen erneuten Angriff doch mindestens einige Tage verschieben wuerden. Die von dem Grossfuersten erwarteten Truppen mussten aber doch nun jede Stunde eintreffen. Das Heil oder das Verderben von Irkutsk hing also nur an einem Faedchen. An diesem Tage ging die Sonne um sechs Uhr zwanzig Minuten auf und um fuenf Uhr vierzig Minuten unter, nach Beschreibung eines Tagesbogens von elf Stunden. Zwei Stunden noch kaempfte die Daemmerung gegen das Dunkel der Nacht. Dann huellte sich Alles in Finsterniss, und auch auf das Erscheinen des Mondes, der sich gerade in Conjunction befand, war ja nicht zu rechnen. Die tiefe Dunkelheit musste offenbar Iwan Ogareff's Plaene beguenstigen. Schon seit mehreren Tagen leitete eine ziemlich heftige Kaelte auf die bevorstehende Strenge des sibirischen Winters ueber und an eben diesem Abend war sie doppelt fuehlbar. Die auf der rechten Seite der Angara aufgestellten Truppen, welche ihre Anwesenheit nicht verrathen sollten, hatten deshalb kein Wachtfeuer angezuendet. Sie litten von der auffaelligen Erniedrigung der Temperatur ganz entsetzlich. Wenige Schritte unter ihnen schwammen die Eisschollen hin, welche der Strom mit herantrieb. Den ganzen Tag ueber sah man sie in gedraengten Massen in breitem Zuge zwischen beiden Ufern. Dieser von dem Grossfuersten und seinen Officieren beobachtete Umstand ward fuer besonders gluecklich angesehen. Es lag auf der Hand, dass an eine Ueberschreitung der Angara gar nicht zu denken sei, so lange dieses Gewirr von Eisstuecken das Bett derselben bedeckte. Die Tartaren konnten weder Boote noch Floesse benutzen. Dabei brauchte man nicht zu befuerchten, dass sie einen Uebergang auf dem etwa frisch aneinander gefrorenen Eise versuchen wuerden, da dieses fuer die Passage einer starken Colonne offenbar zu wenig haltbar war. Wenn diese Verhaeltnisse auch den Vertheidigern von Irkutsk ganz vortheilhaft erschienen, so haette Iwan Ogareff sie doch bedauern muessen. Doch im Gegentheil! Der Verraether wusste ja recht gut, dass die Tartaren gar nicht ernstlich daran dachten, die Angara zu passiren, und dass alle ihre hierauf abzielenden Bewegungen nur eine Kriegslist seien. Gegen zehn Uhr Abends veraenderte sich die Oberflaeche des Flusses zum groessten Erstaunen und auch zum Nachtheile der Belagerten ganz wunderbar. Der bisher unpraktikable Uebergang wurde frei. Das ganze Bett des Stromes reinigte sich. Die Eisschollen, die seit einigen Tagen schon in grosser Menge dahinjagten, verschwanden ploetzlich stromabwaerts, und nur fuenf bis sechs schwankten noch vereinzelt zwischen den beiden Ufern. Sogar ihre Structur veraenderte sich gegenueber denjenigen, welche man zu sehen gewohnt war, ganz auffallend. Sie erschienen nur als einzelne von einem groesseren Eisfelde mit glatten Raendern abgeloeste Splitter. Die russischen Officiere meldeten, als sie die Veraenderungen am Flusse wahrnahmen, dieselben dem Grossfuersten. Sie erklaerten sich uebrigens dadurch, dass das Eis sich an einer engern Stelle der Angara gestaut hatte und einen festen Schutz bildete. Man weiss, dass dem so war. Die Passage der Angara musste also jetzt leichter zu forciren sein, was die Russen nun zu noch groesserer Vorsicht nach dieser Seite noethigte. Bis Mitternacht blieb Alles ruhig. Gerade an der Ostseite, vor dem Thore von Bolchaia, konnte man nicht die geringste Bewegung wahrnehmen. Kein Feuerschein gluehte in dem Walde, der in der Entfernung mit den niedrigen Wolken des Horizontes verschmolz. Im Thale der Angara verrieth dagegen ein vielfacher Wechsel der Feuer eine allgemeine Bewegung des Heeres. Etwa eine Werst stromauf- und stromabwaerts von den Stellen, wo die Erdwerke sich den Abhaengen des Flussufers anschlossen, liess sich ein dumpfes Geraeusch vernehmen, ein Beweis dafuer, dass daselbst tartarische Truppenmassen aufgestellt waren, welche irgend eines Befehles harrten. Noch eine Stunde verging. Alles blieb wie vorher. Es schlug zwei Uhr auf dem Glockenthurme der Kathedrale in Irkutsk, und auch nicht eine ernsthafte Bewegung der Belagerer deutete auf weitere feindliche Absichten. Der Grossfuerst und seine Officiere fragten sich, ob sie nicht in einer Taeuschung befangen waeren, zu glauben, dass die Tartaren einen Versuch zur Ueberrumpelung der Stadt wagen wollten. Fast in keiner der vorhergehenden Naechte ging es so ruhig zu. Immer blitzten sonst in der Vorpostenkette einzelne Flintenschuesse auf und brausten einige groebere Geschosse durch die Luft, - heute blieb Alles still. Dennoch verweilten der Grossfuerst, der General Voranzoff und deren Adjutanten Jeder auf seinem Posten, bereit je nach den Umstaenden die noethigen Befehle zu geben und zu ertheilen. Wir wissen, dass Iwan Ogareff ein Zimmer des Palastes bewohnte. Eigentlich war dasselbe ein geraeumiger Saal im Erdgeschoss, dessen Fenster nach einer Seitenterrasse zu lagen. Mit nur wenigen Schritten ueber diese Terrasse gewann man einen Standpunkt, von welchem aus die Angara weithin zu uebersehen war. In jenem Saale herrschte eben tiefe Finsterniss. Der Entscheidungsstunde ungeduldig entgegensehend, stand Iwan Ogareff darin an einem Fenster. Offenbar sollte das Signal zum Losbrechen von ihm ausgehen. Hatte er dasselbe einmal gegeben und die meisten Vertheidiger von Irkutsk nach den offen angegriffenen Stellen gelockt, so wollte er das Palais verlassen, um sein Bubenstueck zu vollenden. Er wartete also im Dunklen, lauernd wie ein Raubthier, das sich auf seine Beute stuerzen will. Einige Minuten vor zwei Uhr verlangte der Grossfuerst, dass Michael Strogoff, - denn nur dieser Name war ihm ja bekannt, - vor ihn gefuehrt werde. Ein Adjutant begab sich nach dessen Wohnung, fand aber die Thuer geschlossen. Er rief ... Iwan Ogareff stand unbeweglich und im Dunklen nicht sichtbar am Fenster, huetete sich aber zu antworten. Man meldete dem Grossfuersten, dass der Courier des Czaar augenblicklich im Palais nicht anwesend sei. Da schlug es zwei Uhr. Das war der Zeitpunkt fuer die mit den Tartaren verabredete Diversion, zu welcher Letztere schon fertig aufmarschirt waren. Iwan Ogareff oeffnete das Fenster seines Zimmers und begab sich nach dem noerdlichen Ende der Seitenterrasse. Im Dunklen unter ihm rauschten die Fluthen der Angara, die sich hoerbar an den Pfeilern der frueheren Bruecke brachen. Iwan Ogareff zog ein Feuerzeug aus der Tasche, entzuendete dadurch ein Stueckchen mit Pulver impraegnirten Schwamm und warf diesen in den Fluss ... Auf Iwan Ogareff's Befehl waren jene Stroeme Mineraloels auf die Oberflaeche der Angara geleitet worden. Auf dem rechten Ufer des Flusses befanden sich oberhalb Irkutsk, zwischen dem Dorfe Poschkafsk und der Stadt, ergiebige Naphthaquellen. Iwan Ogareff verdankte man den teuflischen Gedanken, mittels derselben Irkutsk in Brand zu stecken. Er brachte also die ungeheuren Reservoirs, welche den vorraethigen Brennstoff enthielten, in seine Gewalt. Die Durchbrechung eines Stuecks der Umfassungsmauer reichte hin, um jenen in starkem Strome ausfliessen zu lassen. Das war eben in dieser Nacht einige Stunden vorher geschehen, und war die Ursache, weshalb das Floss mit dem wirklichen Couriere des Czaar, mit Nadia und den uebrigen Fluechtlingen in einem Strome von Mineraloel schwamm. Durch die Oeffnungen jener, Millionen von Kubikmetern enthaltenden Reservoirs hatte sich die fluessige Naphtha wie ein Sturzbach ergossen und sich, der natuerlichen Bodenneigung folgend, auf dem Wasser der Angara verbreitet, auf dem sie ja in Folge ihres geringeren specifischen Gewichtes obenauf schwimmen musste. So fuehrte Iwan Ogareff Krieg! Mit den Tartaren im Bunde handelte er wie ein Tartar auch gegen seine eigenen Landsleute. - Der brennende Schwamm fiel in die Wellen der Angara. In einem Augenblick, so als ob der Strom aus Alkohol bestaende, flammte die ganze Flaeche desselben fast mit elektrischer Geschwindigkeit auf. Zwischen den beiden Ufern waelzten sich blaeuliche Feuerwogen. Darueber wirbelten dicke Rauchwolken empor. Die wenigen noch in der Stroemung vorhandenen Eisschollen wurden von der Gluth ergriffen, schmolzen wie Wachs am Ofen und mit Zischen und Pfeifen schoss das verdampfende Wasser in die Hoehe. Gleichzeitig knatterte am suedlichen und noerdlichen Ende der Stadt das Kleingewehrfeuer. Die Batterien im Thale der Angara oeffneten ihren groben Mund. Mehrere Tausend Tartaren stuerzten sich stuermend auf die Erdwerke. Die hoelzernen Gebaeude am Flusse und dem Abhange daneben fingen an allen Enden Feuer. Eine entsetzliche Helligkeit besiegte das Dunkel der Nacht. "Endlich!" sagte Iwan Ogareff fuer sich. Er konnte sich mit vollem Rechte Glueck wuenschen. Sein Angriffsplan ging fuerchterlich in Erfuellung. Die Vertheidiger von Irkutsk standen ploetzlich zwischen dem Sturmangriff der Tartaren und den Schrecken des Brandes. Die Glocken heulten und Alles, was in der Bevoelkerung noch kraeftige Glieder hatte, eilte herbei nach den bedrohten Punkten und den von dem Feuer zerstoerten Haeusern, um wenigstens die uebrige Stadt zu retten. Das Thor von Bolchaia entbehrte nun fast jeder Bedeckung. Nur wenige Mann sah man an demselben. Diese waren noch dazu unter dem Einflusse des Verraethers aus dem kleinen Corps der Verbannten erwaehlt, um die letzten Ursachen der kommenden Ereignisse von sich abwaelzen und eher durch den politischen Hass jener Mannschaften erklaeren zu koennen. Iwan Ogareff ging nach seinem jetzt von der brennenden Angara hell erleuchteten Zimmer zurueck. Dann machte er sich bereit, auszugehen. Doch kaum oeffnete er die Thuer, als sich ein Weib mit durchnaesster Kleidung und wild herab haengendem Haar in das Zimmer stuerzte. "Sangarre!" rief Iwan Ogareff im ersten Schrecken, da er kein anderes weibliches Wesen, als die Zigeunerin, vermuthen konnte. Aber nicht Sangarre war es, sondern Nadia. In dem Augenblicke, als das junge Maedchen auf der Eisscholle, dem letzten Zufluchtsorte, bei dem Aufleuchten des Feuers einen Schreckensruf ausstiess, hatte Michael Strogoff sie mit den Armen umschlungen und sich mit ihr in das Wasser gestuerzt, um unter demselben einen Schutz gegen die Flammen zu finden. Wie erwaehnt befand sich die Scholle, welche sie trug, nur etwa noch dreissig Klaftern oberhalb des ersten Quais von Irkutsk. Nachdem er unter dem Wasser hingeschwommen, gelang es Michael Strogoff, daselbst mit Nadia an das Land zu kommen. Endlich winkte Michael Strogoff sein heissersehntes Ziel. Er war in Irkutsk! "Zum Palaste des Gouverneurs!" rief er Nadia zu. Kaum zehn Minuten spaeter erreichten Beide den Eingang des Palais, um dessen Grundmauern das Feuer gierig, aber unschaedlich emporzuengelte. Weiterhin standen die Haeuser am Ufer alle in Flammen. Michael Strogoff und Nadia traten ohne Hindernisse in das jetzt ueberall offene Gebaeude. Mitten in der allgemeinen Verwirrung bemerkte sie, trotz ihrer triefenden Kleidung, Niemand. In dem grossen Parterresaale draengte sich eine Anzahl Officiere, um sich Befehle einzuholen, neben Soldaten, um letztere auszufuehren. Hier wurden Michael Strogoff und Nadia durch das Stossen und Draengen der erregten Menge von einander getrennt. Rathlos durchirrte Nadia die Saele des Erdgeschosses mit lautem Rufen nach ihrem Begleiter und verlangte, vor den Grossfuersten gefuehrt zu werden. Da oeffnete sich vor ihr die Thuer zu einem vom Feuerscheine hell erleuchteten Zimmer. Sie trat ein und stand unerwartet vor dem Manne, den sie in Ichim, wie in Tomsk gesehen hatte, gegenueber Demjenigen, dessen ruchlose Hand in der naechsten Stunde die Stadt ausliefern sollte. "Iwan Ogareff!" rief sie entsetzt. Der Elende zitterte, als er seinen Namen hoerte. Sein ganzer Plan musste ja scheitern, wenn dieser Name laut wurde. Ihm blieb nur Eines uebrig: das lebende Wesen, wer das auch sei, umzubringen, weil es seinen wahren Namen kannte. Iwan Ogareff drang auf Nadia ein; aber in der Hand des jungen Maedchens, das sich durch eine Mauer im Ruecken zu decken suchte, blitzte schon ein Messer, um sich zu vertheidigen. "Iwan Ogareff! rief sie nochmals lauter und im Bewusstsein, dass dieser verabscheute Name ihr Hilfe herbeirufen werde. -- Ah, Du wirst schweigen lernen! versetzte der Verraether. -- Iwan Ogareff!" rief das unerschrockene Maedchen zum dritten Male mit einer Stimme, deren Staerke ihr toedtlicher Hass nur verdoppelte. In wahnsinniger Wuth riss Iwan Ogareff einen Dolch aus seinem Guertel, sprang auf Nadia zu und draengte sie nach einer Ecke des Raumes. Jetzt waere es um sie geschehen gewesen, als eine unwiderstehliche Hand den Schurken von ihr wegriss und zur Erde schleuderte. "Michael!" rief Nadia. Es war Michael Strogoff. Die Ausrufe Nadia's hatten ihm den Weg gewiesen; durch sie war er zu dem Zimmer Iwan Ogareff's gelangt und durch die halb offen gebliebene Thuer eingetreten. "Sei ohne Furcht, Nadia, sagte er, sich zwischen diese und Iwan Ogareff stellend. -- Nimm Dich in Acht, nimm Dich in Acht, Bruder!... Der Verraether ist bewaffnet ... Er kann auch sehen, und Du ..." Iwan Ogareff war wieder aufgestanden, und da er mit dem Blinden leichtes Spiel zu haben waehnte, rannte er auf Michael Strogoff zu. Dieser packte ihn aber mit der einen Hand am Arme, lenkte mit der andern seine Waffe ab und warf ihn wieder zu Boden. Todtenbleich vor Wuth und Scham erinnerte sich Iwan Ogareff, dass er ja einen Degen habe. Er riss diesen aus der Scheide und stellte sich wieder zum Angriff bereit. Auch hatte er Michael Strogoff erkannt. Einen Blinden! Er hatte es ja nur mit einem Blinden zu thun. Die Partie stand offenbar gut fuer ihn. Erschreckt durch die Gefahr, welche ihrem Freunde in einem so ungleichen Kampfe drohte, eilte Nadia zur Thuer, um nach Hilfe zu rufen. "Schliesse die Thuer, Nadia! sagte Michael Strogoff. Rufe Niemand, lass die Rache mir allein! Jetzt braucht der Courier des Czaar diesen Schurken nicht mehr zu fuerchten. Er mag heran kommen, wenn er es wagt. Ich erwarte ihn!" Iwan Ogareff kauerte sich, ohne ein Wort zu sagen, wie ein Tiger zusammen. Er suchte das Geraeusch seines Trittes, selbst das Hauchen seines Athems dem Ohre des Blinden zu verbergen. Er wollte ihn toedtlich treffen, bevor er seine Annaeherung gewahr wuerde. Der Schuft dachte nicht daran, sich ehrlich zu schlagen, er wollte den, dessen Namen er gestohlen hatte, einfach ermorden. Voll Entsetzen und doch voll Vertrauen betrachtete Nadia diese fuerchterliche Scene mit einer Art Bewunderung. Michael Strogoff's unerschuetterliche Ruhe schien auch ueber sie gekommen zu sein. Als Waffe besass Michael Strogoff nur sein sibirisches Jaegermesser, und seinen mit dem Degen bewehrten Gegner sah er ja nicht einmal. Aber durch welche Gnade des Himmels vertraute er so sicher seiner Ueberlegenheit ueber Jenen? Wie konnte er, ohne dass ein Wort fiel, immer bereit sein, der Degenspitze des Feindes zu begegnen? Iwan Ogareff starrte mit sichtlicher Angst auf seinen Gegner. Diese uebermenschliche Ruhe erdrueckte ihn. Doch wenn er dann seinen Verstand zu Rathe zog, sagte er sich wieder, dass ja der Vortheil ganz auf seiner Seite sei. Diese Unbeweglichkeit des Blinden aber machte ihn erstarren. Er suchte sich die Stelle aus, wo er sein Opfer treffen wollte ... Er glaubte sie gefunden zu haben ... Was hielt denn seinen Arm zurueck? Endlich sprang er auf und fuehrte einen heftigen Stoss gegen Michael Strogoff's Brust. Eine geschickte und unerklaerliche Bewegung des Messers Michael Strogoff's lenkte den Stahl ab. Der Blinde war nicht getroffen, und kaltbluetig schien er, ohne von der Stelle zu weichen, einen zweiten Angriff zu erwarten. Aus Iwan Ogareff's Stirn perlte ein eiskalter Schweiss. Er trat erst einen Schritt zurueck und drang dann auf's Neue vor. Aber der Todesstreich misslang ihm ebenso wie das erste Mal. Eine einfache Parade des breiten Messers draengte den nutzlosen Degen zur Seite. Rasend vor Wuth und Schrecken gegenueber dieser lebenden Bildsaeule heftete der Verraether seinen Blick auf die weit geoeffneten Augen des Geblendeten. Diese Augen, welche in dem tiefsten Abgrund seiner Seele zu lesen schienen und doch unmoeglich sehen konnten, wirkten auf ihn mit einer Art entsetzlicher Zauberkraft. Ploetzlich stiess Iwan Ogareff einen Schrei aus. In seinem Innern ward es unerwartet klar. "Er sieht, rief er, er kann sehen!..." Und wie ein Raubthier scheu seine Hoehle zu gewinnen sucht, wich er in den Hintergrund des Saales zurueck. Da belebte sich die Statue, der Blinde ging sicheren Schrittes auf Iwan Ogareff zu und sagte: "Ja wohl, er kann sehen! Ich sehe noch den Knutenhieb, mit dem ich Dich elenden Verraether gebrandmarkt habe. Ich sehe auch die Stelle, an der mein Messer Dich treffen soll. Auf, wehre Dich Deines Lebens. Ich erweise Dir noch die unverdiente Ehre eines Zweikampfes! Mein Messer genuegt mir gegen Deinen Degen! -- Er sieht! rief freudig erschreckt Nadia. Guetiger, gerechter Gott, ist das moeglich?" Iwan Ogareff fuehlte sich verloren. Noch einmal aber raffte er den letzten Muth zusammen und stuerzte sich mit dem Degen auf seinen unerschuetterlichen Gegner. Die beiden Klingen kreuzten sich, aber ein Messerhieb Michael Strogoff's, gefuehrt von der geuebten Hand des sibirischen Jaegers, sprengte die Klinge in Stuecke und durch das Herz getroffen sank der Elende leblos zu Boden. In diesem Augenblick wurde die Zimmerthuer von aussen aufgestossen. Begleitet von einigen Officieren erschien der Grossfuerst auf der Schwelle. Letzterer trat vor. Auf dem Fussboden erkannte er die Leiche Desjenigen, den er fuer den Courier des Czaar gehalten hatte. Mit drohender Stimme fragte er. "Wer hat diesen Mann getoedtet? -- Ich that es", antwortete Michael Strogoff. Einer der Officiere setzte einen Revolver an dessen Schlaefe. "Dein Name? fragte der Grossfuerst. -- Kaiserliche Hoheit, erwiderte Michael Strogoff, fragen Sie mich lieber zuerst nach dem Namen dessen, der vor Ihren Fuessen liegt. -- Diesen Mann erkenne ich. Es ist ein Diener meines Bruders, ein Courier des Czaar. -- Dieser Mann, Hoheit, ist kein Courier des Czaar! Das ist Iwan Ogareff! -- Iwan Ogareff? rief der Grossfuerst. -- Ja, Iwan, der Verraether seines Vaterlandes. -- Aber Du, wer bist Du denn? -- Ich bin Michael Strogoff." Fuenfzehntes Capitel. Schluss. Michael Strogoff war in der That jetzt weder blind, noch war er es jemals gewesen. Eine rein menschliche, gleichzeitig moralische und physikalische Ursache hatte die Wirkung der gluehenden Saebelklinge vereitelt, die der Scharfrichter Iwan Ogareff's damals vor seinen Augen vorbeifuehrte. Der Leser erinnert sich, dass bei Vollziehung des grausamen Urtheils die alte Marfa verzweifelt und mit erhobenen Armen unweit ihres Sohnes stand. Michael Strogoff sah sie an, wie ein Sohn eben seine Mutter ansehen wird, wenn er weiss, dass es zum letzten Male sein soll. Aus seinem Herzen quollen ihm die Thraenen in die Augen, die sein Stolz vergeblich zurueck zu draengen suchte. Diese sammelten sich unter den Augenlidern, und ihre Verdampfung auf der Hornhaut rettete ihm die Sehkraft. Da sich die aus den Thraenen gebildete Dampfschicht zwischen der gluehenden Klinge und den Augaepfeln befand, vermochte sie die Wirkung der Hitze unschaedlich zu machen. Es ist das derselbe Vorgang, als wenn ein Giesser nach Anfeuchtung seiner Hand mit Wasser diese ungestraft durch einen Strahl fluessigen Eisens fuehrt. Michael Strogoff hatte die Gefahr schnell erkannt, welche ihm daraus erwachsen koenne, wenn er sein Geheimniss gegen irgend Jemand offenbarte. Ebenso durchschaute er auch den Nutzen, den er aus diesem Umstande bezueglich der Durchfuehrung seiner Aufgabe ziehen koenne. Nur dass er fuer blind galt, schien seine persoenliche Freiheit einigermassen sicher zu stellen. Er musste also blind scheinen, er musste es fuer Alle sein, selbst fuer Nadia, und niemals durfte eine unbewachte Bewegung seinerseits an der Wahrheit seiner Rolle einen Zweifel erregen. Sein Entschluss stand fest. Er musste selbst sein Leben wagen, um einen Beweis von seiner Erblindung zu geben, und wir wissen, wie unbedenklich er es auf's Spiel setzte. Nur seine Mutter allein kannte den wahren Sachverhalt, ihr hatte er es damals auf dem Platze vor Tomsk in's Ohr gefluestert, als er in der Dunkelheit ueber jene gebeugt sie mit seinen heissen Kuessen bedeckte. Man entsinnt sich auch, dass, als Iwan Ogareff in herzlosem Spotte das kaiserliche Schreiben vor Michael Strogoff's geblendete Augen hielt, dieser dasselbe lesen konnte, und natuerlich Alles gelesen hatte, was die verruchten Plaene des Verraethers enthuellte. Hieraus erklaert sich auch sein verdoppeltes Draengen, in Irkutsk anzukommen und sich daselbst seiner Mission wenigstens muendlich zu entledigen. Er wusste, dass die Stadt verrathen werden solle, dass des Grossfuersten Leben in der ernstesten Gefahr schwebe. Die Rettung des Bruders seines Czaar, ja das Heil ganz Sibiriens ruhte also in seiner Hand. Mit wenigen Worten wurden dem Grossfuersten alle die frueheren Vorkommnisse mitgetheilt, wobei Michael Strogoff mit Waerme den Antheil hervorhob, der Nadia bei der Ueberwindung der zahlreichen Hindernisse gebuehrte. "Wer ist das junge Maedchen? fragte der Grossfuerst. -- Die Tochter Wassili Fedor's, eines Verbannten. -- Die Tochter des Commandanten Fedor, fuhr aber der Grossfuerst fort, ist nicht mehr die Tochter eines Verbannten. In Irkutsk giebt es jetzt keine Verbannten mehr!" Nadia fiel, ueberwaeltigt von der Freude, der sie leichter erlag als den harten Schlaegen des Schicksals, dem Grossfuersten zu Fuessen, der sie jedoch mit der einen Hand wieder aufzog und die andere Michael Strogoff darbot. Eine Stunde spaeter lag Nadia in den Armen ihres Vaters. Michael Strogoff, Nadia und Wassili Fedor waren vereinigt und hoch schlugen ihre Herzen im Uebermass des Glueckes. Der Angriff der Tartaren auf die Stadt schlug gaenzlich fehl. Wassili Fedor hatte mit seiner kleinen Truppe die ersten Anstuermenden niedergemacht, die vor dem Thore von Bolchaia in der Meinung, dasselbe schon offen zu finden, erschienen, waehrend Jener mit instinctivem Vorgefuehl darauf drang, hier zur Vertheidigung zurueck zu bleiben. Gleichzeitig mit der Zurueckweisung der Tartaren gelang es den Belagerten auch, die Feuersbrunst zu bewaeltigen. Die Naphtha auf der Oberflaeche der Angara war bald verbrannt, und die auf die Haeuser laengs des Flusses concentrirten Flammen verschonten die uebrigen Theile der Stadt. Noch vor Tagesanbruch zogen sich die Truppen Feofar-Khan's, unter Zuruecklassung einer grossen Anzahl auf den Waellen umherliegender Todter, in ihr Lager zurueck. Zu den Gefallenen gehoerte auch die Zigeunerin Sangarre, welche sich vergeblich mit Iwan Ogareff in Verbindung zu setzen versucht hatte. Die beiden folgenden Tage wagten die Belagerer keinen erneuten Angriff. Iwan Ogareff's Tod hatte sie entmuthigt. Dieser Mann war die Seele des ganzen Kriegszuges, und er allein besass durch seine unausgesetzten Agitationen Einfluss genug auf die Khans und deren Heerhaufen, um sie zu dem Versuch einer Eroberung des asiatischen Russlands zu verleiten. Inzwischen blieben die Einwohner und die Besatzung von Irkutsk, angesichts der noch andauernden Einschliessung, stets gleichmaessig wachsam und kampfbereit. Am 7. October aber donnerte beim ersten Tagesgrauen der eherne Mund von Geschuetzen auf den umgebenden Hoehen der Stadt. Es war der Gruss der Hilfsarmee, die unter der Fuehrung des Generals Kisselef heranrueckte und dem Grossfuersten ihr Eintreffen anmeldete. Die Tartaren bedachten sich nicht lange. Sie wollten nicht Gefahr laufen, unter den Mauern von Irkutsk eine Schlacht annehmen zu muessen, und hoben daher das Lager im Thale der Angara eiligst auf. Endlich konnte Irkutsk befreit wieder aufathmen. Mit den ersten russischen Truppen waren aber auch zwei Freunde Michael Strogoff's in die Stadt eingezogen, - die unzertrennlichen Collegen Harry Blount und Alcide Jolivet. Es war ihnen gelungen, ueber den Eisschutz das rechte Ufer der Angara zu erreichen und mit den uebrigen Fluechtlingen zu entkommen, bevor die brennende Angara das Floss ergriffen hatte. In Alcide Jolivet's Notizbuch fand sich hierueber die lakonische Bemerkung: "Beinahe umgekommen wie eine Citrone in der Punschbowle!" Sie freuten sich herzlich, Nadia und Michael Strogoff heil und gesund wieder zu treffen, vorzueglich als sie erfuhren, dass ihr muthiger Gefaehrte nicht blind sei. Harry Blount fuehlte sich veranlasst, als eigene Beobachtung zu notiren: "Rothgluehendes Eisen scheint unzureichend zu sein, die Sensibilitaet des Sehnerven zu zerstoeren. Das Verfahren bedarf der Modification." Nachdem sie in Irkutsk ein behagliches Unterkommen gefunden, gingen sie an's Werk, ihre Reiseerlebnisse in Ordnung nieder zu schreiben. Nach London und nach Paris flogen dann zwei hochinteressante Berichte ueber den Einfall der Tartaren, welche sich wunderbarer Weise kaum in den untergeordnetsten Punkten widersprachen. Der ganze Feldzug verlief uebrigens hoechst ungluecklich fuer den Emir und seine Verbuendeten. Dieser ebenso nutzlose Einfall, wie alle anderen gegen den russischen Koloss gerichteten Angriffe, sollte ihnen sehr verderblich werden. Bald sahen sie sich von den kaiserlichen Truppen abgeschnitten, welche in rascher Folge alle eroberten Staedte wieder in ihre Gewalt brachten. Dazu trat der Winter mit ungewoehnlicher Strenge auf, so dass von den durch die Kaelte decimirten Horden nur ein schwacher Bruchtheil die Steppen der Tartarei wieder erreichte. Die Strasse von Irkutsk nach dem Uralgebirge war wieder frei. Den Grossfuersten draengte es, nach Moskau zurueckzukehren, doch er verschob seine Abreise, um einer ruehrenden Ceremonie beizuwohnen, die sich wenige Tage nach dem Einzuge der russischen Truppen vollzog. Michael Strogoff befand sich an Nadia's Seite und sagte zu ihr in Gegenwart ihres Vaters: "Nadia, noch immer meine Schwester, hast Du bei Deiner Abreise von Riga nach Irkutsk einen andern Kummer zurueckgelassen, als die Trauer um Deine Mutter? -- Nein, antwortete Nadia, gar keinen andern. -- Kein Stueckchen Deines Herzens ist dort zurueck geblieben? -- Keines, Bruder. -- Dann, Nadia, glaube ich nicht anders, als dass es Gottes Absicht war, uns nicht nur zur vereinten Ueberwindung so schwerer Pruefungen, sondern wohl fuer immer zusammen zu fuehren." Mit beseligter Freude sank Nadia in Michael Strogoff's Arme. Dann wendete sich dieser zu Wassili Fedor. "Mein Vater! sagte er leicht erroethend. -- Nadia, antwortete Wassili Fedor, mir wird es alle Zeit nur eine Freude sein, Euch Beide meine Kinder zu nennen!" Die Vermaehlungsfeier ging in der Kathedrale von Irkutsk vor sich. Sie war nur einfach hinsichtlich des aeusseren Pompes, aber erhebend durch die ungeheure Theilnahme der ganzen Bevoelkerung, welche ihrer tiefen Dankbarkeit gegen die beiden jungen Leute Ausdruck verleihen wollte, deren Irrfahrten schon in Aller Munde lebten. Selbstverstaendlich fehlten auch Alcide Jolivet und Harry Blount nicht bei dieser Hochzeit, ueber die sie ihren Lesern doch Bericht erstatten wollten. "Nun, und das macht Ihnen noch keine Lust, das Gleiche zu thun? fragte Alcide Jolivet seinen Collegen. -- Pah, erwiderte Harry Blount, haette ich freilich eine Cousine so wie Sie ... -- Meine Cousine ist nicht mehr zu haben! unterbrach ihn lachend Alcide Jolivet. -- Desto besser, meinte Harry Blount, denn man spricht unter der Hand von Schwierigkeiten zwischen London und Peking. - Haetten Sie keine Lust zuzusehen, was dort vorgeht? -- Alle Wetter, liebster Blount, rief Alcide Jolivet, eben wollte ich Ihnen diesen Vorschlag machen!" Stehenden Fusses brachen die beiden Unzertrennlichen auf nach dem Himmlischen Reiche. Einige Tage nach der Hochzeit begaben sich auch Michael Strogoff und Nadia, natuerlich begleitet von Wassili Fedor, auf die Rueckreise nach Europa. Diese Schmerzensstrasse auf dem Herweg wurde zum Glueckspfade fuer den Rueckweg. Sie eilten in groesster Schnelligkeit dahin auf einem jener praechtigen Schlitten, welche wie ein Eilzug ueber Sibiriens eisbedeckte Steppen fliegen. Nur am Ufer der Dinka goennten sie sich einen einzigen Rasttag. Michael Strogoff fand die Stelle wieder auf, an der er den armen Nicolaus begraben hatte. Dort ward ein Kreuz aufgestellt, und Nadia verrichtete ein letztes Gebet an der Ruhestaette des ergebenen, heldenmuethigen Freundes, den Beide niemals vergessen konnten. In Omsk empfing sie die alte Marfa in dem kleinen Haeuschen der Strogoff's. Mit inniger Liebe umarmte sie Die, welche sie im Herzen schon tausend Mal ihre Tochter genannt hatte. Heute durfte die alte Sibirerin ihren Sohn erkennen und ihrem muetterlichen Stolze genug thun. Nach einigen Tagen Aufenthalt in Omsk reisten Michael und Nadia Strogoff nach Europa weiter. Wassili Fedor liess sich in Petersburg nieder, und weder sein Sohn noch seine Tochter verliessen ihn jemals, ausser wenn sie der bejahrten Mutter in der Ferne einen Besuch abstatteten. Der junge Courier wurde vom Czaar empfangen, der ihm eine Stellung in seiner unmittelbaren Umgebung anwies und ihm das Ritterkreuz des heiligen Georg aushaendigte. Michael Strogoff gelangte spaeter zu hohen Ehren im Reiche. Aber nicht die Geschichte seiner Erfolge wollten wir hier berichten, sondern nur die seiner maennlich ueberwundenen Pruefungen und Leiden. Ende des Courier des Czaar. FUSSNOTEN 1 Eine Art Blaettergebackenes. 2 Dieses Kleidungsstueck heisst "_dakha_"; es ist sehr leicht und doch fuer Kaelte fast undurchdringlich. 3 Eine russische Geldmuenze im Werthe von 5 Rubeln. 4 Dieses Wort entspricht vollkommen dem in Europa gebraeuchlichen "Sir" und wird gegenueber dem Sultan von Bukhara gewoehnlich angewendet. BEMERKUNGEN ZUR TEXTGESTALT Die Originalausgabe erschien in zwei Baenden, die in der elektronischen Fassung vereinigt sind. Die Inhaltsverzeichnisse am Schluss der beiden Baende wurden an den Beginn des Textes gesetzt. Die Fussnoten wurden an das Ende des Textes gesetzt. Folgende offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert: Seite 1-6: "Keliwan" geaendert in "Kolywan" ("Nishny-Nowgorod, Perm, Jekaterinburg, Kassimow, Tiumen, Ichim, Omsk, Elamsk, Kolywan, Tomsk") Seite 1-12: "Krasnojask" geaendert in "Krasnojarsk" ("Und die meinigen nur bis Krasnojarsk, erwiderte") Seite 1-15: "Okfotsk" geaendert in "Ochotsk" ("es zwei Districte, die von Ochotsk") Seite 1-16: "Elamks" geaendert in "Elamsk", "Nishny, Udinsk" in "Nishny-Udinsk", "Blagowestenks" in "Blagoweshensk", "Orloneskaga" in "Orlomskaya" ("Jekaterinburg, Kassimow, Tiumen, Ichim, Omsk, Elamsk, Kolyvan, Tomsk, Krasnojarsk, Nishny-Udinsk, Irkutsk, Verkne-Nertschinsk, Strelink, Albazine, Blagoweshensk, Radde, Orlomskaya, Alexandrowskoe, Nicolajewsk") Seite 1-26: "Ovirenna" geaendert in "Ovicenna" ("deren schon die Ovicenna's und andere Gelehrte") Seite 1-49: "Tschermissen" geaendert in "Tscheremissen" ("Finnen, Esthen, Lappen, die Tscheremissen, Tschuwaken") Seite 1-87: "spezielle" geaendert in "specielle" ("dass ihn eine specielle Mission berechtigte") Seite 1-101: "Ordnnng" geaendert in "Ordnung" ("Nun, er ist bis Kolyvan noch in Ordnung?") Seite 1-111: "Zaun" geaendert in "Zaum" ("Von Zaum und Gebiss keine weitere Spur") Seite 1-137: "Nikolaus" geaendert in "Nicolaus" ("Nicolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk, antwortete Michael Strogoff") Seite 1-189: "bivuakirten" geaendert in "bivouakirten" ("mit Wachposten besetzten Platze bivouakirten gegen 2000 Tartaren") Seite 1-216: "Omsk" geaendert in "Tomsk" ("nach gluecklicher Umgehung von Tomsk") Seite 1-218: "begehende" geaendert in "bestehende" ("und Haidekraut bestehende Gruppen von Zwergbaeumen") Seite 1-233: Anfuehrungszeichen entfernt hinter "Gewehrfeuer!" ("Das ist Kanonendonner! Das ist Gewehrfeuer!") Seite 1-234: "Diahinsk" geaendert in "Diachinsk" ("vielleicht nach Diachinsk oder einem andern, durchzuschlagen") Seite 2-19: "Instinkt" geaendert in "Instinct" ("ein wahrhaft aussergewoehnlicher Instinct, noch maechtiger entwickelt") Seite 2-25: "Stellvertreters des" hinzugefuegt vor "Emirs" ("des Stellvertreters des Emirs ihren Widerstand gewiss bald mit") Seite 2-38: Anfuehrungszeichen ergaenzt hinter "nicht!" ("gilt meinem Sohne noch nicht!") Seite 2-43: "bivouaquirte" geaendert in "bivouakirte" ("waehrend das Gros der Armee vor den Mauern bivouakirte") Seite 2-76: "Daily Telegraph" geaendert in "Daily-Telegraph" ("Ihre Leser des Daily-Telegraph werden") Seite 2-77: "Ein" geaendert in "Eine" ("Eine Stunde spaeter trabten sie schon auf der") Seite 2-99: "Hoffnnng" geaendert in "Hoffnung" ("glaubte. Jetzt fuerchtete er, seine Hoffnung werde") Seite 2-112: "slawischen" geaendert in "slavischen" ("die zum groessten Theil einen slavischen Typus zeigen") Seite 2-113: "20 deg." geaendert in "-20 deg." ("-20 deg. fuer eine ganz ertraegliche haelt") Seite 2-143: Punkt hinzugefuegt hinter "Meere" ("Der Baikalsee liegt 1700 Fuss ueber dem Meere.") Seite 2-206: "vorher gehenden" geaendert in "vorhergehenden" ("Fast in keiner der vorhergehenden Naechte") Nicht vereinheitlicht wurden mehr als einmal vorkommende Schreibweisenvarianten: "Baikal" und "Baikal"; "Flosse" und "Flosse"; "Ischim" und "Ichim"; "Jenisei", "Jenisei" und "Yenisei" bzw. "Jeniseisk", "Jeniseisk" und "Yeniseisk"; "Kamtschatka" und "Kamschatka"; "Kolywan" und "Kolyvan"; "Madeleine" und "Madelaine"; "Nischny-Nowgorod", "Nishny-Nowgorod", "Nischnij-Nowgorod" und "Nishnij-Nowgorod"; "Officier" und "Offizier"; "Sibirier(in)" und "Sibirer(in)"; "Sylbe" und "Silbe". ***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER COURIER DES CZAAR (MICHAEL STROGOFF)*** CREDITS October 12, 2010 Project Gutenberg TEI edition 1 Produced by K.-F. Greiner, Markus Brenner, Ralf Stephan, Stefan Cramme, and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. A WORD FROM PROJECT GUTENBERG This file should be named 34064.txt or 34064.zip. This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/dirs/3/4/0/6/34064/ Updated editions will replace the previous one -- the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works to protect the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away -- you may do practically _anything_ with public domain eBooks. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE _Please read this before you distribute or use this work._ To protect the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} License (available with this file or online at http://www.gutenberg.org/license). Section 1. General Terms of Use & Redistributing Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. 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There are a lot of things you can do with Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works. See paragraph 1.E below. 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. If an individual work is in the public domain in the United States and you are located in the United States, we do not claim a right to prevent you from copying, distributing, performing, displaying or creating derivative works based on the work as long as all references to Project Gutenberg are removed. 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If an individual Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic work is derived from the public domain (does not contain a notice indicating that it is posted with permission of the copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in the United States without paying any fees or charges. If you are redistributing or providing access to a work with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9. 1.E.3. If an individual Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic work is posted with the permission of the copyright holder, your use and distribution must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked to the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} License for all works posted with the permission of the copyright holder found at the beginning of this work. 1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} License terms from this work, or any files containing a part of this work or any other work associated with Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~}. 1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this electronic work, or any part of this electronic work, without prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with active links or immediate access to the full terms of the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} License. 1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any word processing or hypertext form. 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To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://www.pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit http://www.gutenberg.org/fundraising/donate While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: http://www.gutenberg.org/fundraising/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works. Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Each eBook is in a subdirectory of the same number as the eBook's eBook number, often in several formats including plain vanilla ASCII, compressed (zipped), HTML and others. Corrected _editions_ of our eBooks replace the old file and take over the old filename and etext number. The replaced older file is renamed. _Versions_ based on separate sources are treated as new eBooks receiving new filenames and etext numbers. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~}, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. ***FINIS***